Anna-Irene Spindler

Schwingen des Adlers


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lebenstüchtigen, selbständigen Menschen zu machen. Das ist mir ja wohl gelungen. Und was jetzt?“

      „Das ist doch ganz einfach!“

      Marie-Agnes stand auf, nahm Sophias Hand und umschloss sie mit ihren beiden Handflächen.

      „Du musst dir ein neues Ziel, einen neuen Lebensinhalt suchen. Du hast dein Leben bisher mit Bravour gemeistert und das war wirklich alles andere als einfach. Du bist noch jung. Schneller als du denken kannst werden neue Aufgaben und Herausforderungen auf dich zukommen.“

      „Meinst du?“ Die Skepsis war mehr als deutlich aus Sophias Frage heraus zu hören.

      „Ja das meine ich! Kannst einer alten Frau ruhig auch mal etwas glauben“, sagte die Ordensschwester mit einer Bestimmtheit in der Stimme, die jeden aufkommenden Zweifel an ihren Worten im Keim erstickte.

      V.

      Mark zog die Tür der Berghütte hinter sich zu und seufzte erleichtert.

      Warum nur mussten die Menschen immerzu plappern?

      Seit sie heute Morgen Saas Gurin verlassen hatten, hatte ständig irgendeiner seiner Schützlinge geredet. Sobald der Eine fertig war, hatte der Nächste angefangen. Pausenlos!

      Und am schlimmsten war Josi, die Journalistin!

      Er hatte sich seiner Gruppe noch gar nicht richtig vorgestellt, da hatte sie ihm freudestrahlend die Hand geschüttelt und ihm mitgeteilt, dass ihr Name Johanna Schiller wäre, sie Josi aber wesentlich passender fände und sich im Übrigen wahnsinnig freue ihn kennenzulernen und absolut sicher wäre, dass sie zwei gaaaanz tolle Tage verleben würden.

      Das alles hatte sie gesagt, ohne auch nur ein einziges Mal Luft zu holen. Es war schon irgendwie beeindruckend! Vermutlich wurde sie in ihrem Job nach der Anzahl der Wörter bezahlt, die sie im Laufe eines Monats von sich gab. Dann war sie auf jeden Fall die bestbezahlte Person weltweit!

      Einige Schritte von der Hütte entfernt ließ er sich auf einem großen Felsbrocken nieder. Er streckte sein rechtes Bein aus und bewegte es vorsichtig hin und her. Während des Aufstiegs hatten ihn zwischendurch so fürchterliche Wadenkrämpfe geplagt, dass er nahe daran gewesen war, wieder umzukehren. Aber der Gedanke an Thomas’ hämisches Grinsen und sein ‚Hab ich dir doch gleich gesagt!‘ hatten seinen müden Beinen jedes Mal wieder neuen Schwung verliehen.

      Jetzt war er zwar rechtschaffen müde, aber es machte sich doch eine gewisse Genugtuung in ihm breit. Er hatte das selbstgesteckte Ziel erreicht. Es war aber trotzdem ein Jammer, wie schnell er seine Fitness eingebüßt hatte. Ein richtiges Weichei war aus ihm geworden!

      Vor seinem Unfall im Dezember war er topfit gewesen. Aber dem langen Untätigsein während des Winters musste er jetzt Tribut zollen.

      Mark lächelte versonnen vor sich hin, während er sein Bein massierte. Eigentlich hatte er überhaupt keinen Grund unzufrieden mit sich zu sein.

      Als er sich zum ersten Mal mit dem Chirurgen, der ihn zusammengenagelt hatte, unterhalten konnte, erzählte ihm dieser etwas von einer mindestens sechsmonatigen Heilungs- und Erholungsphase. Aber bereits nach zwei Wochen, sein Bein war noch von einer monströsen Gipsschiene umgeben, hatte er schon Übungen mit dem Theraband gemacht. Er wollte seine Schultermuskulatur so stärken, dass er trotz des verletzten Schlüsselbeins und der maladen Rippen Krücken benutzen konnte.

      Als er dann endlich nach Hause durfte, bestand er auch darauf, dass Thomas’ Frau Gina nur die Einkäufe für ihn erledigte. Alles Andere wollte er von Anfang an selbst machen. Er musste immer noch schmunzeln, als er an den heftigen Streit zurück dachte, den er darüber mit Thomas hatte. Dieser war tatsächlich fest entschlossen gewesen, bei ihm einzuziehen, um ihn rund um die Uhr zu bemuttern.

      Er schüttelte sein Bein aus, setzte sich wieder aufrecht hin und atmete tief die reine Luft ein. Ja, es war ein tolles Gefühl, wieder auf einem Berg zu sitzen - wenn es auch kein allzu hoher war - und zu wissen, dass man auf seinen eigenen zwei Beinen hinaufgestiegen war.

