Jonas Nowotny

Die Kinder der Schiffbrüchigen


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einem Sonntagmorgen trieb ihn das Stöhnen seines Vaters und seiner Neuen fluchtartig aus der Wohnung. Ziellos irrte er durch die verschlafene Stadt und geriet in einen Menschenstrom, der ihn geradewegs in eine Freikirche spülte. Dort fiel er Catrin auf. In seiner schmuddeligen Jeans, mit seinem gelben T-Shirt und dem ungewaschenen dunkelblonden Haar wirkte Björn auf Catrin wie das perfekte verlorene Schaf, auf das sie all ihre christliche Nächstenliebe projizieren konnte. Er war ihr willkommener Loser, ideal zum Aufpäppeln. Auch Björn verliebte sich augenblicklich. Er ließ sich für sie in die Zuspruchsgemeinde taufen. Nie hatte er an der Existenz Gottes gezweifelt, aber er hatte Religion bis dahin nur wenig Interesse geschenkt. Das änderte Catrin. Wie vieles. Sie drängte ihn, seine Ausbildung abzuschließen, der Gängelei seines Chefs zum Trotz. Mit ihrem Zuspruch ertrug er die Eskapaden seines Vaters und die wechselnden weiblichen Gesichter. Nur für Catrin hielt Björn das Leben in Sodom und Gomorrha, wie er die Wohnung seines Alten nannte, durch. Sie redete ihm zu, unterstützte und forderte ihn. Und mit der Zeit gab er seinen eigenen Willen auf und trat ihn an sie ab.

      Björn verließ die Apotheke mit einem Tütchen. Wie lange war es wohl noch hin, bis er sich regelmäßig mit Medikamenten versorgen musste, die ihn am Leben hielten?

      »Die Blutwerte können sich über Nacht ändern. Deshalb müssen wir sie quartalsmäßig überprüfen«, klärte ihn der Arzt auf. »Und reden Sie mit Ihrer Frau«, sagte er.

      Reden? Mit Catrin? Björn lächelte bitter. Für Erklärungen gab sie ihm keine Gelegenheit. Und was gab es schon zu erklären? Er hatte gesündigt. Björn senkte den Kopf und dachte nach. Kaum dass sie ein Jahr miteinander gingen, hatten Catrin und er geheiratet. Bald darauf kündigte Rebecca sich an. »Die Hochzeitsnacht«, erklärte Björn später stolz einem Kollegen, »hat voll ins Schwarze getroffen.«

      Aber das war nur die halbe Wahrheit. In der besagten Nacht waren sie nach der langen Feier für Zärtlichkeiten und Zeugungsversuche zu müde gewesen. Rebecca war am Morgen nach der Hochzeit gezeugt worden.

      »Und ihr hattet vorher wirklich nie Sex?«, fragte sein Kollege ihn ungläubig. Ja, sie hatten gewartet. »True Love waits«, hieß es in der Kirchengemeinde. Björn drängte es nach der Verlobung (drei Monate, nachdem sie ein Paar wurden), miteinander zu schlafen. Ein Ehegelöbnis stellte das Hochzeitsversprechen ja dar, und warum nicht kosten, was ihm versprochen war? Doch Catrin nahm es mit ihrer Unberührtheit ernst und so geschah, streng geschlechtlich gesehen, bis zum Morgen nach der Hochzeit nichts. Für Björn brach ein Quartal der Lust an. Beinahe jede freie Minute »erkannten« sie sich: im Bett, während des Kochens auf dem Küchentisch, auf der Couch oder auf Autofahrten, die an einsamen Waldparkplätzen endeten. Catrin bereitete ihm das fleischliche Paradies auf Erden und strafte jeden Atheisten Lügen, der glaubte, Christen seien Langweiler im Bett.

      Und dann war auf einmal Schluss. Kaum sah man Catrins erste Wölbung am Bauch, fing sie an ihn zu vertrösten. Sie bemühte sich nicht einmal, Kopfschmerzen vorzuschützen, sondern sagte gerade heraus, dass sie keine Lust auf Sex hatte. »Vermutlich die Hormonumstellung«, tröstete sie ihn. Als Rebecca auf der Welt war und ihre Umgebung auf Trapp hielt, war Catrin zu gestresst, zu müde und nach einer Handvoll ehelicher Pflichterfüllung wieder zu schwanger, um sich Björns Gelüsten hinzugeben: erst mit Ruth, dann mit Maria.

      »Vermisst du nicht die Zeit, als wir´s wie die Karnickel getrieben haben?«, fragte er sie einmal, als sie sich liebten und er sich befriedigt von ihr rollte. Catrin gab sich pikiert.

