Christine Feichtinger

Vergängliche Licht und Schatten in den Uhudler Bergen


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des Gemeindeamtes übergeben musste, unterdrückte er die aufsteigenden Tränen. Womit hatte er diese Ungerechtigkeit verdient und seine Abberufung verursacht? Er hatte seine Amtsgeschäfte immer zur Zufriedenheit aller geregelt und immer versucht, eine für alle akzeptable Lösung zu finden, wodurch er allseits beliebt war. Wie oft wurde er mit Naturalien hierfür belohnt. Nach dem Vorschlag des neuen NS-Bürgermeisters wurden die Gemeinderäte bestimmt. Fortan übernahmen die Spitzenfunktionäre der NSDAP, der Ortsparteiobmann, NS-Bürgermeister und der Ortsbauernführer die Macht im Dorf. Zusammen mit dem Ortsgruppenleiter, welcher für mehrere Gemeinden zuständig war, sorgten sie als verlängerter Arm des NS-Regimes fortan für parteifreundliches Verhalten im Dorf.

      Heimlich, im Schutz der Dunkelheit, kamen, trotzdem inzwischen ein neuer, politisch zuverlässiger Bürgermeister bestellt wurde, nach wie vor die Dorfleute vertrauensvoll und gewohnheitsmäßig mit ihren Sorgen und Problemen zu Viktor Ertl.

      Gleich darauf ersetzten die „zuverlässigen“ Nationalsozialisten im Gemeindeamt das Kreuz mit dem Bild von Adolf Hitler und in den nächsten Tagen überwachte die Partei die Telefongespräche.

      Das Amtsschild wurde mit dem Hakenkreuz, welches als Symbol der NS-Herrschaft und Hoheitszeichen des Deutschen Reiches nach 1938 u. a. auf Amtsschildern, Fahnen, Lampions, Schuhanziehern, ja sogar als Glimmer für Weihnachtsbaumspitzen allgegenwärtig war, ausgestattet.

      Als der Dorfschullehrer Lorenz Schmid, ein Gegner des NS-Systems, der vorher nächtelange Diskussionen mit Gleichgesinnten zwecks Errichtung einer Gegenbewegung in seiner Wohnung führte, gegen einen „politisch zuverlässigen“ Lehrer ausgetauscht wurde, schien es ihm, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen werden. Seine Lebensexistenz war dahin, was nützte ihm seine Ausbildung, wenn er seinen geliebten Beruf nicht ausüben konnte, womit sollte er zukünftig Geld verdienen? Vorerst musste er sich bei den Bauern verdingen.

      Karls jüngerer Bruder, Josef, den alle Zwumpl nannten, weil er so klein war, fühlte sich schuldig, den Lehrer vertrieben zu haben. Er war ein aufgeweckter, fröhlicher Junge, dem der Schalk ständig im Nacken saß. Denn Zwumpl hatte den Herrn Lehrer Lorenz Schmid einen Tag vor seinem Austausch dadurch geärgert, dass er mit einem Stecken den Herrgott am Kreuz mit Speck fütterte und daraufhin hatte der Herr Lehrer wütend und händeringend die Klasse verlassen, um sich zu beruhigen.

      Und als der neu eingesetzte, zuverlässige Herr Lehrer in Uniform in die Klasse trat, mit erhobenen rechten Arm „Heil Hitler“ bellte, die Schüler den Gruß erwiderten, glaubte Zwumpl zerknirscht, dass Lorenz Schmid wegen des Ärgernisses mit ihm weggegangen wäre.

      Als dann sogleich der neue Herr Lehrer das Kreuz in der Klasse durch Fahnen, Hakenkreuze und Hitlerbilder ersetzte, dachte Zwumpl, dass er das Kreuz nur deswegen weggäbe, damit er den Herrgott am Kreuz nicht mehr ärgern und füttern könne.

      Karl Ertl dachte lächelnd an jenen darauffolgenden Sonntag nach dem Einmarsch der deutschen Truppen, als er mit seinen Eltern, Toni und seinen Geschwistern und anderen Dorfbewohnern, wie sonst auch jeden Sonntag, zur heiligen Messe in einem Fußmarsch von einer Stunde über den Wald zur Wallfahrtskirche ging.

      Wie meistens während des langen Fußmarsches hatten sein Vater und seine Mutter infolge des schönen Wetters und aus Sparsamkeit ihre Schuhe auf dem Weg in der Hand getragen und waren bloßfüßig (barfuß) gegangen. Unterwegs sagten sie etwaigen Personen, denen sie begegneten entschuldigend, dass sie die Schuhe drücken würden. Kurz vor der Wallfahrtskirche vor dem Dritteläuten (Zusammenläuten) wischten sie ihre Füße mit einem mitgebrachten Fetzerl ab und zogen die Schuhe an.

