Anna-Irene Spindler

Schwingen des Adlers


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Ganz so harmlos ist es nun auch nicht“, unterbrach ihn der Arzt. „Er hat fünf gebrochene Rippen. Es grenzt beinahe an ein Wunder, dass die Lunge nichts abbekommen hat. Außerdem wären da noch das gebrochene Schlüsselbein und eine üble Gehirnerschütterung zu nennen. Die Risswunde reicht von der Wange bis über den halben Kopf und seinen Unterschenkel haben Sie ja selbst gesehen. Der wird momentan im Operationssaal zusammengenagelt. Es wird wohl Einiges an Metall benötigt um das wieder hinzubekommen. Er hat unheimliches Glück gehabt.“

      „War ziemlich nahe dran, nicht wahr?“ Fragend schaute Sophia den Arzt an. „Das kann man wohl sagen“, antwortete er mit ernstem Gesicht.

      „So das hätten wir.“ Zufrieden betrachtete der Arzt sein Werk. „Ich gehe einmal davon aus, dass ihre letzte Tetanus-Impfung noch nicht länger als zehn Jahre zurückliegt.“

      Er schaute über die Schulter zu Sophia während er sich die Hände säuberte. „Die Auffrischung ist vor zwei Jahren gemacht worden“, antwortete sie eifrig. „So ist’s brav. Das höre ich gerne.“ Er grinste sie an. „In zwei Tagen kommen Sie noch einmal zum Verbandwechseln vorbei.“

      Bedauernd schüttelte Sophia den Kopf: „Das wird nicht gehen. Da bin ich bereits auf dem Weg nach Hause. Mein Zug geht um kurz nach zehn Uhr. Da reicht die Zeit einfach nicht mehr um vorher noch vorbei zu kommen.“

      „Dann gehen Sie eben zu Ihrem Hausarzt. Aber ja nicht vergessen“, mahnte er sie.

      „Bestimmt nicht“, versprach Sophia und fügte noch hinzu „Wie wollen wir es mit der Abrechnung machen? Ich könnte Ihnen morgen meine Versicherungskarte vorbei bringen.“

      Der Arzt winkte lächelnd ab: „Das ist nicht nötig. Betrachten Sie es einfach als kleines Dankeschön für Ihre heutige Heldentat.“

      Er streckte ihr die linke Hand entgegen. „Alles Gute! Ich hoffe wir sehen uns einmal wieder!“

      Sophia reichte ihm ebenfalls die linke Hand. „Auf Wiedersehen! Und vielen Dank für den schicken Verband.“

      „Sie haben sich heute nachmittag da draußen richtig gut verhalten“, lobte sie Thomas Anninger, während sie nebeneinander den Gang entlang gingen. „Nicht nur dass Sie sofort Hilfe angefordert haben, sondern auch wie besonnen Sie danach vorgegangen sind. Das war toll!“

      Er warf Sophia einen anerkennenden Blick zu. Gleichzeitig musterte er die Frau an seiner Seite ein wenig genauer. Ihre schulterlangen, leicht gewellten Haare waren ziemlich zerzaust. Sie hatten den Farbton von altem Mahagoniholz. Am Scheitel glitzerten vereinzelt ein paar graue Haare. Ihr Gesicht war bei Weitem nicht so braungebrannt wie sein eigenes, aber sie sah überhaupt nicht nach bleichgesichtigem Stubenhocker aus. Die Fältchen in den Augenwinkeln sagten ihm, dass er keinen Teenager mehr vor sich hatte. Er schätzte sie auf Mitte dreißig.

      „Ich bin Erzieherin in einem Kindergarten, der von Klosterschwestern betrieben wird. Die sind da sehr genau was die Sicherheit der Kinder anbelangt. Wir müssen alle einmal im Jahr an einem zweitägigen Erste-Hilfe-Kurs für Kinder teilnehmen. Da erfährt man zwar nichts über Lawinenunfälle, aber das Verhalten bei Knochenbrüchen, Kopf- und Wirbelsäulenverletzungen, stabile Seitenlage und so weiter bekommt man dort schon beigebracht. Und so groß ist der Unterschied zwischen einem Kind und einem Erwachsenen ja auch wieder nicht.“

      Sophia blieb stehen und sah ihm in die Augen.

      „Halten Sie mich jetzt bitte nicht für neugierig. Aber da Sie den Verunglückten offensichtlich zu kennen scheinen, würde mich jetzt doch interessieren, wer er eigentlich ist.“

      „Mark Suttner ist mein bester Freund!“

      Alles hatte Sophia erwartet, aber das sicher nicht. „Er kommt hier aus der Gegend?“ Die Verblüffung stand ihr im Gesicht geschrieben.

      „Ja! Mark kommt aus Saas Gurin, genau wie ich auch.“ Als er die Falten auf ihrer Stirn sah, fügte er erklärend hinzu: „Ungefähr zwei Kilometer außerhalb von Oberkirch geht es in ein Seitental hoch.“

      Sophia überlegte kurz und nickte dann.

