Anna-Irene Spindler

Schwingen des Adlers


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entfuhr es ihr, als sie unter ihren Fingerspitzen einen kräftigen Herzschlag spürte.

      Sie kratzte den Schnee rund um den Kopf beiseite und versuchte ihn auch so vorsichtig wie möglich aus dem Gesicht zu entfernen. Auf der Wange, die zum Vorschein kam, war der dunkle Schatten eines Drei-Tage-Bartes zu sehen. Irgendwie war es Sophia von Anfang an klar gewesen, dass es sich um einen Mann handeln musste. Nur Männern konnte ein solcher Blödsinn einfallen, bei so gefährlichen Verhältnissen mit den Tourenskiern unterwegs zu sein.

      Diese Seite des Kopfes schien unverletzt zu sein. Sie beugte sich nach vorn um das ganze Gesicht sehen zu können. Da bemerkte sie, dass der Schnee unter der anderen Wange nicht mehr weiß sondern rot war. Wieder stieg Panik in ihr hoch. Krampfhaft versuchte sie sich an all das zu erinnern, was sie in den Erste-Hilfe-Kursen, die sie jedes Jahr besuchen musste, immer wieder eingetrichtert bekommen hatte. Sie stieß die Luft hörbar aus und schluckte ein paar Mal, um den Kloß in ihrem Hals loszuwerden. Dann machte sie sich ans Werk.

      Zuerst entfernte sie den Schnee auch rund um seine Schultern. So konnte sie sehen, ob der Kopf möglicherweise eine unnatürliche Stellung hatte. Dies war nicht der Fall. Als sie beim Wegschieben des Schnees an die rechte Schulter des Mannes stieß, spürte sie ein leichtes Zucken. Da war also etwas nicht in Ordnung. Unbeirrt und zielstrebig arbeitete sie weiter. Sie hatte ihre Panik überwunden und ihre Gedanken waren jetzt vollkommen klar. Stück für Stück grub sie ihn aus dem Schnee heraus. Sie musste mit bloßen Händen arbeiten. Ihre Handschuhe, die sie zum Telefonieren ausgezogen und in die Jackentasche gestopft hatte, waren anscheinend verloren gegangen, als sie sich durch den Schnee gekämpft hatte. Ihre Hände waren zwar bereits nach kurzer Zeit völlig gefühllos, aber dafür merkte sie auch nichts mehr von dem Schnitt in der Handfläche.

      Als sie seine Beine freilegte, stieß sie wieder auf blutgetränkten Schnee. Am rechten Bein war die Skihose vom Knie abwärts zerrissen. Blut sickerte zwischen den Fetzen heraus und schmolz einen immer tiefer werdenden roten Krater in den weißen Schnee.

      „Sei mir bitte nicht böse, aber ich muss jetzt unbedingt etwas probieren.“ Obwohl sie wusste, dass er sie nicht hören konnte, hatte sie laut gesprochen.

      Sie berührte das verletzte Bein und drückte dagegen. Sophia konnte das Zucken des Beines deutlich spüren. Auch das leise Stöhnen des Mannes war ein eindeutiger Hinweis darauf, dass das Bein nicht gefühllos war. Offensichtlich lag also keine schwerwiegende Verletzung der Wirbelsäule vor. Sie konnte somit versuchen ihn vorsichtig von seiner Bauchlage auf die Seite zu drehen und dabei nach der verletzten Seite seines Gesichtes sehen. Der Rucksack, den er immer noch auf dem Rücken hatte, war reichlich hinderlich, als sie ihn so behutsam wie nur möglich in die Seitenlage brachte. Aber nach einigen Minuten hatte sie auch das geschafft. Um das verletzte Bein zu stabilisieren, häufte sie Schnee auf und presste ihn, soweit das mit dem lockereren Pulverschnee überhaupt möglich war, zusammen. Als sie den Kopf des Mannes vorsichtig anhob, um auch ihn mit Schnee abzustützen, sah sie einen langen Riss, der von der linken Wange aus quer über die Schläfe lief und unter den blutverklebten Haaren verschwand. Unter der Einwirkung des kalten Schnees war die Blutung schon fast zum Stillstand gekommen. Nur noch an ein paar einzelnen Stellen sickerte Blut zwischen den angeschwollenen Wundrändern heraus. Noch einmal tastete sie über seinen Hals. Der Puls war zwar nicht mehr so kräftig wie vorher, aber immerhin noch gleichmäßig. Sie zog ihre Jacke aus und deckte ihn so gut es ging damit zu. So war er wenigstens von oben gegen die Kälte und die immer dichter fallenden Schneeflocken geschützt.

      Mit einem erleichterten Seufzer richtete sie sich auf. Mehr konnte sie nicht für ihn tun. Wo nur die Bergwacht so lange blieb? Sie sah auf die Uhr. Erstaunt stellte sie fest, dass seit ihrem Anruf erst zwanzig Minuten vergangen waren. Ihr selbst war es wie eine Ewigkeit erschienen. Plötzlich schüttelte es sie von oben bis unten. Eine Gänsehaut lief ihr über den Rücken. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass ihr Pullover völlig durchgeschwitzt war und es ohne Jacke doch lausig kalt war. Sie verschränkte die Arme und begann auf der Stelle zu hüpfen, um sich wieder aufzuwärmen.

      Endlich, sie hatte schon fast nicht mehr daran geglaubt, hörte sie das Dröhnen eines Hubschraubers. Sofort begann sie in die Höhe zu springen wie Rumpelstilzchen und wie wild mit den Armen zu winken. Selbst als der Hubschrauber schon zur Landung ansetzte hüpfte sie immer noch hin und her. Er landete in respektvollem Abstand zur Steilwand, um durch die Luftwirbel seines Rotors nicht weiteren Schnee zum Abrutschen zu bringen. Die Seitentür wurde geöffnet. Drei Männer stiegen aus. Sophia konnte einfach nicht stillstehen und kämpfte sich ihnen, so schnell es der tiefe Schnee zuließ, entgegen.

      „Ich habe ihn“, rief sie schon von Weitem, ohne zu bedenken, dass der Lärm des Rotors jedes ihrer Worte übertönte.

      Als sie die Männer erreichte, hatten diese bereits ihre Ausrüstung aus dem Hubschrauber geholt. Sie musste ihre Augen mit der einen Hand gegen den von den Rotorblättern hochgewirbelten Schnee schützen und mit der anderen ihre Haare festhalten. Einer der Männer rief ihr etwas zu, aber da sie kein Wort verstehen konnte, zog sie die Schultern hoch und schüttelte gleichzeitig den Kopf. Er kam in tief geduckter Haltung auf Sophia zu, nahm sie bei den Schultern, zog sie dicht an sich heran und beugte seinen Kopf neben ihr Ohr. „Wo ist es passiert?“

      Sie drehte sich um und wies mit der ausgestreckten Hand zur Seitenflanke der Georgenspitze. „Dort drüben!“ Sie musste ziemlich schreien, um das Dröhnen des Hubschraubers zu übertönen.

      Der Mann wollte sich bereits wieder abwenden um zu seinen Kollegen zurückzukehren. Sie konnte ihn gerade noch an seiner Jacke packen und festhalten. Diesmal war sie es, die ihn zu sich herunter zog.

      „Ich habe ihn gefunden!“, schrie sie ihm ins Ohr. „Er lebt, aber ich glaube er ist ziemlich schlimm verletzt!“

      Er legte seine beiden Hände auf ihre Oberarme und drückte sie kurz. „Gut!“ Deutlich konnte man die Erleichterung aus seiner Stimme heraushören.

      Als er zum Hubschrauber zurück ging, folgte ihm Sophia unwillkürlich.

      Er riss die vordere Tür auf.

      „Sie hat ihn gefunden. Du kannst ihnen Bescheid sagen, dass wir die Hunde nicht brauchen“, brüllte er dem Piloten zu und knallte die Tür wieder zu.

      Die beiden Anderen hatten es offensichtlich auch mitbekommen, denn sie schafften bereits wieder Ausrüstungsgegenstände, die unter diesen Umständen überflüssig waren, zurück in den Hubschrauber. Sie packten alles in einen Rettungsschlitten aus Kunststoff, der aussah wie ein überdimensionales Backblech mit einem hochgezogenen Rand. An beiden Schmalseiten befestigten sie Alu-Gestänge um das Gefährt bewegen und lenken zu können.

      Sophia dauerte das Alles viel zu lange. Da lag dieser arme Kerl schwer verletzt im Schnee und diese Typen hatte nur Augen für ihre blöde Ausrüstung. Ungeduldig trat sie von einem Bein auf das andere.

      „Wir sind soweit. Zeigen Sie uns die Stelle!“ Der Mann von der Bergwacht schrie ihr diese Worte ins Ohr.

      ‚Na endlich‘, dachte Sophia, nickte dem Mann zu und stapfte los. Sie legte ein solches Tempo vor, dass die Männer mit ihrem Schlitten kaum folgen konnten. „Hier ist es!“ Sie drehte sich zu ihnen um, deutete hinter sich auf den Boden und trat dann zur Seite um Platz zu machen.

      Einer der Männer beugte sich über den Verletzten. Er wischte den Schnee, der schon wieder das ganze Gesicht bedeckte, vorsichtig zur Seite.

      „Oh mein Gott! Das darf doch nicht wahr sein! Es ist Mark!“

      Das blanke Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben, als er sich zu seinen beiden Begleitern umwandte.

      Von diesem Augenblick an ging Alles rasend schnell. Jeder der drei Männer wusste genau was er zu tun hatte. Da gab es keinen einzigen unnützen Handgriff. Während der Eine den Rucksack abschnitt, schlitzte der Andere die Hose an dem verletzten Bein auf.

      Sophia musste ihren Handrücken auf den Mund pressen, um einen Schrei zu unterdrücken, als sie sah, dass ein Stück des zersplitterten Schienbeinknochens ziemlich weit aus der klaffenden Wunde herausragte.

      Der dritte Helfer hatte bereits die Schienen für das Bein geholt und war schon dabei die