      Karl hatte seine Haare mit Brillantine eingeschmiert, um Martha zu gefallen. Karl und Zwumpl und die Buben hatten ihre neuen Anzüge und Schuhe an. Sie gingen hinter ihren Eltern, sodass diese nicht sehen konnten, dass sie bald mit den heruntergefallenen Eicheln gazten (schossen). Bald fingen Karl und Zwumpl mit den anderen zu streiten und zu raufen an. In ihren Taschen hatten sie von zuhause Eier, manchmal auch Plutscheier (faule Eier) eingesteckt, damit sie sich nach der heiligen Messe für den Heimweg am Zuckerlstand Süßigkeiten kaufen konnten. Einige Buben hatten noch das Schwerferlgeld (Trinkgeld) vom Viehhändler eingesteckt, welches die Kinder beim Viehverkauf bekamen, sodass sie sich damit etwas kaufen konnten. Die Buben freuten sich jedes Mal auf die Süßigkeiten.

      Aber durch die Rauferei gingen die Eier von Karl und Zwumpl kaputt und das Gewand wurde durchnässt und schmutzig, sodass sie nicht nur wegen der sinnlosen Abnützung ihrer neuen Schuhe, sondern auch wegen der Verschwendung der Eier und wegen ihres schmutzigen Gewandes Schimpfer bekamen.

      Nicht alle im Dorf wussten, dass Hitlers Truppen schon in ihrer Gegend waren.

      Als die Familie Ertl vor der Wallfahrtskirche angekommen war, waren schon viele Leute, auch Martha mit ihren Eltern, dort versammelt. Und als Martha und ihre Eltern von Stefan Resner, dem Schwager von Viktor Ertl, welcher ein glühender Verehrer Hitlers war, und anderen Messebesuchern mit „Heil Hitler“ begrüßt wurden, glaubten sie, es wäre ein Scherz. Bisher grüßten die Katholiken sich untereinander immer mit „Grüß Gott“.

      Erst als Stefan Resner ihnen glaubhaft versicherte, dass Hitlers Truppen hier in der Gegend waren, glaubten sie es.

      Der Geid, Marthas Vater, war rot geworden vor Scham über seine Unkenntnis. Um seine Verlegenheit und Wut, vor allen blamiert worden zu sein, zu überspielen, räusperte er, sich spuckte seinen Motschka (Kautabak) aus und machte im nächsten Moment einen Bauernschnäuz. Dann spiazelte (spuckte) er nieder.

      Plötzlich hatte Karl einen Stich im Herzen verspürt und kam in die Gegenwart zurück. Ihm wurde bewusst, dass er nun jederzeit Martha begegnen konnte. Mit einem Schlag wusste er, dass er der Realität mit Martha nicht mehr ausweichen konnte. Wie sollte er ihr entgegentreten?

      Würde er hier in der Heimat rückfällig und schwach werden und so wie seine Vorfahren seit Generationen sich den Sitten und Gebräuchen unterwerfen, seinem Eheversprechen um des Friedens willen zustimmen. Warum war Irene immer präsent an allen Orten, wo er sich befand? Warum gelang es ihm nicht, sie zu vergessen? Würde er in Gedanken immer nur Irene lieben und stellvertretend Marthas Körper als seine Ehefrau verwenden?

      Im gleichen Moment wurde er wehmütig. Er schaute aus dem Fenster des Weinkellers und betrachtete die hügeligen Weingärten, die Wiesen, Felder und Wälder, welche seit Generationen von denselben Familien nachhaltig, unter äußerster Schonung des Bodens, biologisch gedüngt mit dem Stallmist der Hühner, Kühe und Schweine, bearbeitet wurden.

      In Gedanken versunken kroch in Karl plötzlich die Angst wie eine Schreckgespenst hoch, wenn er sich vorstellte, die Rote Armee würde hier bald in diesen idyllischen Ort gewaltsam eindringen, sich für den erlittenen Horror in ihrer Heimat entschädigen und rächen, in den fruchtbaren Boden mit den feindlichen Geschoßen tiefe Krater schießen oder durch Bombenkrater die Bewirtschaftung der Felder erschweren und den Ertrag ihrer Felder schmälern. Ein kalter Schauer lief über seinen Rücken, wenn er daran dachte, der Feind könnte, bestärkt durch seine Macht und Siegessicherheit, nach altem überlieferten Kriegsrecht überzeugt, der besiegte Feind sei sowohl mit seiner Person, seiner Familie und seinem Besitz seine hart erkämpfte und verdiente Kriegsbeute, hier alles seit Generationen hart aufgebaute Vermögen, welches wie ein Wunder bisher von Bomben verschont geblieben war, plündern und brandschatzen, morden, Frauen und Mädchen vergewaltigen, die Bewohner unterdrücken, drangsalieren, entrechten und alles Vermögen in Rauch aufgehen lassen und in Schutt und Asche versenken.

      Karls Gedanken schweiften zurück zu Toni. Wo bekämpfte er gerade den Feind? Sehnte er sich nach zuhause und nach ihm?

      Jenes tragische Ereignis im Dorf, wo Toni als Sargträger fungierte und ihm die Armut der Menschen und das traurige Schicksal der arbeitslosen Walzler in aller Härte aufzeigte, hatte ihn zusätzlich davon überzeugt, der Not und Armut in seiner Heimat zu entkommen und nach Deutschland arbeiten zu gehen, um eigenes Geld zu verdienen und auf eigenen Beinen zu stehen, um ein besseres Leben führen zu können.

      Er wollte in Deutschland beim Autobahnbau arbeiten. Das NS-Regime förderte in Deutschland öffentliche Arbeiten wie Straßen-, Autobahnbau, Kasernenbau, Flugplatzanlagen,