Christine Feichtinger

Vergängliche Licht und Schatten in den Uhudler Bergen


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würde sie ob dieser für sie schweren, schmutzigen Arbeit heimisch werden, sich wohlfühlen, ohne Heimweh? Konnte er ihr dies alles zumuten und aufzwingen, unerfahren wie sie war. Würde ihre Liebe dies aushalten und würde Irene diese ihm zuliebe aufgezwungenen Opfer aus Liebe zu ihm lebenslänglich geduldig und stillschweigend auf sich nehmen und konnte er das von ihr verlangen?

      Welche Folgen würde es für sie und ihre Ehe haben? Wenn sich Karl vorstellte, wie er womöglich zusehen müsste, wie Irene still vor sich hin litt und ihm jede Hilfe verwehrte, ihn als ihren Feind und Urheber ansah, der sie in dieses Dilemma hineingeritten hatte, sich woanders Hilfe und Trost suchte, er ihre Niedergeschlagenheit und Trostlosigkeit mitverfolgen musste, ohne helfen zu können, ihre stummen anklagenden Augen wie Waffen auf ihn gerichtet ertragen müsste, verfiel er in Unentschlossenheit.

      Würde er sich bald schuldig fühlen, wenn er ihren zunehmenden Kummer und ihr Heimweh beobachten müsste? Würde er dann seinen Entschluss, Irene geheiratet zu haben und nicht Martha, einmal bereuen?

      Sollte er trotz dieses Wissens Irene in seine Heimat locken und würde es eine gemeinsame Basis geben? Oder würde ihre Liebe wie Eisblumen am Fenster am harten Alltag seiner Heimat zerrinnen und ihr Glück zerschellen?

      Und plötzlich sah er eine tiefe Kluft, die sich zwischen Irene und ihm auftat. In diesem Moment kam ihm sein Ansinnen aussichtslos vor. Und trotzdem überkamen ihn gleichzeitig Schuldgefühle, als wäre er ein Verbrecher, dass er ihr eine gemeinsame Zukunft versprochen hatte, sie allein und schutzlos zurückgelassen hatte und nicht wusste, ob er sein Versprechen würde einhalten können. Im selben Moment kam ihm sein Vorhaben unsinnig und aussichtslos vor.

      Als Karl weiterging und kurz darauf auf der Anhöhe des Dorfes mitten in den Uhudler-Weingärten und Weinkellern der Bauern stand, sah er, dass die Weinreben im Begriff waren ihr Winterkleid abzustreifen und aus den uralten Reben wie schon seit ewigen Zeiten bald Augen (Knospen) für die jungen Reben hervortreten würden.

      Als wäre er in einem anderen Zeitalter heimgekommen, lag seine Heimat wie seit Generationen unverändert und unbeschadet vor ihm. Als gäbe es keinen Krieg auf der Welt.

      Wie jung und unerfahren er war, als er seine Heimat verlassen hatte und nun kam es ihm vor, als wäre er als ein alter, erfahrener Mann, der durch die schrecklichen Kriegserlebnisse dem Tod oft näher als dem Leben gewesen war, heimgekehrt.

      Er sah eine Reihe nebeneinander liegender Weinkeller, welche alle im gleichen Stil erbaut waren. Die Weinkeller waren aus Holz gezimmert, mit Lehm verschmiert und geweißt. Die meisten waren mit Schab (Stroh) eingedeckt, ohne Strom oder Fließwasser, bestehend aus zwei Räumen und zwei winzigen Fenstern, kleine Häuschen, die an die Häuser der Ureinwohner aus vergangener, längst entrückter Zeit erinnerten.

      Gleich hinter den Weinkellern befanden sich die dazugehörigen Weingärten.

      Hier auf diesen sonnigen Hügeln gediehen im Sommer die unveredelten Uhudler-Edelrebsorten wie Noah Grün, Othello Blau, Isabella, Ripotella. Dass der Uhudler-Wein blind machen würde, ignorierten die Weinbauern. Zum Schutz vor den Staren klingelten in allen Weingärten die an den Krahschreckern (Vogelscheuchen) befestigten Gegenstände im Wind. Schon als Kind musste Karl mitgehen und den Wand (Weingarten) mit der Haue mindestens viermal im Jahr hauen. Ebenso mussten die Weinreben mit Stroh gebunden und ausgebrockt werden. Wurden neue Setzlinge gesetzt, musste regalt (händisch tief umgestochen) werden.

      Diese Weinkeller dienten auch als Ausflugsziel sowohl für die Dorfbewohner als auch für Fremde und waren als eine Art von Zweitwohnsitz auch für das Auskurieren von Familienproblemen beim Uhudler-Wein beliebt und so mancher Jungbauer wünschte sich, seine verhassten Schwiegereltern für immer dorthin verbannen zu können. Die Weinbauern trafen sich mit ihren Spezln und anderen Weinbauern (Freunden) zum Dischpatieren (Diskutieren) über alltägliche Arbeiten, über die Saaten, Ernten usw. Dann verglichen sie ihre mitgebrachten Weine und erklärten, von welchen Trauben der Wein war, ohne das Geheimnis der eigenen Weinherstellung zu verraten.

