Christine Feichtinger

Vergängliche Licht und Schatten in den Uhudler Bergen


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verglich er ihre Hände mit Marthas Hände. Wenn er an die abgearbeiteten vom Wind und Wetter rauen, von Schwielen übersäten Hände von Martha, von der schweren, dreckigen Arbeit, dachte, von denen alle Entbehrungen und Hoffnungslosigkeit auf ein besseres Leben abzulesen waren, wurde er ob seines Entschlusses unsicher.

      In diesem Moment konnte Karl seine Tränen und seine Trauer, gepaart mit dem Zweifel ob es nicht doch ein Abschied für immer war, nicht zurückhalten. Und so waren sie sich lange weinend und schluchzend in den Armen gelegen, unwissend, was das Schicksal für sie beide bereithalten würde. Lange sah er Irene an, um sich ihr Abbild zu verinnerlichen und unvergesslich zu machen. In ihren Augen sah er die Verzweiflung und Trostlosigkeit ob seines Wegganges. Und die nicht versiegen wollenden Tränen verbündeten sich mit dem unaufhörlich fallenden Schnee und deckten die Welt rund um sie platonisch mit einem weißen Totentuch zu.

      Aber schon im nächsten Moment wünschte er, er hätte Siebenmeilenstiefel, um so schnell wie möglich nach Hause zu kommen, alles für Irenes Ankommen daheim einzurichten, um so schnell wie möglich wieder zu seiner Liebsten zurückzukommen.

      Als Karl aus Irenes Blickfeld verschwand, wusste sie sofort, dass ihr etwas fehlte, als hätte sie etwas Lebensnotwendiges verloren. Sogleich fühlte sie sich einsamer und verlassener als je zuvor.

      Heimkehr Südburgenland

      Karl war mit seinem Rucksack, Feldflasche, Menageschale, Gasmaske, einem Brotbeutel mit den Bildern von Martha und Irene in den überfüllten Zug in Richtung Heimat gestiegen, wo er nur auf dem offenen Güterwagen einen Platz fand. Er erhaschte einen letzten Blick auf das verweinte Gesicht von Irene und sah ihr weißes Taschentuch noch lange ihm nachwinken. Würde sie ihn gedanklich begleiten?

      Die Heimfahrt gestaltete sich gefährlich. Die Feindflieger bombardierten die Züge und beschossen sie mit Bordwaffen. Bei jedem Tieffliegeralarm musste Karl mit den anderen Fahrgästen schleunigst den Zug verlassen und um sein Leben laufen. Dann musste er aus seinem Versteck zusehen, wie der Zug beschossen wurde. Wenn er wieder im Zug war, krochen die Leute bei jedem Fliegergetöse unter die Bänke und wenn die Tiefflieger weg waren, kamen sie bald wieder zurück. Welches Gedränge beim Aussteigen aus dem Zug herrschte, denn jeder wollte der Erste sein.

      Als würde Irene ihn begleiten, war ihr Schatten auf seiner langen Reise immer neben ihm. Wie oft griffen seine Hände während seiner stundenlangen Fußmärsche in den Brotbeutel, um einen kurzen Anblick zu erhaschen und sorgsam steckte er es wieder zurück, um es ja nicht zu verlieren.

      Es gab keine durchgehende Bahnverbindung mehr und viele Schienen waren zerstört. Wie oft versteckte er sich, um nicht bestohlen zu werden. Meistens nächtigte er bei Bauern im Heu oder im Stall. Sie gaben ihm oft morgens Milch und Brot zu essen. Immer wieder musste er sich ducken und sich verstecken, wenn Bomber über ihn flogen. Er befragte auf seinen Fußmärschen unterwegs alle Personen, die er traf, auch andere Heimkehrer, die zur Anbauzeit heimkehren durften, ob sie etwas von seiner Heimat gehört hätten und wie weit entfernt die Front stand. Bei den Stationen des NSV labte er sich am Eintopf. Er war entsetzt, wenn er die durch Bomben zerstörten Städte sah.

      Je näher er seiner Heimat kam, desto mehr stieg Vorfreude auf, aber auch Angst, wie er seine Familie, sein Elternhaus und sein Dorf antreffen würde. Von seiner letzten Übernachtung bei einem Bauern im Stall hatte er sich einen großen, braunen Hasen mitgenommen. Diese große Rasse kannten sie zuhause nicht. Er wollte diesen zuhause mit seinen Hasen für die Zucht kreuzen.

      Als hätte der Herrgott selber für ihn das schönste Märzwetter für seine Heimkehr bestellt, war die Luft klar und die Sonne schien wärmend auf sein Gemüt. Nach etlichen gefahrvollen Tagen und Nächten der Heimkehr betrat er am 12.3.1945 den Hotter seines Heimatdorfes nach langer Zeit wieder. Jetzt in der Heimat, ließ er sein stilles Mitbringsel, den unter seinem Arm getragenen Hasen, aus Dankbarkeit für die gute Heimkehr vom heimatlichen Gras fressen.

      Wie oft hatte er sich in Todesangst seine Heimat vergegenwärtigt und nun war er, wie in einem Märchen, in eine andere Welt eingetreten.