      Sein Blick wanderte hinauf zum Himmel. Über den Bergen im Osten glänzten die ersten Sterne. Kein Laut war zu hören. Sogar das Gemurmel der Touristengruppe, das selbst durch die geschlossene Hüttentür noch bis zu ihm gedrungen war, war verstummt.

      Ruhe und Frieden lagen über der Natur.

      Ruhe und Frieden herrschten auch in seinem Inneren.

      Er hatte das Gefühl, beinahe so etwas Ähnliches wie Glück zu empfinden.

      Ja, tatsächlich! Verwundert nahm er es zur Kenntnis.

      Niemals hätte er es für möglich gehalten, je wieder so fühlen zu können.

      Er war glücklich! Glücklich darüber, dass er wieder gesund war. Dass er wieder auf einem Berg stehen und die klare, reine Luft atmen konnte.

      Mit Schaudern dachte er daran zurück, wie bereitwillig er das Alles einfach wegwerfen wollte und nur ein gnädiges Schicksal ihn am Leben erhalten hatte. Vollkommen unsinnig, ja beinahe schon frevelhaft, kam ihm jetzt im Nachhinein die Enttäuschung vor, die er empfunden hatte als er im Krankenhaus aufgewacht war und festgestellt hatte, dass er noch am Leben war. Zum Glück hatte er diesen Lebensüberdruss endlich hinter sich gelassen. Und wer weiß, vielleicht würde sich ja auch dauerhaft wieder so etwas wie Lebensfreude einstellen.

      Er wollte gerade aufstehen, als er hinter seinem Rücken ein Geräusch hörte. Mark drehte sich um.

      „Ich dachte, Sie schlafen schon?“

      Im Dunkeln erkannte er Josi Schiller. Sie war aus der Hüttentür getreten und kam jetzt langsam zu ihm herüber.

      „Ich kann nicht schlafen. Es ist alles so ungewohnt hier. So still und ruhig, fast unheimlich“, antwortete sie und ihre Stimme zitterte leicht.

      „Sie sollten einfach im Schlaf reden, dann hören Sie die Stille nicht“, schlug er ihr vor.

      Ein ironisches Grinsen huschte über sein Gesicht, während er sie musterte.

      Josi war eine durchaus ansehnliche Person. Ihre weinrot gefärbten Haare waren kurz geschnitten und am Hinterkopf hochtoupiert. Ihre kurzärmelige, weiße Bluse war am Bauch verknotet. Da sämtliche Knöpfe offen waren, konnte er deutlich erkennen, dass sie keinen BH trug. Trotz der kühlen Nachtluft hatte sie immer noch ihre khakifarbenen Shorts an. Die fingen ein ganzes Stück unterhalb des Nabels an und waren so weit hochgekrempelt, dass sie kaum eine Hand breit über den Po reichten. Ihr sportives Survival-Outfit wurde von schicken Trekkingstiefeln komplettiert, die bestimmt sündteuer waren.

      „Es ist nicht nett von Ihnen, sich über mich lustig zu machen. Ich kann doch nichts dafür, dass ich so viel Ruhe nicht gewöhnt bin.“

      Sie zog einen Schmollmund und setzte sich neben ihn auf den Stein, der eigentlich für zwei Personen viel zu schmal war. Das schien Josi aber überhaupt nicht zu stören. Im Gegenteil! Sie presste sich eng an ihn, legte ihren Kopf an seine Schulter und ihre Hand auf seinen Oberschenkel.

      „Aber wie wäre es, wenn wir die Zeit nutzen um uns ein wenig näher zu kommen?“ Ihre Stimme klang samtweich. Sie erinnerte Mark an das Schnurren einer Katze.

      Josi hob ihren Kopf und sah ihn an. Ihre Lippen waren leicht geöffnet. Selbst in der Dunkelheit konnte er das Blitzen ihrer weißen Zähne sehen. Ihre Blicke trafen sich und Mark stellte mit einer geradezu analytischen Nüchternheit fest, dass er absolut nichts fühlte. Weder ihr verführerischer Blick noch ihr zugegebenermaßen überaus attraktiver Körper, dessen Wärme er durch sein Hemd hindurch fühlen konnte, riefen irgendeine Reaktion bei ihm hervor.

      Er nahm ihre Hand, die zärtlich an der Innenseite seines Schenkels entlang strich, schob sie beiseite, stand auf und sagte:

      „Danke für das nette Angebot, aber ich habe kein Interesse. Im Übrigen wollen wir morgen ziemlich früh wieder weiter. Sie sollten also doch versuchen zu schlafen. Gute Nacht, Josi! Bis morgen!“

      Ohne sich weiter um die Frau, die ihn mit versteinerter Miene