Anna-Irene Spindler

Schwingen des Adlers


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      Auch die Art wie Thomas Anninger auf ihre Frage geantwortet hatte, war sehr seltsam. Es klang so, als wäre er selbst nicht davon überzeugt gewesen.

      „Na, was soll’s!“ Sophia zuckte mit den Schultern.

      Auf jeden Fall war heute für sie der aufregendste Tag seit mindestens zehn Jahren gewesen. So etwas hätte sie in Tunesien bestimmt nicht erlebt. Zumindest hätte sie dort niemanden aus einer Schneelawine buddeln müssen. Und nachdem ihr Erlebnis ja letztendlich so glimpflich abgelaufen war, konnte sie es auch ohne Gewissensbisse in die Kategorie ‚aufregende Urlaubsabenteuer‘ abheften, von denen man zu Hause stolz erzählen konnte. Sophia streckte ihre bandagierte Hand aus. Mit den Fingerspitzen fing sie eine der vorbeischwebenden Schneeflocken auf. Sie sah zu, wie sich das zarte Gebilde in kürzester Zeit wieder in Wasser verwandelte und nur Tropfen zurückblieben. Sie hatte plötzlich das Gefühl, als spüre sie wieder den Puls des Mannes an ihren Fingerspitzen. Da wurde ihr bewusst, dass es fünfzehn Jahre her war, seit sie zum letzten Mal den Herzschlag eines Mannes auf ihrer Haut gespürt hatte. Und mit einem Schlag war es wieder da, dieses grenzenlose Gefühl des Verlassenseins und der Einsamkeit. Nach Stefans Tod hatte sie es eine so unglaublich lange Zeit mit sich herumgetragen, dass sie manchmal geglaubt hatte, sie würde es niemals wieder los werden. Es war zwar irgendwann, als sie selbst schon nicht mehr damit gerechnet hatte, allmählich erträglicher geworden und ihre Lebensfreude war nach und nach wieder zurückgekehrt. Doch ab und zu war es, wie aus heiterem Himmel, wieder da und erinnerte sie daran, wie allein sie war. Dann half auch der Gedanke an ihre Tochter Katie nicht mehr weiter. Das Gefühl des Alleinseins war dann so übermächtig, dass es ihr fast körperliche Schmerzen bereitete.

      Ein Schauer überlief sie. Fröstelnd presste sie die Arme an ihre Brust und versuchte krampfhaft dieses so unerwartet aus der Vergangenheit aufgetauchte Schreckgespenst zu verjagen. Noch hatte sie schließlich einen Tag Urlaub. Den wollte sie sich auf keinen Fall mit trüben Gedanken selbst vermiesen. Sie atmete tief die kalte Nachtluft ein.

      ‚Morgen werde ich mir zum Abschluss noch einmal eine Massage gönnen‘, beschloss sie spontan, ging zurück in ihr Zimmer und zog die Balkontür mit einer energischen Bewegung hinter sich zu.

      III.

      Ein dicker Spatz landete auf dem dünnen, elastischen Zweig der Birke. Der bog sich unter dem Gewicht weit nach unten und wippte auf und ab. Der Vogel verlor das Gleichgewicht und flatterte so knapp über den Kopf des Mannes davon, dass dieser den Luftzug der kleinen Flügel spüren konnte. Mark hob kurz den Kopf und sah dem ungeschickten, kleinen Flieger nach, ehe er sich wieder bückte um seinen Wanderstiefel zuzuschnüren. Danach hob er seinen Rucksack auf, schulterte ihn und schnallte ihn über der Hüfte fest.

      Er war froh, dass es endlich wieder los ging. Die vergangenen vier Monate hatten ihn fast um den Verstand gebracht.

      Mark sperrte die Haustür ab, steckte den Schlüssel in die Innentasche seiner Daunenweste und zog den Reißverschluss zu. Es war kurz nach sechs Uhr und noch empfindlich kalt, obwohl der Himmel schon strahlend blau war. Die Morgensonne tauchte die Spitzen der schneebedeckten Berge in gleißendes Licht. Jetzt Ende April war der Schnee im Dorf bis auf einige wenige schmutzige Haufen verschwunden. Das schmuddelige Graubraun der Wiesen verwandelte sich da und dort schon in ein zartes Hellgrün.

      Mit langsamen, bedächtigen Schritten ging er quer über seinen geschotterten Hof zu der schmalen geteerten Straße, die ins Dorf führte. Sein Haus lag am Ortsrand. Bis zur Tourist-Information, die auch gleichzeitig als Bergwacht-Station diente, waren es gut fünfhundert Meter.

      Die Gruppe schien noch nicht da zu sein. Also schnallte er seinen Rucksack ab und lehnte ihn an die Außenwand. Schwungvoll öffnete er die dunkle Holztür. Mit einem gut gelaunten „Guten Morgen! Ist der Kaffee fertig!“ trat er ein. „Komm rein mein Junge! Er wartet schon auf dich!“, kam eine tiefe Stimme aus dem Hintergrund.