      Wie sehr hätte Karl sich gewünscht, Irene stünde jetzt an seiner Seite und er könnte mit ihr dieses Glück teilen und sie an sich drücken. Aber als sein hungriger Magen knurrte, kam er in die Realität zurück. Wie vertraut ihm alles war. Sein Pulsschlag erhöhte sich und sein Herz hüpfte wie verrückt. Er atmete die gute Luft ein, machte dankbar das Kreuzzeichen und sprach leise ein kurzes Dankesgebet. Am liebsten hätte er sich niedergekniet und den heimatlichen Boden geküsst.

      Was für eine idyllische, seit urdenklichen Zeiten sauber von Hand gepflegte Landschaft. Die Natur schien wieder zum Leben zu erwachen. Während er auf den Loasn (Fahrspuren) mit dem vielen Kuh- und Pferdedung ging, sah er die ersten Primeln und Gänseblümchen blühen, und die mit Wintersaat begrünten Äcker.

      Als wäre er in eine andere Welt eingetreten, vernahm er das Muhen und Wiehern der Arbeitstiere, das Knarren der alten Äste der Bäume, die Holunderbüsche, aus deren Blüten die Frauen im Sommer Krapfn in Schmalz buken und er hörte lustiges Vogelgezwitscher, wie er es seit Kindesbeinen an liebte. Er sah die Hochstände der Jäger, Futterstellen für die Wildtiere und roch den Gestank eines verwesten Tieres.

      Eine krächzende Krähe erhob sich geräuschvoll über ihn und schreckte ihn auf, so als wollte sie ihn vertreiben, damit sie ungestört ihr Nest bauen konnte. Hier an diesem Platz, unter einer großen schattigen Eiche, im Moos, hatte er sich so oft mit Martha getroffen und so oft seine Liebe gestanden.

      Anschließend betrat er einen Wald, atmete die gute Luft ein. Er sah die Robinien, welche im Dorf immer fälschlich als Akazien bezeichnet wurden. Diesen Wald kannte er gut, hier hatte er sich sein erstes Zwischl (Astgabelung) von den Wiedl (Weiden) für seine erste Gummischleuder abgeschnitten. Er erinnerte sich, wie er als Schüler mit einem Amper (Kübel) mit dem Herrn Lehrer Lorenz Schmid und den anderen Schülern hierher in diesen Wald gehen musste, um für die Hühner des Herrn Lehrers die Maikäfer als Futter zu sammeln.

      Jedes Jahr schnitt sein Vater hier entweder im Frühling, wenn die Weiden im Saft standen und das Laub noch nicht ausgetrieben war, oder im Herbst, wenn die Blätter abgefallen waren, Weidenruten. Die zwei Meter langen Wiedl (Weidenruten) band er zu Bündeln, durch die er zwei Stangen steckte und so nach Hause beförderte. Während die im Frühjahr geschnittenen Ruten vor der Verarbeitung einige Tage ins Wasser gelegt wurden, damit sich die Rinde leichter lösen ließ, wurden die Weidenruten, welche im Herbst geschnitten wurden, gekocht, damit die Rinde abgeschält werden konnte. Dadurch verfärbten sie sich rotbraun. Aus den ungeschälten Wiedl fertigte sein Vater große Körbe mit Henkeln, Obst- und Blumenkörbe. Schwingen (runde bauchige Körbe) und Buckelkörbe mit Schulterriemen aus Leder fertigte er aus Haselnussruten an. Aus dem Besengstauri (Birkenzweigen) erzeugte er Besen.

      Von weitem sah er etliche Bäuerinnen, welche in den Eichenwäldern das Lawi (Laub) rechten, um es als Einstreu oberhalb des Strohs im Stall zu verwenden. Mit einem Buckelkorb brachten sie es auf den Krichtlwagen, welcher mit Brettern vermacht war. Die eingespannten Kühe waren zum Schutz vor der Kälte mit Koutzn (Decken) zugedeckt, sie grasten und warteten geduldig auf das Heimfahren. Mit Bitterkeit nahm er zur Kenntnis, dass jetzt großteils nur die Frauen die Landwirtschaft zu betreiben hatten, da die Männer entweder beim Stellungsbau am Südostwall, beim Volkssturm, an der Front verletzt oder vermisst bzw. gefallen waren. Als er näher kam, hörte er sie im gemeinsamen Chor auf ihren Feldern nebeneinander Marienlieder singen, welche wie Klagelieder an sein Ohr drangen.

      Karl atmete den frischen Geruch der umgeschnittenen Kiefer ein, wo etwas weiter entfernt eine Frau mit Kopftuch und Schnürschuhen, ein blaues Fiarta (Schürze) umgebunden, mit einem Roafmesser (Reifmesser) die Rinden des Meterholzes schälte.

      Auf einem weit entfernten Feld sah er zwei Bäuerinnen beim Tessn (eggen) der Knoarn (Erdschollen) mit ihren Kühen. Eine ging mit einer Goasl (Peitsche) vorne bei den Kühen, während die andere hinten neben der Arn (Egge) ging.

      Im selben Moment stellte sich Karl Irene vor, ob und wie sie diese schweren Arbeiten verrichten