Anna-Irene Spindler

Schwingen des Adlers


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sehr. Er erinnerte sie an Schwester Marie-Agnes.

      „Jetzt werde ich Sie aber nicht mehr länger aufhalten. Ich will mir den Ort noch ein bisschen genauer anschauen und den Kindergarten muss ich auch noch unter die Lupe nehmen. Es war schön, dass wir uns wiedergesehen haben. Bis bald, Herr Anninger!“

      Sophia streckte ihm die Hand hin, die er sofort ergriff und herzhaft drückte. „Die Freude war ganz meinerseits, Frau Römer. Auf Wiedersehen!“

      Sophia stand schon vor der Tür, als sie sich plötzlich umdrehte.

      „Beinahe hätte ich es vergessen. Wie geht es eigentlich Ihrem Freund? Ist er wieder ganz gesund?“

      „Sie meinen Mark? Aber ja. Hatte ich Ihnen nicht gesagt, dass er hart im Nehmen ist? Seinetwegen war ich vorhin unterwegs. Ich habe ihn in Oberkirch am Bahnhof abgeliefert. Morgen früh um halb sechs geht sein Flugzeug. Er fliegt für vier Wochen nach Kanada.“

      Als Thomas ihren erstaunten Blick sah, fuhr er fort:

      „Mark hat sich auf dem Gebiet der Greifvogel-Auswilderung einen gewissen Namen erworben. Sie haben ihn nach Edmonton eingeladen, damit er dort an der Universität Seminare hält.“

      „Schön, ...schön, dass es ihm wieder gutgeht. Also dann auf Wiedersehen.“ Sophia drehte sich um und ging langsam die Dorfstraße entlang.

      Thomas sah ihr nach, bis sie hinter einem der Häuser verschwand. Ihm war das Stocken in ihrem letzten Satz nicht entgangen. Er hatte beinahe das Gefühl, dass eine gewisse Enttäuschung in ihrer Stimme mitgeschwungen hatte. Aber vielleicht war das auch nur Einbildung. Er pfiff fröhlich vor sich hin als er zurück in sein Büro ging. Prima, dass nun der Kindergarten bald wieder offen sein würde.

      XI.

      Sophia warf einen prüfenden Blick in den Spiegel. Ja, jetzt war es gut!

      Fünfmal hatte sie sich umgezogen, bis sie mit ihrer Wahl zufrieden war. Die blauen Leinenschnürschuhe waren trendy, die beige Cargohose modisch, das blaue Polo-Shirt sportlich und die beige Strickjacke wirkte äußerst solide.

      Von jedem etwas!

      ‚Konntest du dich wieder nicht entscheiden!‘ wäre sicherlich Katies spöttischer Kommentar gewesen. Ihre Tochter hatte immer wieder über Sophias Kleidungskompromisse gelästert. Das war ja jetzt Gott sei Dank vorbei! Sie konnte anziehen was immer ihr gefiel. Wenn ihr danach war sogar karierte Hosen und Blümchenbluse.

      Aber heute war es ihr nicht leicht gefallen, das Richtige zu wählen. Sie wollte auf keinen Fall großstädtisch-mondän wirken, aber natürlich auch nicht altbacken. Den ganzen Tag hatte sie schon die eine oder andere Zusammenstellung durchdacht und wieder verworfen.

      Anna hatte sie zur Dorfversammlung eingeladen. Anscheinend fand dieses Treffen der Dorfbewohner von Saas Gurin in einem vierteljährlichen Rhythmus statt. Angelegenheiten wurden beredet, die den Einwohnern wichtig erschienen. Als Sophia die Gemeindesekretärin ganz erstaunt gefragt hatte, was sie denn bei einer solchen Versammlung sollte, war die schlichte Antwort gewesen:

      „Alle Einwohner von Saas Gurin kommen. Sie wohnen seit drei Wochen dort, also müssen Sie auch hingehen!“ Das klang so bestimmt, als wäre eine Absage unmöglich.

      In München hatte sie gelegentlich bei Veranstaltungen von Katies Schule die eine oder andere Ausrede erfunden, wenn sie keine Lust gehabt hatte hinzugehen. Einladungen oder vorbestellte Theaterkarten wurden als Hinderungsgrund immer akzeptiert. Das war hier in Saas Gurin nicht ganz so einfach. Es gab kein Theater weit und breit. Das Einzige was vielleicht zählen würde, wäre eine Erkrankung. Aber nachdem sie heute den ganzen Tag putzmunter die Kinder betreut hatte, war das nicht unbedingt glaubwürdig. Also blieb ihr nichts Anderes übrig als zur Versammlung zu gehen, obwohl sie eigentlich keine große Lust hatte.

      Mit einem letzten Blick in den Spiegel überzeugte sie sich noch einmal davon, dass sie angemessen angezogen war. So hoffte sie wenigstens. Sie hatte schließlich noch nie zuvor an einer Dorfversammlung teilgenommen.

