Christine Feichtinger

Vergängliche Licht und Schatten in den Uhudler Bergen


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sie schon länger der Gedanke gequält, ob seine Zurückhaltung darin begründet war, dass er etwa verheiratet wäre, und so nahm sie ihren Mut zusammen und fragte ihn: „Sind sie verheiratet?“ Er verneinte schnell, als wäre dieses Thema unangenehm für ihn und begann, bemüht um Gleichgültigkeit, vom kalten Wetter zu sprechen.

      Vor ihrem Haustor waren sie stehen geblieben. Er hatte sie fragend angeschaut und gewartet, ob sie ihn hereinbitten würde. Verlegen hatte er sie berührt und sie umarmt. Diese Liebkosung ließ sein Blut in Wallung geraten. Seine Umarmung erwärmte sie wie ein warmer Frühlingsstrahl.

      Diese erste warme, liebevolle Umarmung nach so langen Entbehrungen, Schrecken und Kämpfen an der Front tat Karl unsagbar gut. Es war wie Balsam auf seiner Seele. Die bösen Geister und das Grauen des Krieges verschwanden in diesem Glücksmoment wie von selbst. Er bekam weiche Knie und war unendlich glücklich. Alles hätte er dafür getan, um diesen wohltuenden Zustand ewig andauern zu lassen.

      Verlegen fragte er sie, ob er sich kurz in ihrer Wohnung ausruhen dürfe, seine Schmerzen im Bein hätten sich zurückgemeldet.

      In seinen Augen spürte sie seine Unsicherheit und Befangenheit. Sie nahm ihn an der Hand und zog ihn stumm mit sich. Ihre Eltern waren nicht zuhause. In der Wohnung angekommen, bat sie ihn sich zu setzen.

      Irene und ihre Eltern waren noch nicht lange in dieser Wohnung. Nachdem der Vorbesitzer der Wohnung, ein Jude, den zunehmenden wirtschaftlichen Boykott, Entrechtung und Repressalien wie Dienstenthebung aller jüdischen Beamten, Schächtverbot, Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden über 5000 RM, Nichtariern der Besuch von Behörden untersagt wurde, Praxisverbot für jüdische Ärzte und Rechtsanwälte, die Reichskristallnacht, wo die Schaufensterscheiben von jüdischen Geschäften von SA-Trupps eingeschlagen, die Geschäfte geplündert, Juden geschlagen und verhaftet, die Aktionen von Hetzreden im Radio begleitet wurden, Juden weder Waffen besitzen noch führen durften, das Schulverbot für jüdische Kinder, Auflösung aller jüdischen Betriebe hinnehmen musste, verstärkte sich bei ihm und allen Juden die Angst, als ihnen am 6. 9. 1941 befohlen wurde, in der Öffentlichkeit einen gelben Stern zu tragen, welcher groß und deutlich auf den Mänteln und Jacken angebracht und ersichtlich gemacht werden musste, und bei Nichtbefolgung die sofortige Verhaftung zur Folge hatte. Wie oft hatte er sich überlegt unterzutauchen, aber wovon sollte er leben? Nachdem es ihn offiziell nicht gab, hätte er keine Lebensmittelkarten bekommen. Oder sollte er sich für Geld einen falschen Pass und Fluchthelfer besorgen und flüchten?

      Er wurde wie viele andere Juden, Roma und Sinti, Zeugen Jehovas, Körperbehinderte, Priester, Bibelforscher, Asoziale, Homosexuelle, mehrfach Vorbestrafte, Regimegegner, Kommunisten, Widerstandskämpfer u.a. verhaftet und deportiert. Durch die Vertreibung der Juden wurden viele Wohnungen frei, was auch Irenes Eltern zugutekam. Am 25. November 1941 erging die 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz, wonach alle deutschen Juden, welche emigrierten oder deportiert wurden, ihre deutsche Staatsangehörigkeit und ihr gesamtes Vermögen an das Deutsche Reich verloren. Der förmliche Beschluss zur systematischen Vernichtung der Juden (Endlösung) wurde wahrscheinlich auf der Wannsee-Konferenz vom 20. 1. 1942 getroffen.

      Karl sah, wie die Fenster der Wohnung zum Schutz vor feindlichen Bombern und zwecks erschwertem Auffinden der Ziele bei Nacht mit einer Verdunkelungsrolle vorsorglich verdunkelt waren, um dem Luftschutzerlass vom 23. 5. 1939 und 22. 10. 40 Folge zu leisten und nicht Gefahr zu laufen, angezeigt und von der Gestapo als Volksschädling verhaftet zu werden. Ebenso galt die Verordnung für Kraftfahrzeug- und Fahrradscheinwerfer. Auch sah er einen Wassereimer, Sandeimer, Handfeuerspritze, Schaufel und Spaten sowie den Koffer voller Dokumente, wenige Habseligkeiten, Stahlhelm, Gasmaske und nasse Tücher zum Schutz vor beißendem Rauch, ständig griffbereit zur Flucht, um sofort bei jedem Sirenengeheul in den Luftschutzkeller – Juden war der Zutritt verboten – zu flüchten, wo der Luftschutzwart für Ordnung sorgte und eine Respektperson war. Vom Reichsluftschutzbund und der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt war Irene die Volksgasmaske ausgehändigt und in ihrer Handhabung unterrichtet worden.

