Christine Feichtinger

Vergängliche Licht und Schatten in den Uhudler Bergen


Скачать книгу

blutenden oder toten Kameraden, die Schreie, das Betteln um den Gnadenschuss, das Todesröcheln seiner Kameraden, die sterbenden Pferde vor sich sah, fragte er sich beim Anblick des Grauens fast schuldbewusst, warum er überlebt hatte. Unvergessliche Bilder des Krieges verdunkelten ihm seine Sinne. Wie oft schreckte er auf mit der Angst, allein und verlassen, hilflos dem Inferno der Leichenberge gegenüber und der Gedanke, dass ihn eine Kugel jede Sekunde töten konnte.

      Neben der Hoffnungslosigkeit, Resignation, Zukunftsängsten, Angst, sein früheres unbekümmertes Leben nie wieder führen zu können, der Furcht, zur Rechenschaft gezogen zu werden, der Angst um sein Leben und das Leben seiner Familie, war die immerwährende Furcht zugegen, dass die Versorgung und der Nachschub ausbleiben könnte.

      Bei jedem feindlichen Angriff kamen die Todesängste wie ein Schreckgespenst hervor und die Angst vor der Zukunft wurde zu seinem ständigen Begleiter.

      Niemals durfte er seine Angst, seine seelischen Qualen und sein Leid hinausschreien, keine Gefühle zeigen und allen Schmerz unterdrücken. Folgsam, ohne Hinterfragen des geheiligten Befehls, hatte er wie eine mechanische Marionette zu funktionieren und jede Barbarei mitzumachen.

      Verschweigen musste er auch seine Angst vor einem Gaskrieg, seine feste Ansicht, dass der Krieg verloren war und alle Opfer umsonst waren, um nicht als Vaterlandsverräter zu gelten. Jeder wusste, ein zweifelnder Soldat war ein schlechter Kämpfer. Dieses Wissen und die Tatsache, dass dennoch immer jeden Tag so viele seiner Kameraden verletzt wurden, bzw. ihr Leben lassen mussten, sie alle aber Mut, Tapferkeit und Siegessicherheit heucheln mussten, hatten ihn zusätzlich seelisch krank gemacht und so hatte er angefangen, sich wegen seiner Falschheit und Heuchelei zu hassen, was ihn innerlich, wie ein böses Krebsgeschwür, zerfraß.

      Die anderen Qualen und inneren Narben, welche mit dem Auge nicht erkennbar waren, musste er vor seinen Kameraden und Befehlshabern ebenso verschweigen, denn sonst wäre er in der militärischen Rangordnung wie ein Drückeberger, Feigling, Simulant oder Deserteur angesehen worden.

      Wie oft versuchte er die Dämonen zu vertreiben und seine Gedanken und Träume in einen Friedenstraum, in dem nie wieder Krieg sein würde, zu lenken, wo er sein altes unbekümmertes Leben wieder führen konnte.

      Kurze Zeit später, als Karl Ertl das Krankenhaus in Rosenheim vor sich sah, hätte er trotz seiner Schmerzen am liebsten vor Freude laut geschrien, was für eine Erlösung es für ihn war, nicht mehr im Kugelhagel stehen zu müssen und dadurch für einige Zeit dem Leid und Elend, dem Hunger, der Kälte, dem qualvollen Schreien und Stöhnen seiner Kameraden, dem Anblick der verwundeten oder toten Kameraden entflohen zu sein, und dem eigenen Tod ständig ausgeliefert zu sein, zu entgehen. Insgeheim stieß er ein Stoßgebet aus, indem er sich heimlich für seine Ruhepause bedankte.

      Im selben Moment glaubte er seine fahnenflüchtigen Kameraden, Kriegsdienstverweigerer, Kameraden, welche eine Krankheit vortäuschten, um nicht an die Front gehen zu müssen, um dem Horror zu entgehen, sich selbst verletzten, um in einem Lazarett sicher zu sein, um ihr Leben zu retten, besser verstehen zu können, obwohl er selber nie zu jenen gehören wollte.

      Andererseits bereitete es Karl Gewissensbisse hier im Krankenhaus geborgen zu sein, während seine Kameraden unter Einsatz ihres Lebens kämpften. Es kam ihm irgendwie wie eine egoistische Flucht, als hätte er seine Kameraden im Kampf im Stich gelassen, vor.

      Im Krankenhaus machte er bald Bekanntschaft mit anderen verletzten Soldaten, welche ihm erklärten, dass er Glück gehabt hätte, denn sie hatten gesehen, dass sogar das Rote Kreuz beschossen worden war, sodass viele Sanitäter gestorben waren.

      Dass hier in diesem Krankenhaus in Rosenheim sein Leben eine derartige Kehrtwendung erfahren würde, konnte Karl Ertl nicht ahnen.

      Wie von selbst gesteuert, als eine Fügung Gottes von höherer Macht geleitet, war auch in Karl Ertl in derselben Sekunde, als er Irene das erste Mal sah, die große Liebe eingekehrt.