      Als sie die Holzstufen hinunterging knöpfte sie die Jacke zu. Jetzt, Ende August, wenn man in München im Sommerkleidchen unter den Kastanien im Biergarten sitzen konnte, wurde es hier abends schon kühl. Sophia schaute auf ihre Armbanduhr und legte einen Zahn zu. Die Versammlung war auf acht Uhr angesetzt. Sie wollte auf keinen Fall zu spät kommen.

      „Das ist aber schön, dass Sie auch kommen, Frau Römer!“

      Sophia drehte sich um. Frau Gestner, die Besitzerin des kleinen Ladens, hatte sie beinahe eingeholt.

      „Anna hat mich eingeladen“, sagte Sophia und streckte der rundlichen, rotwangigen Frau die Hand entgegen. „Ich weiß aber eigentlich nicht so recht, was ich bei der Versammlung soll.“

      „Sie werden sehen, dass es da Einiges gibt, was Sie interessiert. Außerdem ist es eine gute Gelegenheit die Eltern der Kinder näher kennenzulernen. Pfarrer Maierhofer und der Bürgermeister von Oberkirch, Ferdi Tobler, werden auch da sein. Da können Sie auch Dinge, die den Kindergarten betreffen gut vorbringen. Und im Übrigen“, Frau Gestner blieb stehen und sah sie eindringlich an „Sie wohnen in Saas Gurin, also gehören sie zu uns. Und es ist ein ungeschriebenes Gesetz, dass aus jedem Haus mindestens Einer zur Dorfversammlung kommen muss. Das ist schon immer so gewesen. Seit es unser Dorf gibt. Das ist auch gut so. Wenn etwas beschlossen wird, muss man es nicht extra öffentlich aushängen. Und trotzdem kann keiner sagen ‚ich hab nix gewusst‘.“

      Auf eine so klare Aussage blieb nichts weiter zu erwidern. Das letzte kurze Stück bis zum Gasthof gingen sie schweigend nebeneinander her. Sophia war heilfroh, dass sie sich entschlossen hatte zur Versammlung zu gehen. Ein Nichterscheinen hätten ihr die Dorfbewohner sicher sehr übel genommen.

      Der Gasthof ‚Mühle‘ lag nicht an der breiten Hauptstraße des Dorfes, sondern genau wie der Kindergarten am Ende einer Seitengasse. Direkt hinter dem Haus floss ein glasklarer, eiskalter Bergbach vorbei, der immer noch ein uraltes, verwittertes, mit Moos bewachsenes Mühlrad antrieb. Das hatte zwar keinerlei Funktion mehr, wirkte aber ungeheuer malerisch und verträumt. Es gab wahrscheinlich keinen einzigen Fremden, der während seines Aufenthaltes das historische Überbleibsel aus längst vergangenen Zeiten nicht fotografierte.

      Im Gasthof herrschte bereits geschäftiges Treiben und der Lärmpegel war schon entsprechend hoch. Als Sophia gemeinsam mit Frau Gestner eintrat, wurden sie sofort von allen Anwesenden umringt. Einige Leute kannte sie bereits. Es waren meistens Eltern oder Großeltern von Kindergartenkindern. Sie schüttelten ihr die Hand und jeder gab ihr deutlich zu verstehen, wie sehr er sich freute, dass sie gekommen war.

      Frau Gestner übernahm das Amt, sie den übrigen Anwesenden vorzustellen. Sophia schüttelte jedem artig die Hand. Krampfhaft versuchte sie sich die Namen zu merken und sie den jeweiligen Gesichtern zu zuordnen. Das war gar nicht so einfach. Bereits nach kurzer Zeit bemerkte sie, dass sich die einzelnen Namen immer wieder wiederholten.

      Im Kindergarten war ihr das auch schon aufgefallen. Von den sieben Kindern hatten drei den gleichen Familiennamen, obwohl es keine Geschwister waren. Ebenso häufig wurden Doppelnamen genannt. Diese setzten sich bis auf zwei oder drei Ausnahmen aus den schon bekannten Familiennamen zusammen. ‚Also doch Inzucht!‘ schoss es Sophia durch den Kopf, als sie die Hand eines alten Mannes schüttelte, den ihr Frau Gestner als Ruedi Michler-Anninger vorstellte. Zuvor hatte sie schon dreimal einem Herrn Michler und einer Frau Michler die Hand geschüttelt.

      „Schön, dass du auch da bist!“

      Ein Arm legte sich um ihre Schultern und ein ziemlich kratziger Kuss wurde ihr auf die Wange gedrückt.

      „Hallo Thomas!“ Sophia war ehrlich erfreut ihn zu sehen.

      In diesen drei Wochen, die sie jetzt hier in Saas Gurin wohnte, waren ihr der stets gut aufgelegte Mann und seine liebenswerte, herzensgute Frau Gina ans Herz gewachsen. Thomas gab ihr immer wieder den einen oder anderen hilfreichen Tipp im Umgang mit den Einwohnern. Er erteilte ihr auch stets bereitwillig Auskunft, wenn sie Fragen über die Familien und das Umfeld ihrer sieben Schützlinge