Anna-Irene Spindler

Schwingen des Adlers


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ungeheueren Aufprall des Greifvogels nach unten. Die krallenbewehrten Füße schlossen sich um seine Faust und den Unterarm, so dass er das Gefühl hatte in einen Schraubstock geraten zu sein. Der Druck der Krallen ließ erst nach, als der Vogel die Flügel angelegt hatte und mit dem rasiermesserscharfen, gelben Schnabel das Fleischstück aus der Faust des Mannes zerrte. Noch zwei weitere Brocken verschwanden in dem gekrümmten Adlerschnabel. Eine nur allzu verdiente Beute für einen Sturzflug aus tausend Metern Höhe. Dann war endlich Zeit für eine Begrüßung, wie sie zwischen zwei so alten Freunden wie Mark und Sam angemessen war.

      „Hallo, mein Junge“, flüsterte Mark und streichelte zärtlich über Kopf und Rücken des Steinadlers.

      Der Adler streckte seinen Schnabel nach vorn, knabberte vorsichtig an Marks Hemdkragen und rieb seinen Kopf an dessen Hals. Immer wieder strich Marks Hand über die braunen Rückenfedern des Vogels, die sich wie Seide anfühlten. Er kannte den Vogel seit dieser vor viereinhalb Jahren aus dem Ei geschlüpft war. Mit einer Pinzette hatte er damals dem kleinen, ziemlich hässlichen, weißen Flaumball beinahe rund um die Uhr winzige Hackfleischportionen in den nimmersatten Rachen gestopft. Sam hatte es ihm mit unzähligen Bissen seines winzigen, aber bereits teuflisch scharfen Schnabels gedankt, so dass seine Hand nach kurzer Zeit mit Kratzern übersät war.

      „Komm, lass los!“, schimpfte Mark.

      Sam riss ihn ziemlich abrupt aus seinen Gedanken, indem er den Mann ins Ohr zwickte, um ihn daran zu erinnern, dass die nächste Ration Fleischstücke fällig war. Lachend kramte er noch weitere Leckerbissen aus seiner Tasche, die genauso schnell den Weg in den Magen des Adlers fanden wie die vorherigen. Sam war wirklich ein Prachtexemplar. Das lag sicher daran, dass er von klein auf stets genügend Nahrung bekommen hatte. Und obwohl er jetzt schon über ein Jahr in Freiheit lebte, kam er regelmäßig bei Mark vorbei, um den einen oder anderen Nachtisch aus dieser kleinen Tasche, die niemals leer wurde, einzufordern. Entweder rief der Mann nach ihm, so wie heute, oder Sam ließ sich einfach auf dem alten Gatterzaun nieder und wartete bis Mark ihn bemerkte. Wenn das zu lange dauerte, konnte es schon manchmal vorkommen, dass er einfach zur Küchentüre marschierte und mit dem Schnabel anklopfte, um sich bemerkbar zu machen.

      Mark ließ sich wieder auf dem Felsen nieder und setzte den Vogel vorsichtig neben sich ab. Dieser schüttelte sich, legte dann seine Flügel wieder an und zupfte ein paar Federn in die richtige Position. Als er aber Anstalten machte mit dem Schnabel an der Gürteltasche zu zerren, schob Mark ihn energisch zur Seite.

      „Schluss jetzt, du Vielfraß! Du wirst viel zu fett.“

      Sam ließ einen heiseren Protestschrei hören, begnügte sich dann aber damit, mit stolz erhobenem Kopf starr geradeaus zu blicken. Marks Augen wanderten wieder über den Himmel.

      „Siehst du, da ist sie schon“, meinte Mark mit einem Seitenblick auf seinen Freund.

      Er stand auf und hielt den Arm vor sich. Diesmal hatte er einen kleinen Knochen in die Faust geklemmt. Obwohl der Vogel nicht im Sturzflug ankam, sondern in weiten Spiralen nach unten segelte, musste Mark seinen rechten Arm mit der linken Hand abstützen, um das Gewicht des landenden Geiers abfangen zu können. Daisy, das Bartgeier Weibchen, war nicht nur deutlich größer als Sam, sondern auch erheblich schwerer.

      „Hallo, mein Mädchen! Hübsch siehst du aus!“

      Tatsächlich waren Daisy’s Federn so gleichmäßig und ordentlich, dass sie beinahe künstlich wirkten. Ihr Gefieder schimmerte in hellen Brauntönen, zu denen die leuchtend weißen Kopffedern in deutlichem Kontrast stand. Die Federn, die am Schnabelansatz wie ein kleiner Bart nach unten standen waren kohlschwarz.

      Auch Daisy begrüßte ihren menschlichen Freund überaus liebevoll. Sie stocherte mit ihrem Schnabel in seinen Haaren, untersuchte seine Hemdknöpfe und steckte schließlich ihren Kopf in seinen Halsausschnitt und rieb ihren Hals an seiner nackten Haut. Nach dieser ausgedehnten Begrüßung setzte sich Mark wieder hin. Der Geier hüpfte von seiner Faust herunter und ließ sich links neben ihm nieder. Der Mann legte sich auf den Rücken. Er verschränkte die Arme hinter seinem Kopf. Daisy wanderte noch ein paarmal neben ihm auf und ab. Sie steckte ihren Kopf neugierig in sein Hosenbein und zupfte an seiner Weste. Als Mark nicht reagierte, stocherte sie mit ihrem Schnabel noch ein wenig in ihren Federn herum, um danach genauso bewegungslos dazusitzen und in die Ferne zu starren wie Sam.