      Während in anderen Wohnungen, wo die Wasserleitungen noch intakt waren, ständig in Eimern gesammeltes Wasser stand, gab es in ihrer Wohnung weder Wasser, Strom noch Gas, denn die Leitungen waren durch Bomben zerstört. Irene heizte den kleinen Herd ein, legte ein paar Scheiter Holz hinein und stellte das mitgebrachte Teewasser auf. Neben dem Herd lag ein Kochbuch mit sparsamen, „falschen“ Gerichten.

      Bald breitete sich wohlige Wärme aus. Die knisternden Holzscheite im Herd gaben eine behagliche, wohlige Wärme, während draußen die frierende Natur mit einem weißen Mantel von dicken Schneeflocken versehen sanft ruhend in den Winterschlaf eintauchte, um sich vor dem Erwachen des Frühjahrs auszuruhen und im Schoße der Mutter Erde neue Ernten zu gebären.

      Als Karl den Volksempfänger in Irenes Wohnung betrachtete, erinnerte er sich daran, dass Martha denselben zuhause hatte, welchen ihr Vater für 100 kg Weizen eingetauscht hatte. Insgeheim musste er lächeln. Als Martha ihren ersten Volksempfänger bekam, war sie so stolz und drehte ihn so laut auf, dass alle im Dorf hören sollten, dass sie einen Volksempfänger hatten.

      Wie oft, wenn Karl vom Volksempfänger die beängstigenden Nachrichten ob dem Näherkommen des Feindes in seine Heimat – sein Dorf lag in der Grenzregion zu Ungarn – hörte, fragte er sich, wie lange der Feind in Ungarn noch aufgehalten werden könne. Er hätte Lust gehabt Radio London zu hören, fürchtete aber, dass die Gestapo mit Sendepeilgeräten durch die Gassen fuhr.

      Als hätte der Volksempfänger eine unsichtbare Symbiose zwischen ihm und seiner Heimat hergestellt, spürte er instinktiv ein heimliches Verlangen, seine Lieben in der Heimat vor dem Feind zu beschützen.

      Der Duft von Kamillentee stieg in seine Nase. Während Irene in der Küche hantierte, trugen ihn seine Gedanken aus seinem Unterbewusstsein, wie eine Mahnwache, in seine Heimat. Wie oft hatte er mit Martha im Wald Kamille, Kräuter, Beeren, Eibisch, Pilze gesucht und wie oft hatten sie zusammen in ihrer Küche Tee getrunken. Seine plötzlich einsetzenden Kindheitserinnerungen führten ihn in seine Heimat und Heimweh überkam ihn. Er sehnte sich nach der Ruhe und Geborgenheit vor dem Krieg und dem Leben in der Idylle seiner Heimat.

      Im Geiste sah er Martha am Herd stehend und der vertraute Geruch von frisch gekochtem Essen trat wie von selbst gesteuert in sein Bewusstsein. Wie alle Frauen im Dorf stand Martha morgens um fünf Uhr auf, kleidete sich mit ihrem bunt bedruckten Leinwand- oder Baumwollkittel, band ein tischeltes (kariertes) Kopftuch hinten zusammen, zog ihre Schürze und Schnürschuhe an und heizte zuerst den Kachelherd mit dem Holz vom eigenen Wald ein. Oberhalb des Kachelofens, wo sich das Backrohr befand, war am Dachboden die Selch, sodass mit demselben Rauchfang, durch einen Schuber geregelt, das Fleisch geselcht wurde. Anschließend musste sie das Vieh füttern, den Stall ausmisten und die Kühe melken. Nach jedem arbeitsreichen Tag kam sie erst spätabends müde zu Bett. Genauso wie ihre Vorfahren die Weingärten, Felder, Wiesen und Wälder, die Viehwirtschaft mit viel händischer, schwerer Arbeit betrieben hatten, sollte auch ihr Leben in den vorgefertigten Bahnen verlaufen.

      Die Frauen heizten ihre Herde mit dem Kia (Kienspan) und Spandln (kleinem Holz) ein, kochten die von ihren Müttern und Großmüttern erlernten, altbewährten Speisen wie gelindeten, (Mehl erhitzt) geschmalzenen Sterz, Knödel, Oamali (gebackener Palatschinkenteig), krankerlten (knusprigen) Krumperntinl, Krumperngalatschen (Erdäpfelgericht), Ritschert (Rollgerste), Sulz (gegossene Presswurst) mit Essig, Kernöl und Zwiebel, Krumpernsterz, warmen Krautsalat, obrennten Salat (warmer, grüner Salat) mit warmem Speck und Grammeln, Fosn, Aufgeherts (Germstrudel, Germbäckereien), Hobelscharten, derbige (gezogene) Strudeln mit allerlei Füllen und Ziweben (Rosinen), Malinsen (Strudelteig, der im Rohr gebacken, zerkleinert, in Salzwasser gekocht, abgeseiht, geschmalzen und mit Knoblauch verfeinert wird), Mülifoarfal und selbst gemachte Nudel-, Kartoffel- und Bohnengerichte mit den selbst erzeugten Lebensmitteln nach dem Motto: „Was der Bauer nicht kennt, isst er nicht.“

      Wie oft wurde Karl in Marthas Elternhaus wie selbstverständlich von den Geidensleuten gebeten, als baldiges Familienmitglied mitzuessen und ein Glas Uhudler mitzutrinken. Was für eine große Rein voller Sterz Martha auf den Tisch stellte, sofort das Kreuzzeichen machte und zu beten anfing vor dem Essen.