      Karl Ertl hatte noch nie ein schöneres, gepflegteres, sanftmütigeres Mädchen gesehen. Sie war groß, hatte einen aristokratischen Wuchs, als wären ihre Vorfahren Aristokraten gewesen. Ihre großen, braunen Augen faszinierten ihn.

      Trotz ihrer 22 Jahre wirkte Irene viel jünger, als hätte sich ihr Körper erst jüngst von ihren zarten Mädchenknospen zur Frau entpuppt. Ihre Gesichtszüge waren ebenmäßig. Eine vornehme Zurückhaltung war Irene in die Wiege gelegt worden. Als er das erste Mal in ihre braunen, unschuldigen Augen sah, stellte er sich vor, ihren wohlgeformten Körper zu streicheln und an den geheimnisvollsten Stellen zu küssen, und ihren Atem und Herzschlag zu spüren.

      Sie besaß eine ihr von der Natur gegebene Anmut, eine eiserne Disziplin, sodass ihr die Patienten bald Vertrauen entgegenbrachten, was ihm sehr imponierte. Ihr großes Herz, für ihre Patienten da zu sein, ihr Leid zu mildern, schien für sie das oberste Prinzip zu sein. Er verfolgte sie mit seinen Blicken, wenn sie mit Hingabe geduldig und hilfsbereit ihren Beruf ausübte, für jeden Patienten stets ein freundliches Lächeln hatte. Immer war sie bemüht, den Patienten jeden Wunsch zu erfüllen und dementsprechend beliebt war sie.

      Jedes Mal, wenn sie in seiner Nähe war, um ihn zu versorgen, oder was für ihn beschämend war, ihm die Bettpfanne zu bringen, verflog das ständige Hungergefühl, die Schmerzen, die quälende Angst, wieder an die Front gehen zu müssen, wie von selbst.

      Sobald ihm seine Schmerzen Freiraum gaben, kreisten seine Gedanken ständig um Irene und er sehnte sich nach ihren Zärtlichkeiten und ihrer Liebe jeden Tag mehr.

      Es schien, als wären sie für einander bestimmt. Ihre gegenseitige magische Anziehungskraft führte sie immer wieder zusammen, als hätten sie sich verabredet. Jedes Mal, wenn sie in seiner Nähe war, überkam ihn ein Gefühl, als wäre er an seinem lang ersehnten Ziel angekommen.

      Die junge Liebe tat ihm unendlich gut und schien ihn von seinen Sorgen und Ängsten kurzzeitig zu befreien. Jedes Mal, wenn er Irene sah, fühlte er sich wie neugeboren, als würden in ihm neue Kräfte heranwachsen und ihn auf Flügeln ins Paradies tragen. Sein steinharter Panzer in seinem Brustkorb, welcher all seine aufgestaute Wut, Verzweiflung, Resignation eingesperrt hatte und ihn zu ersticken drohte, schien kurzzeitig die auferlegten Ketten zu lockern.

      Während ihrer Anwesenheit fühlte er sich in eine andere Welt versetzt. Die Zeit, die er plötzlich für sich selber nutzen konnte, betrachtete er als Geschenk. Er war es nicht mehr gewöhnt, selbständig zu sein und die Zeit für sich zu nützen.

      In diesen wohltuenden Pausen verflüchtigte sich zwischenzeitig kurz der Leidensdruck, welcher einer kurzzeitigen Heilung seiner wunden, verletzten Seele gleichkam, und er vergaß für eine Weile seine Albträume und seine ständige Todesangst.

      Und trotzdem schreckte er öfters auf, denn wie von verräterischen, listigen Geistern geleitet, als hätten sie ihn der Untreue überführt, trat unvermutet Martha Janisch, seine Braut aus seinem Heimatdorf wie ein platonisches Mahnmal aus einer längst vergangenen Urzeit verschwommen in sein Unterbewusstsein und holte ihn gewaltsam von seiner Glücksleiter herunter.

      Bisher hatte er sich immer beim Anblick des zerknitterten Bildes von Martha aus seinem Brotbeutel Trost und den Willen zum Durchhalten und am Leben bleiben zu wollen, geholt und sich nichts sehnlicher als Frieden und Heimkehr zu seiner Martha gewünscht.

      Aber jetzt schien das Bild verschwommen zu sein und dieser Trost sich verflüchtigt zu haben. Hatte der Krieg ihre Liebe zerstört?

      Ihm wurde im selben Moment bewusst, dass das Bild von Martha in seinem Brotbeutel den Granatsplitter abgelenkt, sein Leben gerettet hatte und er ihr gegenüber zum Dank verpflichtet war. Dadurch war er ins Krankenhaus zu Irene gekommen und Martha hatte ihm platonisch wie ein Wegweiser den Weg zu Irene gezeigt.

      Würde sich sein schlechtes Gewissen wegen Martha verflüchtigen und er je wieder ein reines haben?

      So lange er sich erinnern konnte, war Martha ihm vermoant (versprochen, vermeint). Marthas und Karls Eltern waren Geidensleute (Gevatter). Der Hausname von Marthas Elternhaus war Weihsteher, da der Geid einige Zeit auf dem Weg arbeitete. Schon als Anna Ertl als Taufpatin das erste Mal ihr Gevatterskind Martha in Händen hielt,