Christine Feichtinger

Vergängliche Licht und Schatten in den Uhudler Bergen


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Sack Getreide.

      Im gleichen Augenblick erinnerte sich Karl an jenen denkwürdigen, unvergesslichen Abend, als Karl infolge einer Verletzung zuhause war und der Steffl-Watschi in sein Elternhaus gelaufen kam und weinend von weitem schrie: „Für mich scheint keine Sonne mehr, mein Leben hat keinen Sinn mehr.“

      Dabei schnäuzte er sich ins Schnaiztiachl (Taschentuch). Unter ständigem Schluchzen begann er vom schrecklichen Unglück in seinem Haus zu erzählen.

      Wie schon oft zuvor waren Walzler (Arbeitssuchende) ins Dorf gekommen und hatten sich beim Bürgermeister Viktor Ertl gemeldet, um Arbeit gefragt, und wurden anschließend von Viktor Ertl in abwechselnde Häuser zugewiesen, wo sie Quartier und Verpflegung bekamen. Über die von ihm zugewiesenen Häuser hatte Viktor Ertl genau Buch geführt.

      Als nun zwei Walzler mit ihren Buckelkörben voller Werkzeug in das zugewiesene Haus des Steffl- Watschi kamen und zuerst um Arbeit fragten und ihnen der Steffl-Watschi erklärte, es gäbe nichts zum Tun, anschließend um Essen gebettelt hatten und ihnen der Steffl-Watschi erklärte, er könne ihnen nichts geben, er habe selber nichts, waren sie trotzdem hartnäckig geblieben und gingen nicht weg. Der Steffl-Watschi wurde zornig und vertrieb sie fluchend mit der Heugabel. Kurze Zeit später, als der Steffl-Watschi und alle Hausbewohner auf dem Feld bei der Arbeit waren, ging der Heustadel in Flammen auf, wo die zwei kleinen eingesperrten zwei- und vierjährigen Mädchen, nachdem ihnen seine Frau Mohnhäuptel gekocht und den Saft zu trinken gegeben hatte, schliefen. Sie erstickten im Rauch. Dieses Unglück sorgte im Dorf für Entsetzen und Trauer.

      Gleich danach, als der Steffl-Watschi am selben Abend in die Küche der Familie Ertl eingetreten war und vom tragischen Vorfall erzählt hatte, war, wie zur Bekräftigung seiner Worte, durch die wahnenden (zugigen) Fenster der Wind so heftig hineingefahren, dass der Docht des Petroleumlämpchens wie ein schlechtes Omen erlosch und es stockdunkel wurde. Unter Tränen fragte er Toni, ob er beim Begräbnis als Sargträger fungieren würde. Und Karls Eltern Viktor und Anna Ertl fragte er, ob sie bei den Vorbereitungen für das Begräbnis und dem Tour (Totenmahl) helfen würden.

      Wie es der Brauch verlangte, wurde das vordere große Zimmer außer den Kleiderschränken im Haus vom Steffl-Watschi für die Aufbahrung der zwei kleinen Mädchen ausgeräumt. Die Fenster und Spiegel verhängt und verdunkelt, von der Kirche Heiligenbilder, das große Kreuz an der Stirnseite der Särge aufgestellt, wo die toten Mädchen in weißen Kleidern mit Rosenkränzen in Händen in Weihrauchdämpfen aufgebahrt lagen, daneben ein Weihwasserkessel mit einem Buxbaumbüscherl zum Ohtacken (Kreuzzeichen geben) aufgestellt.

      Trotzdem die Familie der Verstorbenen drohte, unter diesem Unglück zusammenzubrechen, mussten brauchhalber am nächsten Morgen die Hennen und ein Schwein für den Tour (Totenmahl) für die engsten Verwandten aus den umliegenden Dörfern abgestochen, Suppennudel zubereitet, Fosn (Strudel) gefüllt mit Ziweben (Rosinen), Bagl (Guglhupf) und Brot gebacken und der Wein geholt werden.

      Am Abend kamen die Leute, wünschten Beileid (kondolierten) und anschließend wurde gewachtet (gebetet und gesungen), Brot und Wein gereicht. Die engsten Verwandten hielten die ganze Nacht Wache und hielten sich mit Schnaps wach, während die Hausleute schlafen gingen.

      Sobald die Särge aus dem Haus waren, musste das vordere Zimmer für den Tour (Totenmahl ausgeräumt und mit Tischen und Bänken eingerichtet werden für die engsten verwandten Trauergäste, sowie Lehrer, Pfarrer, Ministranten und Mesner.

      Schon morgens halfen Viktor und Anna Ertl. Es wurde Hühnersuppe, gekochtes Hendlfleisch mit Semmelkren, Rote Rounen (Rüben), Schweinsbraten, Geselchtes mit Kartoffelsalat, Strudel und Wein beim Totenmahl aufgetragen.

      Am Tag des Begräbnisses gingen Toni und andere Burschen mit Rosmarinsträußerln am Revers, symbolisch mit Mädchen in weißen, langen Kleidern, einem Kranzerl im Haar als Kränzlerinnenpaare eingehängt, so als würden sie die entgangene Hochzeit der verstorbenen Mädchen feiern, hinter dem Pfarrer und Ministranten und folgten dem Sarg.

