Ralf J. Schwarz

Weg, einfach weg


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total aus dem Konzept. Normalerweise war er gut in solchen Gesprächen in denen es nicht unbedingt um die ungeschönte Wahrheit ging. Als Anwalt wusste er die Wahrheit so zu verdrehen und zu beschönigen, dass sämtliche Ereignisse in einem anderen Licht erschienen. Hier aber waren alle seine sprachlichen Fertigkeiten auf ein Minimum geschrumpft, hatte er wieder das rednerische Niveau des Studenten, der sie damals als erster in dem Studententreffpunkt angesprochen hatte, erreicht. Unsicher, ob seine Lügen und Beschwichtigungen entdeckt würden, versuchte er Ute zu beruhigen. Letztendlich stammelte er einen, aus seiner Sicht, unzusammenhängenden Satz in dem er sich mehr oder weniger bei van Geerdens einlud. Zu seinem Erstaunen schien sich Ute über das Besuchsangebot zu freuen.

       Aber wie sollte er sich weiter verhalten? War er nicht mitschuldig am Verschwinden ihres Mannes? Oder war er nur einfach ein Helfer und somit unschuldig. Er wusste über Schuld und Unschuld ein Urteil zu fällen, Einschätzungen, die er jeden Tag vornahm. Lud er sich nicht viel mehr Schuld auf, wenn er einen Klienten verteidigte, der selbst nach seinem Wissen schuldig war? War ein solches Verhalten, dass deutlich mehr im Widerspruch zu den Idealen stand die ihn dazu bewogen hatten, ein juristisches Studium zu beginnen. Im Interesse seiner Mandanten log er vor Gericht, verdrehte und verbog die Wahrheit ohne jeden Skrupel. Nie hatte er Gewissensbisse, einem Mörder wissentlich zur Freiheit zu verhelfen. Niemals hatte er sich deshalb als Helfer oder Mitbeteiligter an den Morden gesehen. Warum sollte er also sich selbst mit Andreas von Geerdens Verschwinden in Verbindung bringen?

       Den ganzen Abend, selbst als die letzten Klienten in seinem Büro saßen, beschäftigte ihn diese Frage. Aber weitaus mehr lenkte ihn die Vorfreude auf die Verabredung, ja so konnte er das nennen, die Verabredung mit Ute ab. Karen hatte er angerufen und ihr unter größtem Bedauern erzählt, dass er noch ein wichtiges Geschäftsessen mit einem noch wichtigeren Mandanten habe. Sie war enttäuscht, versuchte aber, es ihn nicht merken zu lassen. Aber er spürte es deutlich.

      Kapitel 9

      Als Andreas das Stadtzentrum von Bregenz erreichte, lief er mitten hinein in das Treiben das auf dem Kornmarktplatz stattfand. Hier bot sich ein Bild das an einen Markt in Südeuropa erinnerte. Strahlen blau und vollkommen wolkenlos überspannte der Himmel die Szenerie. Einen bunten Kontrast dazu bildeten die rot-weißen Dächer der Gemüsestände. Eine unüberschaubare Menge an verschiedensten Waren lagen hier aus. Die Gemüsehändler setzten allen Anscheins nach auf heimische Produkte. Obst wurde in riesigen Mengen angeboten. Eifrige Verkäufer liefen zwischen den Besuchern hin und her, boten Proben der Früchte an. Einige Stände weiter lagen handwerkliche Erzeugnisse, Messer und allerlei Krimskrams auf Tischen. Auch Kleider billigster Machart, Schuhe und allerlei nützliches und unnützes gab es in Hülle und Fülle. Viel verlockender als alle anderen Waren, schien Andreas jedoch der Wurst- und Käsestand. Käse aus der Region, schon alleine die Aufschrift auf dem Schild über dem Stand ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Vorsichtig nahm er das ihm angebotene Probestück und steckte es in den Mund. Jetzt erst fiel ihm auf, dass er seit gestern Abend nichts mehr gegessen hatte. Langsam aber sicher meldete sich nun sein Magen und forderte sein Recht. Also kaufte er ein großes Stück vom Käse und einen Ring Salami und steckte alles in seinen Rucksack. Ein fingerlanges Stück der Salami riss er jedoch vorher ab und begann genüsslich darauf herumzukauen. Er stand etwas abseits und beobachtete den Platz auf dem der Markt stattfand.

       Schier endlose Menschenmassen wälzten sich zwischen den Ständen hin und her. Von seinem etwas entfernten Standpunkt erinnerte alles an einen Ameisenhaufen, jedoch um einiges bunter. Besucher und Einheimische fluteten durch die Gassen. Lange war es her, dass er auf einem derartigen Massenauflauf teilgenommen hatte, so lange, dass er sich nur schwach erinnern konnte. Während seiner Abiturabschlussklassenfahrt nach Italien musste es gewesen sein. Seine Klasse hatte sich auf den Markt verirrt und war schließlich von dem bunten Treiben überwältigt gewesen. Überall wurde aggressiv für die ausgelegten Waren geworben, an Ärmeln gezogen und gefeilscht. Ein Erlebnis, das fast aus seiner Erinnerung verschwunden war. Nun wurde es mit jedem Schritt plastischer wiederhergestellt als ihm lieb war.

       Gerüche seiner Jugend kamen wieder in den Sinn, das Stimmengewirr und die Freunde von damals. Vor seinem inneren Auge lebten die Gesichter wieder auf, seine Abiturklasse, seine Verbindungen. Bilder von Menschen, die schon so lange aus seinen Gedanken verschwunden waren. Ein leichter Anflug von Wehmut kam auf. Immer weiter zogen die Erinnerungskreise, erweiterten ständig ihre Größe, fast wie die Wellen wenn man einen Stein ins Wasser warf. Nun fielen ihm Namen ein, Eigenarten von Menschen, die er vor vielen Jahren vergessen hatte. Und sie fiel ihm wieder ein, Annika, dieses dunkelhaarige Mädchen, diese junge Frau die damals für ihn die Inbrunst der Weiblichkeit darstellte. Ewige Liebe hatten sie sich geschworen, Pläne geschmiedet, von einem Leben voller Risiken und Abenteuer geträumt. Sie war seine Vertraute gewesen, seine Geliebte, sein einziger Gedanke. Lange konnte er nicht über die Tatsache hinweg kommen, dass die Ewigkeit, ihre Ewigkeit nur bis nach dem Abitur dauern sollte. Danach trennten sich ihre Wege als sie nach Freiburg ging. Noch immer konnte er ihren Duft riechen, fühlte ihr seidenweiches Haar das sie zu einem losen Zopf gebunden hatte, spürte den salzigen Geschmack ihrer Haut. Sie war die Frau, die ihn für sein Leben prägen und seine Idealvorstellung einer Frau sein sollte.

       Jäh wurde er aus seinen Tagträumen gerissen als er mit einem der Entgegenkommenden zusammenstieß. »Blöder Fettsack, Du verdammtes Arschloch«, schimpfte der Mann und ging schnellen Schrittes weiter noch ehe Andreas etwas entgegnen konnte. Reflexartig fühlte er nach seinem Portemonnaie und stellte erleichtert fest, dass alles noch an seinem Platz war. Nicht dass der Verlust von ein paar Euro ihn geschmerzt hätte, aber brennend fiel ihm ein, dass seine persönlichen Dokumente noch darin waren. Nicht auszudenken, wenn ein Taschendieb seinen Geldbeutel mit dem Ausweis, der Kreditkarte, seinem Führerschein und was noch alles darin war, klaute und dann wegwarf. Dann war alles umsonst gewesen. Dann hatte er selbst eine Spur nach Süden gelegt. Er beschloss, besser aufzupassen und einen Ausweg für die Misere zu suchen.

       Zuerst aber musste er seinen Proviantvorrat weiter auffrischen. Wobei auffrischen das falsche Wort war. Schnell kaufte er noch einige Paprika und etwas Obst und verstaute alles sorgfältig in seinem Rucksack verstaute. Ziellos irrte er weiter durch die Stadt auf der Suche nach einem ruhigen Platz an dem er seinen Energiebedarf decken konnte. Schließlich fand er diesen an den Ufern des Bodensees.

       Schnell hatte er eine Bank im Schatten der Bäume gefunden und begann sein Mahl. Erstmal an diesem Tag kehrte Ruhe in ihm ein, konnte er sie vielen Menschen beobachten, die den Weg entlang des Sees benutzten. Hektisch daher eilende, in Anzüge gekleidete Geschäftsleute, schlendernde Touristen, Wanderer und allerlei sportliche Zeitgenossen, die den gut ausgebauten Weg nutzten, um ihre Joggingrunde zu drehen. Die unterschiedlichsten Menschen, die aber alle eines verband: Sie verfolgten ein Ziel. Und das hatten sie ihm voraus. Über sein Ziel hatte er noch nicht nachgedacht. Wobei er das Wort »Ziel« nicht unbedingt als ein geographisches erachtete. Schon ein kleiner Fingerzeig seines Gehirns, was er nun erreichen wollte, worin sich die Freiheit, nach der er strebte, ausdrücken sollte, würde ihm reichen. Wie sollte es nun weitergehen? In Gedanken prüfte er die antreibenden Gründe der Menschen die an seinem Platz vorbeikamen und kam zum Schluss, dass alle in einer Rolle gefangen waren. Genau dieser Zustand war es aber, dem er entkommen wollte. Die freiesten jedoch erschienen ihm die Wanderer. Sie konnten ihr Ziel frei wählen, jederzeit ihre Entscheidung überdenken und ändern, wenn es ihnen nicht passte.

       Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Er wollte einer der ihren werden. Schwer gemacht wurde seine Entscheidung lediglich durch seinen schlechten Allgemeinzustand. Gewandert war er zum letzten Mal in der Hauptschule während eines Klassenausflugs. Konditionell war er in einem Zustand, der von jedem Zwölfjährigen übertroffen werden konnte. Nach zögerlichen Minuten stand sein Entschluss schließlich fest. Die Freude auf das Neue, die Freiheit entscheiden zu können wie er wollte und auch die perfekte Möglichkeit auf den Wanderwegen abseits der Öffentlichkeit weniger leicht entdeckt zu werden, verführten ihn schließlich zu diesem Vorhaben. Also schlenderte er zurück in die Stadt und suchte einen guten Laden in dem es die benötigte Ausrüstung gab. Eine Stunde später trat er mit einer riesigen Tragetasche ins Licht der Augustsonne.

       Neben an den Knien trennbaren Wanderhosen, Hemden, Wanderschuhen und einer regendichten Outdoorjacke hatte er auch einen Wanderführer