      „Mark und ich kennen uns schon seit wir kleine Jungs waren. Er ist auch bei der Bergwacht. Und außerdem ist er der beste Bergführer weit und breit.“

      „Das ist aber komisch“, erwiderte Sophia. „Mein erster Gedanke heute Nachmittag war, dass es sich um einen leichtsinnigen, jungen Touristen handeln müsste. Im ganzen Ort stehen die Tafeln mit den Lawinenwarnungen herum. Wie kommt es, dass ein erfahrener Bergführer, der ja soweit ich das erkennen konnte auch kein Jungspund mehr ist, bei einem solchen Wetter in dieser Steilwand unterwegs ist?“ Fragend schaute sie ihren Gegenüber an.

      Er antwortete nicht sofort. Der Mann von der Bergwacht sah sie prüfend an und schien angestrengt zu überlegen.

      „Tja... Ich weiß auch nicht so recht... Ich bin mir nicht sicher... Ich denke er hat möglicherweise die Situation falsch eingeschätzt“, sagte er, ohne sie dabei anzusehen. Das Ganze klang ziemlich holprig.

      Obwohl Sophia sicher war, dass es nicht das war, was er eigentlich sagen wollte, nickte sie und meinte: „Ja, das wird es wohl gewesen sein.“

       Thomas Anninger sah sie mit einem leisen Lächeln an. Er schien sichtlich erleichtert zu sein, dass sie keine weiteren Fragen stellte.

      „Auf jeden Fall bin ich ihnen unendlich dankbar für das, was Sie heute getan haben. Sie haben ihm das Leben gerettet! Es wären möglicherweise viele Stunden vergangen, ehe man sein Verschwinden bemerkt hätte.“

      Er zögerte kurz und fuhr dann fort: „Wenn er wieder auf den Beinen ist, wird er sich bestimmt persönlich bei Ihnen bedanken.“

      Sophia legte ihre gesunde Hand auf seinen Arm.

      „Hören Sie! Ich möchte das nicht. Was ich getan habe war selbstverständlich. Jeder Andere hätte das auch getan. Ich will nicht, dass er das Gefühl hat, er schulde mir etwas. Tun Sie mir einen Gefallen und erzählen ihm nichts von mir. Sie können ihm ja von mir aus sagen, dass irgend jemand das Ganze beobachtet und per Handy die Bergwacht verständigt hat. Aber sagen Sie nicht wer es war und auf gar keinen Fall wo ich wohne. Und es wäre furchtbar nett, wenn Sie das auch dem Krankenhauspersonal plausibel machen könnten. Werden Sie das für mich tun?“ Bittend schaute sie ihn an.

      „Na gut! Wenn es das ist, was Sie wollen. Von mir wird er nichts erfahren. Und das mit den Anderen kläre ich auch“, versprach er ihr.

      Inzwischen waren sie bei der gläsernen Eingangstür des Krankenhauses angelangt. Sophia gab ihm seine Jacke mit einem Dankeschön zurück. Er fasste sie bei den Schultern, zog sie zu sich heran und küsste sie auf beide Wangen. „Es war mir eine Ehre Sie kennengelernt zu haben“, sagte er. „Ich hoffe wir sehen uns einmal wieder.“

      „Auf Wiedersehen“, flüsterte Sophia, zog ihre eigene Jacke an und stieg in eines der wartenden Taxis. Thomas Anninger öffnete die Beifahrertür.

      „Bringen Sie die Dame gut nach Hause. Die Fahrtkosten übernimmt die Bergwacht. Schicken Sie die Abrechnung in die Zentrale.“

      Er warf die Tür wieder zu und das Taxi fuhr los.

      „Wohin soll es denn gehen?“ Fragend sah der Fahrer in den Rückspiegel.

      „Nach Oberkirch. Zum Hotel Almrose“, antwortete Sophia und lehnte ihren Kopf gegen die Nackenstütze.

      Sophia öffnete die Glastür und trat auf den Holzbalkon hinaus. Auf der Brüstung lag der Schnee fast zwanzig Zentimeter hoch. Der zusammengeklappte Sonnenstuhl war vollkommen zugeschneit. Es sah aus als wäre er in Styropor verpackt. Dicke Schneeflocken schwebten noch immer langsam, aber stetig zu Boden, genauso wie am Nachmittag, als sie spazierengegangen war. Sie schüttelte den Kopf und schmunzelte. Es war schon verrückt, dass sie ausgerechnet zur gleichen Zeit dort unterwegs sein musste, wie dieser leichtsinnige Skifahrer.

      Wie hatte der Mann von der Bergwacht doch gleich gesagt?

      ‚Mark Suttner ist mein bester Freund.... Er ist der beste Bergführer weit und