      Beim anschließenden Totenmahl wurden alle Trauergäste immer aufgefordert zu essen und zu trinken, denn dies wäre die Hochzeit der verstorbenen Mädchen. Toni brachte keinen Bissen hinunter und so war dieses tragische Erlebnis für Toni ein Grund mehr dafür gewesen, der Armut zu entfliehen, seinen Eltern nicht mehr zur Last zu fallen, Arbeit zu suchen, um ein besseres Leben zu führen.

      Nach dem Begräbnis erklärte er, er wolle kein Unterhaspel mehr sein, es wären noch genug hungrige Mäuler im Haus zu stopfen, er wolle künftig sein Brot selber verdienen und ein besseres Leben haben, er würde nach Deutschland arbeiten gehen.

      Nachdem der Heustadel des Steffl-Watschi samt Heu und Stroh niedergebrannt war, das Vieh sich teilweise losgerissen hatte und verschwunden, praktisch die Lebensexistenz in Flammen unterging, spendeten die Dorfleute Stroh und Heu und fortan ging der Steffl-Watschi mit einem von Viktor Ertl als Bürgermeister ausgestelltem Brandbrief von Dorf zu Dorf, um für einen Neubau zu sammeln.

      Im selben Moment erinnerte sich Karl an den 11. 3. 1938, wo um 19.50 Uhr Bundeskanzler Kurt Schuschnigg im Radio bekannt gab, dass die Regierung „vor der Gewalt weiche“, er „kein deutsches Blut vergießen wolle“, und mit den Worten „Gott schütze Österreich“ schloss.

      Wie Toni sich freute, als am 12. März 1938 deutsche Truppen, unter Jubel und ohne militärischen Widerstand, in Österreich einmarschierten. Im Gegensatz zu Toni war Karl von Anfang an kein glühender Verehrer Hitlers, denn Toni gehörte bereits seit 1937 mit einigen Freunden zur illegalen Hitlerjugend und bezahlte monatlich 50 Groschen Mitgliedsbeitrag.

      Dass Deutschland wegen der massiven Aufrüstung hoch verschuldet war und die österreichischen Gold- und Devisenreserven gut gebrauchen konnte, Österreich wegen seiner geographischen Lage und wegen seiner reichhaltigen Rohstoffe wie Eisenerz, Magnesit, Grafit, Wasserkraft und Erdöl für die deutsche Industrie wichtig war, wussten die Dorfbewohner nicht. Außerdem waren Millionen Österreicher für das Deutsche Reich als Soldaten und Arbeitskräfte von großer Bedeutung.

      Allerdings gab es im Dorf beim Einmarsch Hitlers nicht nur jubelnde Befürworter, sondern viele hielten, genauso wie Viktor und Anna Ertl, ihre Meinung zurück.

      Es gab hinter vorgehaltener Hand und hinter verschlossenen Türen Diskussionen, wie es ihnen unter den Deutschen ergehen würde. Öffentlich traute sich niemand seine Meinung sagen.

      Karl erinnerte sich, wie sich ihr Dorf verändert hatte. Wie von einer unsichtbaren bedrohlichen Welle überrollt, war ihr Dorf ahnungslos, wie aus einem tiefen Winterschlaf, aus ihrer einfachen Welt gerissen worden. Die Bauern im Dorf waren Selbstversorger, es waren ein Schneider-, Schuster-, Schlosser- und Schmiedemeister und eine angelernte Geburtenhelferin ansässig. Viele der Bauern waren der Meinung, dass ihnen unter den Deutschen nichts passieren könne, da sie als Bauern Selbstversorger wären und Grund und Boden hätten. Sie kamen oft lange nicht aus dem Dorf hinaus.

      Alle Dorfbewohner lebten seit Generationen bisher friedlich nach dem Wort Gottes, dem Kalender der kirchlichen Feiertage und nach den alteingesessenen Sitten und Gebräuchen.

      Nun war eine höhere Macht eingetreten und hatte die alten Werte und Vorstellungen in den Hintergrund gestellt.

      Für Viktor Ertl und viele andere im öffentlichen Dienst stehende Personen veränderte sich die Zeit maßgeblich, denn Viktor Ertl wurde unfreiwillig seines Bürgermeisteramtes enthoben.

      Denn wie andere politisch „Unzuverlässige“, Gegner und Widerstandskämpfer des neuen Regimes, hohe Beamte, Bürgermeister, Bezirkshauptleute, Polizisten und Gendarmen sowie abtrünnige Nationalsozialisten, welche sogleich nach dem Einmarsch Hitlers am 12. 3. 1938 entweder verhaftet, versetzt, ihres Dienstes enthoben oder in das Konzentrationslager Dachau deportiert wurden, war auch Viktor Ertl als Bürgermeister seines Amtes enthoben worden. Die freigewordenen Stellen in den Bereichen Verwaltung, Bildung, Schulwesen, Wirtschaft, bäuerliche Organisationen, Exekutive, Justiz und Zeitungswesen wurden mit „zuverlässigen“ Nationalsozialisten besetzt.

      Gleich darauf hatte