      »Zeiten ändern sich. Aber jede hat ihren Reiz.«

      Björn wandte sich ab. »Ja, Zeiten ändern sich«, flüsterte er. Sex war für ihn jetzt mit Ekel besetzt, dreckig, feucht, gefährlich. Er hatte keinen Bedarf mehr, mit Catrin oder einer anderen Frau Körperflüssigkeiten auszutauschen. Björn wurde schwindlig. Er musste sich auf den Gehweg setzen, sonst zog es ihm die Beine fort. Sein abrupter Halt zwang eine Passantin zum Ausweichen. Sie fluchte und hastete weiter. »Entschuldigung«, rief er ihr nach. Das Wort hallte in seinem Körper nach. Schuld! Ja, die hatte er auf sich geladen, und er konnte sie nicht schultern. Sie erdrückte ihn, nahm ihm die Luft. Er sah nicht, wo er die Kraft für die Zukunft hernehmen sollte. Doch er musste. Er schuldete es seinen Töchtern und seiner Frau. Schuld, Schuld, Schuld. Er band sich den Schnürsenkel, folgte mit den Augen dem Stamm einer Kastanie in den Wipfel hinauf. Sich an einem Ast aufknöpfen, ja, das war ein tröstlicher Gedanke.

       Kapitel 14

      Eine neue Woche hatte begonnen, ohne dass es Ermittlungserfolge der Polizei zu vermelden gab. Christian schob den Buggy, in dem Louis fröhlich gurgelte und Bläschen aus Spucke formte, den Weg hinauf zu Renates Wohnblock. Ein Motorroller brauste an ihm vorbei und tränkte die Luft mit Abgasen. Er hielt in Christians Blickweite. Der Fahrer stieg ab und hob den weißen, mit einem kanadischem Ahornblatt verzierten Schutzhelm vom Kopf. Der Wagner, dachte Christian. Was will der denn hier?

      Christian hielt Abstand. Er wollte nicht von ihm gesehen werden. Er sah Oliver klingeln. Wenige Augenblicke später surrte der Türöffner und er verschwand im Wohnblock. Wen kennt er in diesem Haus? Christian wartete eine Minute und ging dann ebenfalls zur Haustür. Einem unbestimmten Gefühl folgend kramte er in der Jeans nach dem Schlüsselbund. Heute schien es ihm klüger, nicht zu klingeln, sondern den Schlüssel zu nehmen. Er hatte ihn nach seinem Auszug nicht zurückgegeben. »Behalte ihn, vielleicht brauchst du ihn mal«, hatte Renate damals gesagt.

      Eilig hob er Louis aus dem Buggy und schloss die Haustür auf. Im Treppenhaus drangen Stimmen zu ihm herab. Zwei bekannte, aufgebrachte Stimmen. Eine gehörte unverkennbar Oliver, die andere seiner Mutter.

      »Wir müssen leise sein«, beschwor er Louis flüsternd. »Oma unterhält sich, und Daddy will wissen, was die beiden zu bereden haben.« Louis lächelte feist, als verstünde er den Sinn des Detektivspiels.

      »Ich finde nicht, dass das zu viel verlangt ist«, meinte Oliver. »Warum soll ich dir Zeit geben? Ich bin jetzt hier!«

      Christian spitzte die Ohren, aber es gelang ihm nicht, aus Renates Flüstern verständliche Wörter zu fischen. Oliver lachte herablassend. »Nur ein paar Fragen. Mehr nicht«, forderte er.

      »Ich rede nicht mit dir! Die Polizei war hier. Sie sagten, dass du mit dem Hausmeister gesprochen hast.« Renate sprach jetzt lauter und bestimmter, Christian verstand jedes Wort. Louis strahlte mit offenem Mund.

      »Psst!« Christian nahm den Zeigefinger vor die Lippen.

      »Ich hab nicht direkt mit ihm gesprochen. Er kam auf mich zu ...« Oliver klang bedrückt.

      »Weißt du, was ich für Probleme kriege, wenn Horst dich hier sieht?« Renates Stimme zitterte. »Ich wusste, du würdest wieder hier auftauchen! Unangekündigt! Ich habe nächtelang nicht geschlafen, aus Angst, du würdest Horst einweihen!«

      »Das habe ich nicht gewollt«, gab Oliver zurück.

      »Wie hast du es dann gewollt?« Renate klang reserviert.

      »Keine Ahnung. Ich möchte eben, dass ...«

      Das Zuschlagen einer Wohnungstür unterbrach das Gespräch. Stöckelschuhe klackten im Treppenhaus. Freundlich grüßend stelzte eine Nachbarin vorbei. Kaum waren ihre Schritte verhallt, hörte er Renate drohend sagen: »Lass meine Familie in Ruhe! Wenn du sie zerstörst, dann ...«

      Oliver fiel ihr lachend ins Wort. »Du drohst mir?«

      Renate flüsterte wieder. Eilig nahm Christian zwei Stufen aufwärts und drückte sich gegen die Wand. Womit konnte Oliver seine Familie zerstören?

      »Wie kannst du nur einfach herkommen?« Renate spukte fast vor Zorn. »Was, wenn Horst es mitbekommt oder Christian?« Ihre Stimme bebte.

      »Ich will dir nicht schaden, verdammt!« Plötzlich klang Oliver defensiv. »Und was Christian angeht ...«

      Renate nuschelte etwas. Christian stieg vorsichtig noch zwei Stufen. Jetzt musste er in der Hocke bleiben, sonst sahen sie ihn. Sein Name aus dem Mund des Krankenpflegers knüllte ihm das Herz zusammen. Es klang bedrohlich.

      »Christian geht