      Thomas Anninger schüttete Kaffee aus einer Kanne in eine Tasse und hielt sie ihm hin.

      „Schön dich wieder hier zu haben, Mark“, sagte er und nahm einen großen Schluck Kaffee aus seiner eigenen Tasse.

      „Ja, ich bin auch froh, dass dieses Herumlungern und Faulenzen endlich vorbei ist.“

      „Ein bisschen blass bist du noch um die Nase. Bist du sicher, dass du dir nicht zu viel zumutest?“

      „Ich denke nicht. Seit Anfang Februar habe ich jeden Tag Krafttraining gemacht. Wenn sogar der Krankengymnast mit mir zufrieden ist, will das schon was heißen“, erwiderte Mark.

      „Das kann schon sein. Aber Training an der Hantelbank und auf dem Laufband ist etwas anderes als eine Zwei-Tages-Tour über holprige, unebene Bergpfade.“ Thomas sah ihn eindringlich an.

      „Willst du es dir nicht doch noch einmal überlegen? Ich kann die Tour übernehmen. Das ist kein Problem für mich.“

      „Unsinn! Schenk mir lieber noch einen Kaffee ein“, sagte Mark und streckte seinem Gegenüber die leere Tasse hin. „Die Strecke zur Niederwaldhütte ist doch nicht weiter anspruchsvoll. Die Anstiege sind so gemächlich, da kommt jeder Opa aus dem Altersheim noch hinauf. Und der Abstieg über die Reiteralm führt fast ausschließlich über Bergwiesen. Da kann auch nicht viel passieren.“ „Wenn du meinst! Du musst es selbst wissen. Alt genug bist du ja.“

      Thomas gab sich geschlagen. Wenn Mark sich etwas in den Kopf gesetzt hatte konnte ihn Nichts und Niemand davon abbringen. Das wusste er nur zu genau. Er sah zu seinem Freund hinüber. Die tiefe Sonnenbräune, die Mark sonst das ganze Jahr über zur Schau trug, war einer fahlen Blässe gewichen. Auch seine blonden Haare, oben am Scheitel von der Sonne normalerweise fast weiß gebleicht, waren ziemlich nachgedunkelt. So fielen auch die grauen Haare, die sich an den Schläfen eingeschlichen hatten, deutlich auf. Thomas hatte den Eindruck, dass in den Wintermonaten einige neue hinzu gekommen waren. Trotzdem war Mark Suttner ohne Zweifel ein wirklich gut aussehender Mann. Mit seinen einundvierzig Jahren war er auch nach dieser viermonatigen Zwangspause so fit, dass er ohne weiteres mit jedem Fünfundzwanzigjährigen konkurrieren konnte. Nur die beiden steilen Falten zwischen den Augenbrauen und die tiefen Furchen neben den Mundwinkeln, die trotz des Dreitagebartes noch gut sichtbar waren, gefielen Thomas gar nicht.

      ‚Er hatte den Winter über viel zu viel Zeit zum Grübeln‘, ging es ihm durch den Kopf.

      Vielleicht war es ja tatsächlich das Beste wenn Mark endlich wieder unterwegs war. Mit einem Haufen schnatternder Touristen im Schlepptau hatte man keine Zeit zum Nachdenken.

      „He! Was geht dir denn schon wieder durch den Kopf? Vergiss es einfach! Du kannst mich nicht umstimmen.“

      Marks hellblaue Augen ruhten mit einem amüsierten Blick auf seinem Freund, der ihn so nachdenklich anstarrte, dass er sich wie ein Frosch auf dem Seziertisch vorkam. Obwohl Thomas nur fünf Jahre älter war, behandelte er Mark oft wie einen kleinen Jungen, den man nicht aus den Augen lassen durfte. „Sag mir lieber, was das heute für eine Gruppe ist.“

      Thomas ging hinüber zum Tresen der Tourist-Information, öffnete einen Ordner und holte einen Zettel heraus.

      „Es sind sieben Personen. Vier Männer und drei Frauen. Es sind lauter unterschiedliche Namen. Offensichtlich gehören sie nicht zusammen, obwohl man heutzutage nach den Namen ja nicht mehr gehen kann. Eine Journalistin ist dabei. Sie hat uns in einem Brief mitgeteilt, dass sie Berichte für Frauenzeitschriften schreibt. Anscheinend testet sie Urlaubsgebiete auf ihre Tauglichkeit als Ziele für alleinreisende Frauen. Von den Anderen weiß ich nichts.“

      „Oh je! Das ist bestimmt wieder so eine Pseudoemanze. Eine von der Sorte, die bei jeder Gelegenheit erwähnen, wie wunderbar sie ohne Mann klarkommen. Und am Ende erwarten sie doch, dass man sie über jede Pfütze trägt. Das kann ja heiter werden.“

      „Kann es sein, dass du gewisse Vorurteile gegenüber gewissen Frauen hast?“ Thomas’ Worte trieften vor Sarkasmus.

      „Du weißt doch: Vorsicht ist besser als Nachsicht“, antwortete Mark und grinste seinen Freund an.

      Plötzlich