Anna-Irene Spindler

Schwingen des Adlers


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Sophia musste sich unbedingt noch einmal vergewissern, ob Marie-Agnes sich im Klaren darüber war, was sie eben gesagt hatte.

      „Aber selbstverständlich ist das mein Ernst. Wenn du morgens ordentlich in den Spiegel schauen würdest, wüsstest du, dass du in deinem augenblicklichen Zustand eine echte Plage für deine Mitmenschen bist. Es wird Zeit, dass du etwas gegen deine schier unerträgliche Griesgrämigkeit tust. Soviel ich weiß, hast du sowieso noch ein paar Urlaubstage. Also red’ nicht lange herum! Setz dich in dein Auto und fahr los!“

      Wenn Marie-Agnes so richtig in Fahrt war, legte sie eine Bestimmtheit an den Tag, die schon beinahe diktatorische Züge hatte.

      „Ich kann doch nicht einfach so mir nichts dir nichts losfahren. Wie stellst du dir das vor?“

      Marie-Agnes zuckte mit den Schultern und meinte trocken:

      „Ganz einfach: Koffer auf, Kleider rein, Koffer zu! Los geht’s! Manche Menschen fahren ans Meer in den Urlaub. Du fährst nach Saas Gurin. Wo ist das Problem?“

      Sophia lachte schallend los. Soviel geballter Entschlossenheit konnte sie nicht widerstehen.

      „Na gut! Ich werde mir Donnerstag und Freitag frei nehmen und mich in der Schweizer Bergidylle umsehen. Wenn es im Sommer nur halb so schön ist wie im Winter werden es zumindest vier schöne Urlaubstage.“

      Die Ordensschwester strahlte über das ganze Gesicht.

      „Bravo, mein Mädchen! Das nenn ich aber mal jugendliche Entschlossenheit. Das grenzt ja schon fast an Spontanität!“

      Schwester Marie-Agnes begleitete sie, als sie bei der Oberin ihren Urlaub beantragte. Sie stand neben ihr, als sie Pfarrer Maierhofer in Oberkirch anrief und ihr Kommen ankündigte. Und auch an den folgenden beiden Tagen wachte sie mit Argusaugen über Sophia, damit diese ja nicht auf dumme Gedanken käme und vielleicht doch noch einen Rückzieher machen würde.

      Sie ließ es sich auch am Donnerstag in aller Frühe nicht nehmen, bei ihr vorbei zu kommen und ihr zum Abschied zu zuwinken, wie sie sagte. Wahrscheinlich wollte sie sich aber nur vergewissern, ob Sophia auch tatsächlich losfuhr.

      Der Verkehr hielt sich an diesem Julimorgen in Grenzen. Die LKWs auf der rechten Spur waren mittlerweile schon ein so fester Bestandteil der Autobahnen, dass sich Sophia über die nicht enden wollende Schlange gar nicht mehr aufregte.

      Sie hatte ihre Bryan-Adams-CD eingelegt und sang vergnügt die Lieder mit. Auch das war ein Laster, dem sie jetzt ohne Einschränkungen frönen konnte. Katie hatte immer über ihre äußerst dürftigen Sangeskünste gelästert und prophezeit, dass der Himmel anfangen würde zu weinen, sobald sie zu singen begann.

      Es war tatsächlich so, dass Sophia nach und nach immer mehr Dinge entdeckte, die sie aus Rücksicht auf ihre Tochter jahrelang gar nicht oder nur eingeschränkt getan hatte. Und mit einem Schlag überfiel sie ein Tatendrang und eine Unternehmungslust, wie sie sie seit Jahren nicht mehr verspürt hatte. Noch als sie heute Morgen in ihr Auto gestiegen und Schwester Marie-Agnes’ Gestalt im Rückspiegel immer kleiner geworden war, war sie fest davon überzeugt gewesen, dass es ein paar schöne Tage in den Bergen werden würden. Mehr nicht. Aber bei genauerem Hinsehen erschien es ihr gar nicht mehr so abwegig Alles umzukrempeln. In ihrem Leben hatte ein völlig neuer Abschnitt begonnen. Da war es eigentlich vollkommen normal, dies auch durch äußere Veränderungen zu dokumentieren.

      Ihre Gedanken wanderten weiter. Pfarrer Maierhofer hatte geschrieben, dass eine möblierte Wohnung mietfrei zur Verfügung stünde. Es würden also keinerlei Kosten für Neuanschaffungen auf sie zukommen.

      Ihre Nichte Martina, die sich an der Uni in München eingeschrieben hatte, war sowieso gerade auf Wohnungssuche. Martina könnte die Wohnung in der Vivaldistraße übernehmen. Auf die Art bräuchte Sophia nicht zu kündigen, die Möbel nicht zu verkaufen und wenn es in Saas Gurin doch nicht so das Wahre wäre, könnte sie ohne große Probleme wieder zurück kommen.

