Ralf J. Schwarz

Weg, einfach weg


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uns heute erschienen. Vielleicht waren sie nur ein schräges Zerrbild unseres Denkorgans, das damit einen Zustand der permanenten Unzufriedenheit in den Köpfen der alternden Bevölkerung erschuf. Und genau so sahen die Vorübereilenden aus. Unzufrieden. Durch die politischen Umstände in einer finanzgeilen, egoistischen Umwelt gefangen, die zunehmend nach der ‚Hire & fire‘-Methode zu leben begann und ihre menschlichen und sozialen Ideale vergaß. Waren wir damit auf dem richtigen Weg oder drohte damit der Kollaps unseres Sozialsystems? War nach dem Ausbluten der arbeitenden Bevölkerung nicht auch die Oberschicht dran? Fragen wie diese, drängend und bohrend, zerstörend und alle Zuversicht raubend, hatten ihn in diesen Zug getrieben. War es dieser Wohlstand den es anzustreben galt oder gab es wichtiger Dinge in der Welt die es wert waren, ihre Spur aufzunehmen und ihr zu folgen. Oft hatte er sich gefragt, warum die Menschen in aller Welt mit einem Lachen im Gesicht dem Tag begegneten und anscheinend glücklich waren. Das Ergebnis unseres auf Wohlstand und Reichtum ausgerichteten Lebens sah er hier. Menschen mit hängenden Mundwinkeln, die nie zufrieden zu stellen waren.

       Solche und ähnliche Gedanken bestimmten seit langer Zeit sein Lebensgefühl, ein immer schlechter und unzufrieden werdender Zustand der Gedanken, die ihn zunehmend marterten. Und sie lenkten ihn von den Dingen ab, die normalerweise seinen Tagesablauf ausmachten. In seiner grauen Gedankenwelt gefangen, vergaß er oft die Zeit, grübelte über sein Leben nach und seine Zukunft. Und niemand konnte ihn verstehen. Kaum offenbarte er sich jemanden, schon sprach sein Gegenüber von Midlife-Crisis, von Pause machen und kürzer treten. Niemand verstand, dass er einfach nur frei sein wollte.

       Schon flogen Stuttgart und Ulm an den Fenstern der Bahn vorbei. Mit jedem Kilometer den er sich von seinem Wohnort entfernte, entspannte er sich zusehends, ging die Angst vor zufälligem entdeckt werden immer mehr verloren. Um elf Uhr vormittags rollte die Bahn schließlich in Bregenz ein. Nur sechs Stunden hatte die Reise gedauert, sechs Stunden in Richtung Freiheit.

       Als er aus dem Schatten des Zuges auf den Bahnsteig trat, brannte die Augustsonne schon unerbittlich vom Spätsommerhimmel. Der morgendliche Regen hatte Bregenz anscheinend vollkommen verschont. Keine Pfützen, keine feuchten Stellen, kündeten vom verregneten Sommer der ganz Europa im Griff hatte. Duft nach Wasser lag in der Luft, möglicherweise ein realer Eindruck, vielleicht aber auch nur ein Wunschdenken. Langsam schlenderte er mit seinem Rucksack, den er lässig über eine Schulter gehängt hatte, zum Ausgang des Bahnhofs und sah nun zum ersten Mal die glänzende Wasserfläche des Bodensees. Glitzernd wie mit tausenden Brillanten geschmückt, zeigte sich der riesige See von seiner lieblichen und reizvollsten Seite, versuchte jeden Besucher zu betören und trotzdem hatte er schon manchen Ruderer oder Schwimmer in seine Tiefen gezogen. Aber für Andreas war er eine gute Möglichkeit, sich für einen weiteren Weg zu entscheiden. Die drei Anrainerstaaten boten ideale Chancen zum Untertauchen.

       Aber bevor er weitere Schritte planen konnte, waren es die menschlichen Bedürfnisse, die befriedigt werden mussten. Und schließlich mussten erste Fragen geklärt werden. Wo sollte er schlafen? Normalerweise eine einfache Angelegenheit. Das Problem war nur, eine Schlafgelegenheit zu finden in der niemand seinen Ausweis sehen wollte. Ein grundsätzliches Problem dem er auf seinem ganzen Weg begegnen würde. Langsam schlenderte Andreas in die Bregenzer Innenstadt.

      Kapitel 8

      Kaum war Volker May gegangen, spürte Ute van Geerden eine Art Erregung in ihrem Innern aufsteigen, ein Gefühl wie vor einem heraufziehenden Gewitter oder einer Prüfung, deren Ausgang noch vollkommen ungewiss war. Warum meldete sich Andreas nicht bei ihr. Normalerweise beunruhigte es sie nicht, wenn die Anrufe ihres Ehemanns ausblieben. Schon lange waren sie nicht mehr so eng wie früher. Aber beide waren der Meinung, eine gewisse Distanz zwischen ihnen, würde ihre Ehe erst erträglich machen. So stritten sie seltener und gingen sich meist aus dem Weg, wenn Spannungen zwischen ihnen auftraten.

       Innerlich fluchte sie und wünschte den Kommissar zur Hölle. Mit seinem Gequatsche hatte er ihr Innerstes aufgewühlt und ihr ansonsten gefühlsgehemmtes Zusammengehörigkeitsgefühl ins Wanken gebracht. War Andreas in ihrer Nähe, war sie sich sicher dass sie ihn nicht brauchte, aber nun, da etwas passiert sein konnte, spürte sie die Unsicherheit wie ein dunkler Dämon in sich hochkriechen.