      Erst als die Sonne bereits untergegangen war, erhob sich Mark und kletterte vom Felsen herunter. Er streckte die Hand nach oben und Sam flatterte auf seine Faust. Langsam ging er zu seinem Haus zurück. Daisy sah den Beiden einen Augenblick nach, so als ob sie überlegte, dann öffnete sie die Flügel, segelte ebenfalls vom Felsen herunter und marschierte sehr würdevoll hinter ihnen her.

      X.

       Hallo Maus!

       Ich weiß, ich habe Dir erst vor ein paar Tagen geschrieben und die beiden Briefe werden wahrscheinlich gleichzeitig bei Dir ankommen, aber es ist einfach so wichtig, dass ich es Dir unbedingt sagen muss, sonst platze ich. (Buh, ist das ein langer Satz!)

       Ich habe mich entschlossen es in Saas Gurin zu versuchen! Heute Nacht bin ich wachgeworden und habe mich auf den Rücken gedreht. Das Bett steht direkt neben einem Fenster, das von der Decke bis zum Boden reicht. Da habe ich die Sterne gesehen! Ich bin aufgestanden und auf den Balkon gegangen. Es war so unglaublich schön, dass man es mit Worten überhaupt nicht beschreiben kann. Keine Straßenlaterne, kein Reklameschild, kein Licht aus irgendeinem Fenster! Nichts! Kein Geräusch war zu hören. Es war so still, dass man meinen konnte, man wäre allein auf der Welt. Und über Allem das Leuchten der Sterne! Du wirst jetzt vielleicht über mich lachen, weil Du das in Afrika andauernd erlebst, aber für mich war das komplett neu. Dass es soetwas mitten in unserem dichtbesiedelten Europa geben kann, ist eigentlich unvorstellbar. Auf jeden Fall habe ich mich heute Nacht entschieden. Ich werde hierbleiben! Ob ich in einem halben Jahr, wenn der Schnee bis zur Dachrinne reicht und wir hier von der Außenwelt abgeschnitten sind, noch genauso denke, weiß ich nicht. Aber das ist mir im Augenblick auch egal! Ich will es auf jeden Fall versuchen!

       Ich bin mir nicht sicher, ob Du stolz auf mich bist, weil ich so spontan etwas Neues anfange oder ob Du ganz einfach an meinem Verstand zweifelst, weil ich aus einer quirligen Großstadt in ein Kaff ziehe, das die Welt anscheinend vergessen hat. Ich jedenfalls bin sehr stolz auf mich!

       In den nächsten vier Wochen werde ich vermutlich nicht dazu kommen Dir zu schreiben, aber vielleicht könntest ja Du zur Abwechslung mal einen Stift in die Hand nehmen.

       Ich hab’ Dich lieb!

       Sophia

      Sophia steckte den Brief in das Kuvert, schnappte sich ihre Handtasche und zog los, um eine Briefmarke zu besorgen. Die Frau in dem kleinen Laden, in dem sie heute morgen schon ihre Weggli geholt hatte, erklärte ihr, dass sie Postkarten und auch Briefmarken in der Tourist-Information kaufen könnte. Der Briefkasten wäre dort auch direkt daneben, an der Bushaltestelle.

      Mit beschwingten Schritten marschierte sie durch den Ort. Die Menschen, denen sie begegnete musterten sie neugierig. Da hier jeder jeden kannte, fiel ein neues Gesicht sofort auf. Sophia nahm es mit einem Schmunzeln zur Kenntnis. Um in München überhaupt eine Chance zu haben von seinen Mitmenschen wahrgenommen zu werden, musste man schon splitterfasernackt durch die Fußgängerzone spazieren. Und selbst das würde sicher nur der Hälfte der Passanten als etwas Ungewöhnliches auffallen.

      An der Tourist-Information wurde sie jedoch enttäuscht. Die Tür war abgesperrt und ein handgeschriebener Zettel mit einem Reißnagel daran befestigt. Nur mit äußerster Mühe konnte sie das Gekrakel entziffern.

      ‚Bin um 11:00 wieder da!‘ Sophia sah auf die Uhr. Es war kurz vor zwölf. Mit einem Seufzer drehte sie sich um. Eigentlich hatte sie überhaupt keine Lust, wegen einer Briefmarke nach Oberkirch hinunter zu fahren. Spontan entschloss sie sich ein bisschen spazieren zu gehen und nachmittags noch einmal vorbei zu kommen. Zuerst musste sie jedoch zurück zum Kindergarten, um festere Schuhe anzuziehen. Sie wandte sich zum Gehen, als eine Stimme hinter ihr ertönte: