Ralf J. Schwarz

Weg, einfach weg


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er wollte, wohin er überhaupt wollte, aber die Vorstellung in wärmeren Gefilden sein Glück zu suchen, war schon verlockend. Seine wichtigste Errungenschaft jedoch, so war er sich sicher, war ein Schlafsack mit dem er sein Schlafproblem lösen wollte. So kam er nicht in die Verlegenheit seinen Ausweis vorzeigen zu müssen und damit eine Spur zu hinterlassen.

       Als er zurück zum Markt kam, suchte er einen Stand für Eisenwaren auf und kaufte neben einer Aluminiumtaschenlampe auch ein stabiles Taschenmesser mit etwa handlangen Klinge. So ausgerüstet, wurde er von dem Bus der ihn nach Oberstdorf gebracht hatte, mit einer ganzen Horde asiatischer Touristen ausgespuckt.

      Kapitel 10

      Deutlich waren die letzten Anstrengungen des Hochsommers zu spüren. Als er aus dem klimatisierten Bus ausstieg, umhüllte ihn die Hitze wie ein im Wind flatterndes Tuch, das aber die Wucht eines Hammerschlags mit sich brachte. Schon im Bus, in dieser Menge Asiaten die, unablässig in einer Sprache kommunizierend, die so fremd und unwirklich erschien, wild fotografierend durch den Bus eilten, schwitzte Andreas. Noch trug er den zur Tarnung benutzten Fat-Suit unter seinem Hemd. Nun sollte als erster seiner Schritte die Verwandlung des leicht Übergewichtigen in den sportlichen Wanderer folgen.

       Hier an der Bushaltestelle die sich inmitten des beschaulichen bayrischen Städtchens lag, wimmelte es von Menschen. Neben den eben ankommenden Touristen, standen Wandergruppen, ausgerüstet mit dem neusten technischen Equipment, teilweise jedoch in körperlich, erbärmlichen Zustand, im Schatten der Linden die den Platz umsäumten. »Na, da bin ich ja in bester Gesellschaft«, schoss es van Geerden durch den Kopf.

       Entspannt setzte er sich auf eine Mauer die eine Grünfläche eingrenzte und betrachtete die immer wieder heranrollenden Busse, die nie geahnte Menschenmassen ausspuckten. Es herrschte ein ständiges Gewusel und Durcheinander eilen, Stimmen erschollen, Reiseführer versuchten, mit in die Höhe gereckten Schirmen, ihre Gruppen auf sich aufmerksam zu machen. Schulklassen kamen an, schreiende Kinder rannten umher und verstärkten das Chaos das hier am Busbahnhof die Kontrolle übernommen hatte, noch um einiges. Lange saß Andreas hier, versuchte die Menschen abzuschätzen, ihre Hintergründe, ihre Vorhaben und Ziele. Immer war es nur ein Einschätzen, eine Vermutung, deren Wahrheitsgehalt er nie überprüfen können würde. Aber es war auch gleich. Er war froh, abseits dieses Trubels zu sitzen und zu warten. Diese Menschenmengen, die die Busse ausspuckten, machten ihm Angst. Noch vor einer Stunde, eingepfercht auf engem Raum, dichtgedrängt mit der asiatischen Invasion, hatte er die aufkommende Panik gespürt. Nur mit Mühe war es ihm gelungen, sich zu beherrschen. Das alles war ihm zu eng. In solchen Momenten hatte er das Gefühl die Kontrolle über die Situation zu verlieren.

       Sein Blick fiel auf einen älteren Mann, der gegenüber seinem Platz an einer Hauswand saß. Seine Habseligkeiten die er in Plastiktüten verstaut hatte, lagen neben ihm. Ein Schild, dessen Worte Andreas nicht lesen konnte, stand vor ihm. Vermutlich bettelte er. Sein Hut stand vor ihm auf dem Boden und sollte wohl die Münzen aufnehmen. Van Geerden sah ihm eine Weile zu. Seine Ausbeute schien gering zu sein.

       Als sich ihre Blicke trafen, lächelte der Mann. Andreas nahm seine Tüte und seinen Rucksack und ging über die Straße. Ohne ein Wort setzte er sich neben den Alten. »Na, willst Du auch etwas abhaben?«, fragte der Mann grinsend. »Nein. Ich brauche nichts. Hast Du Erfolg?« »Nicht gut, heute Morgen!«, waren seine knappen Worte. Andreas griff in seine Tasche und nahm sein Portemonnaie heraus. Er zog einen Fünfziger heraus und warf ihn in den Hut. »Besser?« Der Mann lachte.

       »Du kannst öfter kommen.« »Wie heißt Du?«, fragte van Geerden. »Don Corleone.« Andreas musste lachen. »Wie der Typ in dem Mafiathriller. Schöner Name.« Beide schwiegen als eine junge Frau eine Münze in den Hut warf. »Danke«, riefen sie im Chor. Jetzt lachten beide. »Andreas«, stellte sich van Geerden vor und reichte ihm die Hand. Don Corleone nahm sie und schüttelte sie. Lange saßen sie beieinander und unterhielten sich.

       »Schau Dir die alte Frau dort gegenüber an. Sie versucht schon eine ganze Weile, über die Straße zu gehen. Aber niemand stoppt mal kurz.« Die beiden Männer sahen zu der Alten. Sie war scheinbar kein Teil der Horden die den kleinen, bayrischen Ort überfielen. Alleine stand sie am Straßenrand und hatte sichtlich Mühe, die durch den ständig flutenden Bus- und Autoverkehr belegte Straße, zu überqueren. Immer wieder setzte sie einen Fuß auf den Überweg, zog ihn aber bei jedem sich nähernden Wagen mit ungeahnter Schnelligkeit zurück.

       Schließlich fasste sich Andreas ein Herz, nahm seine Sachen und ging zu ihr. »Darf ich Ihnen helfen?«, fragte er sie lächelnd. Verwirrt sah sie ihn an. Sie schien nicht zu verstehend was er ihr sagen wollte. »Können Sie mich verstehen? Darf ich Ihnen über die Straße helfen?« Wieder sah sie ihn mit großen Augen an. »Möglicherweise hörte die Frau auch schlecht«, dachte sich Andreas und griff beherzt nach den Sachen der Frau, nahm ihren Arm und versuchte nun seinerseits die Wagen zu anhalten zu bringen. Schon beim ersten Schritt auf die Fahrbahn bremsten der erste Fahrer, hielt an und begann wütend in seinem Wagen zu zetern. Andreas konnte die Flüche des Mannes hören. Nur einen Sekundenbruchteil später wurden die bösen Worte aber durch den Schrei seiner Begleitung übertönt. »Hilfe!«, schrie die sichtlich verwirrte Frau, »Hilfe, bitte helfen Sie mir! Er will mich bestehlen. Er versucht mir die Tasche zu stehlen!«

       Sofort blieben die Passanten die noch vor kurzer Zeit keinen Blick an der Dame verschwendet hatten stehen. Panisch sah sich Andreas um. »Halt, bleiben Sie stehen«, rief ein älterer, grauhaariger Herr und kam drohend auf van Geerden zu. Eine Frau telefonierte aufgeregt mit ihrem Handy, wild gestikulierend. »Aber das ist ein Missverständnis!«, protestierte Andreas. »Sie missverstehen die Sache. Ich wollte doch nur …« Weiter kam Andreas nicht. Die Handtasche der alten Dame sauste mit voller Wucht in sein Gesicht. Ein feuerroter Blitz durchzuckte seinen Kopf und für einen kurzen Moment war alles dunkel. Schon spürte er Hände die nach ihm packten und ihn mit Kraft nach unten rissen. Ganz von ferne hörte er Sirenen eines Polizeiautos. Dumpfe Stimmen drangen zu ihm vor, zerrissen die Dunkelheit und er realisierte die Situation.

       Er lag auf dem Boden und ein junger, vielleicht zwanzigjähriger, Mann kniete auf seinem Brustkorb, hielt mit beiden Händen seine Arme auf den Boden gedrückt, fest. Andreas versuchte sich zu befreien, stellte aber sofort fest, dass sein Bewacher ihm deutlich an Körperkraft überlegen war. »Gut jetzt!«, hörte er eine Männerstimme, »Wir sind jetzt da. Lassen Sie ihn los.« Sein Bewacher lockerte seinen schraubstockfesten Griff und als er zurückwich, sah Andreas die zwei Polizisten, die gerade angekommen waren.

       »Stehen Sie auf«, herrschte ihn der jüngere der Beamten an. Van Geerden rappelte sich auf und klopfte sich den Staub aus seinen Kleidern. »Was ist passiert? Eine Anruferin hat berichtet, dass eine alte Dame bestohlen wurde. Waren Sie das?«, fragte er in Andreas Richtung. »Nein, das ist ein Missverständnis. Ich wollte der Frau…« »Doch, er hat sie versucht zu bestehlen!«, unterbrach ihn die eben noch telefonierende Frau, »Ich kann alles bezeugen. Ich habe alles gesehen.« Andreas stockte er Atem. Er drehte sich zu der Frau um: »Ach, Sie haben alles gesehen. Dann ist Ihnen sicherlich auch aufgefallen, dass diese alte Dame hier über die Straße wollte und niemand hat ihr geholfen.« »So ein Quatsch!«, rief die eben noch so stumme, alte und hilfsbedürftige Frau, »ich habe hier auf den Bus gewartet. Dann kam er und hat versucht mir die Handtasche zu stehlen. Aber so leicht gebe ich mich nicht geschlagen!« Mit einer mächtigen Bewegung schwang sie die Handtasche nach hinten, stoppte aber ihren Angriff als ihr der Polizeibeamte einen bösen Blick zuwarf.

       »Gut jetzt. Mein Kollege wird Ihre Personalien aufnehmen und dann können Sie gehen. Danke, dass Sie der Dame geholfen haben. Wir brauchen mehr Menschen mit Zivilcourage.« Sein Blick fiel auf Andreas. »Wir beiden werden uns jetzt mal unterhalten. Ihren Ausweis bitte!« Ein Peitschenhieb konnte nicht mehr schmerzen, als das Wort Ausweis. Das war also nun das Ende seiner Reise. Nach nur so kurzer Zeit war sein Plan zum Scheitern verurteilt. »Den Ausweis!« Die erneute Aufforderung des Beamten riss ihn aus seinen Gedanken.

       »Herr Wachtmeister. Bitte. Es stimmt, was ich Ihnen erzählt habe. Ich habe einen Zeugen. Der kann meine Geschichte bestätigen.« »Gut. Wo ist ihr Zeuge?« Andreas drehte sich zu dem Obdachlosen um. Er war weg. Er starrte in Richtung der Hauswand. »Na, wo ist er denn? Ihr Zeuge?« »Eben war er noch da. Er hat da drüben am Haus