      Mitgebracht wurden nur die besten Weine, während die Männer zuhause nur den minderwertigen Stinglwein (Heckenklescher) tranken, wofür die Trebern ein zweites Mal gepresst wurden.

      Wie oft durfte Karl von Kindesbeinen an nachmittags mit seinem Vater Viktor in den Weinkeller mitgehen und Most trinken.

      Vor dem Einmarsch Hitlers war Karls Vater Bürgermeister gewesen. Wie oft hatte sein Vater als Bürgermeister den Nachtwächter, den Schinder (Wasenmeister des Aasplatzes), die Gemeinderäte, den Waldhüter und den Herrn Lehrer und Kantor Lorenz Schmid in seinen Weinkeller eingeladen.

      Lorenz Schmid, welcher ihm als guter Freund stets behilflich war, ihn bei all seinen politischen Entscheidungen und schriftlichen Anträgen half, ihm nach seinem Ersuchen jedes amtliche Schreiben vorlas und erklärte, Ansuchen für die Gemeinde schrieb und ihn bei allen Amtswegen beriet, zu Ämtern und Behörden begleitete, war er deshalb zu besonderem Dank verpflichtet. Jedes Mal beim Sautanz gab er ihm ein Stück gebratenes Fleisch, Blutwürste und Sauerkraut mit frischen Grammeln und frisch gebackenem Brot.

      Denn Viktor Ertl konnte nicht gut deutsch, zumal er nur sporadisch in die ungarische Schule gegangen war. Zwei Monate lang war er in die Bürgerschule gegangen, aber dann hatte ihn sein Vater zu

      seinem Missfallen herausgenommen. Nachdem bis zum Anschluss des Burgenlandes an Österreich in allen Schulen ungarisch unterrichtet worden war, waren Viktor Ertl und die anderen deutschsprachigen Kinder sechs Jahre lang in die ungarische Schule gegangen, wenn sie nicht im Dienst bei größeren Bauern waren oder zuhause in der Landwirtschaft arbeiten mussten. Deshalb verstanden und lernten sie nicht viel. Im Winter hatte er sowieso nicht die Schule besucht, da er keine winterfesten Schuhe und Bekleidung hatte. Insgeheim lächelte Karl, wenn er daran dachte, wie sein Vater das Belegen einer Kuh in seinem Kalender eintrug: „Munzi beleckt.“

      Alle Gäste im Weinkeller schätzten die Gastfreundschaft von Viktor Ertl, tranken den Wein und schauten zu, wenn er ein saftiges Uhudler-Weinbratl mit knusprigen, im Rohr gegarten Ofenkartoffel briet. Wie schon so oft vorher wurde über das Dorfvorhaben politisiert. Es hätte so manches politische Vorhaben im Dorf unter den kontrahierenden Gemeindevätern ohne die endlos durchzechten, diskussionsreiche Nächten unter der Patronanz der Promille in weinseliger Stimmung stattgefundenen Verhandlungen nicht durchgeführt werden können, wenn nicht der Wein ihre Sinne vernebelt hätte. Spätestens beim letzten Fluchtachterl hatte der Gevatter Wein spöttisch lachend sein Werk oft friedlich vollbracht. Gar mancher Bauer freute sich schadenfroh und verspürte manches Mal Genugtuung, wenn er dem studierten Herrn Lehrer einen Rausch annähen (anhängen) konnte, wo er sich sonst ihm gegenüber minderwertig vorkam, aber beim Weintrinken ihm haushoch überlegen war.

      Durch den übermäßigen Alkoholkonsum blühte der Tratsch anschließend im Dorf auf, denn nachdem der Wein sie betäubt hatte, verwechselten die Männer oft zuhause Wahrheit und Unwahrheit.

      Wie oft kamen, durch den Wein enthemmt, die negativen Charaktereigenschaften mancher Männer ungehemmt zum Vorschein.

      Von den durch ihre manchmal rauschigen (betrunkenen) Männer verärgerten Frauen des Dorfes wurde dieser Ortsteil verächtlich „Sündenpfuhl“ oder „Lasterberg“ genannt. Jedes Mal, wenn die Männer ins Dorf vom Weinkeller betrunken nach Hause kamen, schimpften die Ehefrauen, sie (die Männer) würden schauen „wie ein Uhu“, woher wahrscheinlich der Name „Uhudler“ kommt.

      Manches Mal, wenn Karls Vater von seiner Frau Anna Schimpfer bekam, wenn er zu viel trank, die Zeit vergaß und nicht zum Füttern der Haustiere heimkam und seine Mutter die Arbeit seines Vaters auch machen musste, rechtfertigte er sich lachend, dass er trachten müsse, die Fässer zu leeren, damit der neue Wein im nächsten Jahr wieder Platz in den Fässern hätte.

      Als Karl Ertl nun an jenem Märztag des Jahres 1945 vor ihrem Weinkeller stand, erinnerte er sich, wie er sich immer fürchtete, wenn er als Kind vom Weinkeller den Uhudler-Wein holen musste, denn wenn er die schwere, quietschende Eingangstür aufsperrte, kreuchten und fleuchten allerhand Fledermäuse, Ungeziefer, Mäuse geräuschvoll aus der Dunkelheit hervor und an ihm vorbei. Schon von seiner frühesten