       Nachdenklich saß sie auf dem Sofa und dachte über die Konsequenzen nach, die im Falle eines Unfalles oder eines Unglücks auf sie zukämen. Unsicher griff sie zum Telefon und wählte eine Nummer.

       »Rechtsanwaltskanzlei Kesselring, Sie sprechen mit Robert Cavalli.« »Hallo Herr Cavalli, mein Name ist Ute van Geerden, ich möchte bitte mit Hartmut Kesselring sprechen.« »Tut mir leid, Herr Kesselring…« »Bitte, ich bin keine Klientin«, unterbrach sie ihn, »ich bin eine persönliche Bekannte von Hartmut und möchte jetzt mit ihm sprechen. Sollten Sie mich nicht verbinden, bin ich sicher, dass er sehr ungehalten sein wird. Also bitte!« Sekundenlang schwieg Cavalli und man konnte fast jeden seiner Gedankengänge hören. »Ich werde versuchen, Herrn Kesselring zu erreichen, bitte warten Sie!« Ein Knacken unterbrach die Leitung und eine eingängige, an Fahrstuhlmusik erinnernde Melodie ertönte.

       Gute zwei Minuten musste Ute warten, bis Hartmuts Stimme erklang: »Hallo Ute, Du hast Robert ja ordentlich eingeheizt. Der arme Kerl war ganz verunsichert. Ich hatte ihm gesagt, dass ich nicht gestört werden will. Aber bei Dir ist das was anderes. Wie kann ich Dir helfen?« »Hallo Hartmut, tut mir leid dass ich Dich störe. Aber eben war ein Polizist bei mir und hat mir beunruhigendes mitgeteilt. Andreas´ Wagen wurde irgendwo in Sachsen im Wasser gefunden. Ich mache mir Sorgen, dass etwas passiert sein könnte. Hast Du Kontakt zu Andreas?« Stille trat am anderen Ende der Leitung ein. Nach einer kurzen Pause schien Hartmuts Stimme verändert: »Nein, ich habe seit Montagabend nichts von ihm gehört. Du weißt ja, wir haben uns in Wiesbaden getroffen. Er hat mir erzählt dass er am nächsten Morgen einen Termin hat, deshalb mach Dir keine Sorgen. Er meldet sich bestimmt in der nächsten Zeit. Du weißt doch wie er ist.« »Ja, das macht er ja eigentlich immer so. Aber das Gerede von dem Polizisten hat mich total durcheinander gebracht. Entschuldige dass ich dich gestört habe.« »Aber Ute, Du hast mich nicht gestört. Ich wollte nur mal kurz den Kopf frei bekommen. Außerdem freue ich mich, wenn Du anrufst. Wenn Du Dir solche Sorgen machst und Du reden willst, kann ich heute Abend bei Dir vorbeikommen. Dann können wir in Ruhe sprechen. Ich habe jetzt noch einen Klienten. Ute, ich brauche Dir jetzt nicht zu sagen, dass Du jederzeit bei mir und Karen willkommen bist.« Ute freute sich über dieses Angebot und beide verabredeten sich für den kommenden Abend.

       Hartmut legte den Hörer zurück auf die Gabel und schloss die Augen. Im Geiste ließ er die vergangenen Minuten wie einen Film Revue passieren. Noch immer sah er sich unsicher im Büro sitzen als die Stimme seines Sekretärs durch die Gegensprechanlage rauschte. Noch immer hörte er die Worte: »Eine Frau van Geerden möchte Sie sprechen. Sie sagt, dass es sehr wichtig ist und dass ich einen auf den Deckel bekomme wenn ich Sie nicht weiter verbinde. Sie sei eine Bekannte von Ihnen. Es tut mir leid, dass ich Sie deswegen störe. Aber die Frau ist sehr beharrlich.« Leise lachte er auf. So aufgeregt hatte er Cavalli noch nie erlebt. Dabei war Ute doch überhaupt nicht so schlimm. Immer nett und immer freundlich. Aber sie bekam stets was sie wollte. Da gab es keinen Zweifel. Ihre Bestimmtheit brachte sie immer ans Ziel.

       Trotz des klimatisierten Büros war Hartmut der Schweiß auf die Stirn getreten. Er spürte, dass ihm seine Krawatte und der Kragen zu eng wurden. Den Inhalt des Gesprächs konnte er sich schon im Vorfeld denken, aber wie sollte er sich nun verhalten. Er möchte Ute nicht nur als Frau seines besten Freundes. Schon immer hatte er sie auch als Frau begehrt. Damals, als Andreas Ute kennenlernte, war er verrückt nach dieser Frau gewesen. Er hatte sich damals in sie verliebt und in gewissem Maße blieb dieser Zustand bis heute erhalten. Trotz seiner anhaltenden Liebe und seiner Heirat mit Karen begehrte er sie. Und nun sollte er sie anlügen. Das war ein grausamer Zug im Spiel des Lebens.

       Schließlich riss ihn das Klingeln des Telefons aus seinen Gedanken. Auch jetzt, in seinen Gedanken, ließ ihn dieses Geräusch zusammenzucken. Er hob ab und begann zu reden, versuchte einige lockere Sprüche zu machen, davon, dass sein Sekretär total aufgeregt war und noch einige solcher üblichen Phrasen aus der Small-Talk-Kiste. Als sie jedoch zu sprechen anfing, zerriss es ihm beinahe das Herz. In ihrer Stimme schwang Unsicherheit und sicherlich auch ein Rest des Gefühls mit, dass beide damals zum Heiraten