      Sie stellte die Musik noch eine Spur lauter, schaute in den Außenspiegel, setzte den Blinker und fuhr auf die Überholspur.

      Sie war bereit. Das Abenteuer konnte beginnen!

      VIII.

      Pfarrer Maierhofer hatte offensichtlich schon sehnsüchtig auf sie gewartet. Kaum hatte sie ihr Auto vor dem Pfarrhaus geparkt, riss er bereits die Haustür auf und kam ihr mit strahlendem Gesicht entgegen.

      „Ach Frau Römer, Sie können sich überhaupt nicht vorstellen, wie sehr ich mich freue Sie zu sehen!“

      Er nahm ihre Hand und schüttelte sie so heftig, dass sie schon befürchtete, ihr Arm würde jeden Augenblick abfallen.

      „Kommen Sie herein, ich möchte Ihnen meine Sekretärin Anna vorstellen.“

      Als sie gemeinsam das Pfarrbüro betraten, wartete die Sekretärin bereits auf sie. Sie trug ein Tablett mit drei Sektgläsern und strahlte ebenfalls über das ganze Gesicht.

      „Schön, dass Sie da sind! Ich bin Frau Berger. Aber sagen Sie einfach Anna zu mir. Das macht jeder in der Gemeinde so. Wann immer Sie Fragen oder Probleme haben können Sie zu mir kommen.“

      Sophia, die bisher noch kein einziges Wort gesagt hatte, war überwältigt von diesem herzlichen Empfang.

      Sie nahm ein Sektglas und meinte:

      „Danke schön für Ihre Einladung und diesen netten Empfang. Mit soviel Herzlichkeit bin ich noch nie begrüßt worden.“

      Nachdem sie einen Schluck getrunken hatte, bat der Pfarrer sie in sein Büro zu kommen.

      „Sie haben mir am Telefon zugesagt, dass Sie sich um eine Unterkunft für mich kümmern würden. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich mich gerne umziehen, bevor wir uns über nähere Einzelheiten unterhalten.“

      Ein schuldbewusster Ausdruck huschte über das Gesicht des Pfarrers. „Entschuldigen Sie Frau Römer, dass ich nicht selbst daran gedacht habe. Es ist nur so...“ Er stockte kurz und fuhr dann um so eifriger fort:

      „Ich habe kein Zimmer in einem Hotel für Sie gebucht. Anna und ich waren der Meinung, dass Sie vielleicht gerne die Wohnung ausprobieren möchten, die extra für die Erzieherin in Saas Gurin eingerichtet worden ist. Wir dachten uns, dass Sie sich so am besten ein Bild von dem machen können, was Sie erwartet. Anna hat alles saubergemacht und hergerichtet. Ich hoffe, das ist Ihnen recht so.“ Beinahe ängstlich wartete er auf ihre Reaktion.

      Sophia, die gehofft hatte, sich die Wohnung in aller Ruhe anschauen zu können, war begeistert.

      „Aber selbstverständlich. Ich finde es sehr nett von Ihnen, dass Sie daran gedacht haben.“

      Man merkte dem guten Pfarrer seine Erleichterung deutlich an, als er Sophias sichtliche Begeisterung sah.

      „Dann ist es doch das Beste, wenn wir uns gleich auf den Weg nach Saas Gurin machen. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, fahre ich bei Ihnen im Auto mit“, schlug Pfarrer Maierhofer vor.

      Sein Gesicht strahlte vor Freude, als Sophia mit einem „Aber gerne!“ zustimmte.

      Während der Pfarrer noch allerlei Unterlagen in seiner Aktentasche zusammenpackte, verabschiedete sich Sophia von seiner Sekretärin.

      „Ich bin sicher es wird Ihnen dort oben gefallen“, meinte Anna Berger herzlich, schüttelte ihr die Hand und gab ihr einen kleinen Zettel.

      „Ich habe Ihnen die Telefonnummer des Pfarramtes und auch meine Privatnummer aufgeschrieben. Wenn Sie irgend etwas brauchen oder noch Fragen haben, rufen Sie einfach an.“

      Sophia nahm den Zettel und nickte dankbar. Sie hatte die Pfarrsekretärin, die sie in ihrer freundlichen und hilfsbereiten Art sehr an Schwester Marie-Agnes erinnerte, sofort ins Herz geschlossen.

      Sophia stieg in ihr Auto und der Pfarrer ließ sich auf dem Beifahrersitz nieder. „Wollen Sie sich zuerst Oberkirch noch ein wenig anschauen?“

      „Ach, wenn es nichts ausmacht,