Jonas Nowotny

Die Kinder der Schiffbrüchigen


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in den Sinn. Dem Makler war es rekordverdächtig schnell gelungen, einen Käufer für die Villa zu finden. Sein Karteikasten sei voll mit Interessenten, hatte er gemeint. Oliver hatte ihn durchs Telefon schmunzeln gehört. Oliver streckte sich und erhob sich vom Sofa. Sein Blick schweifte durch die von der Polizei durchsuchte Wohnung. Er fragte sich noch immer, warum die Beamten wegen einer lächerlichen Rauchbombe so viel Aufsehens machten und sogar Wohnungen durchsuchten. Gut, es waren Menschenleben gefährdet worden, und die Reederei brauchte vermutlich einen Regresspflichtigen. Die Polizei hatte ganze Arbeit geleistet. Alle Schubladen standen offen und waren durchwühlt. Der Computer fehlte. Oliver rieb sich die Augen und schlurfte in Pantoffeln ins Bad, dem einzigen Raum der Wohnung mit Tür. Der Rest der Klause war offen. Sein neues Zuhause war das Gegenteil von der Wohnung, die er im zweiten Stockwerk der elterlichen Villa bewohnt hatte. Damals war alles dunkel gewesen: die Möbel, die tapezierten Wände, die Teppiche, die schweren Vorhänge, die das Tageslicht schluckten und die Wahrheit. Heute flutete Licht durch große Dach- und Frontfenster, was dem Appartement den Touch eines Gewächshauses verlieh. Das wenige Mobiliar war weiß, modern, schlicht. Dennoch konnte es sein Gemüt heute nicht erhellen.

      Oliver schlüpfte aus der Dienstkleidung, in der er eingeschlafen war, und stellte sich unter den heißen Strahl der Dusche. Die Hitze des Wassers betäubte seine Gedanken, und der Schmerz auf der Haut übertünchte die Pein der Erinnerungen. Er überlegte, was schlimmer war: eine Polizeidurchsuchung oder ein Einbruch. In beiden Fällen drang jemand ungebeten in ein privates Refugium ein und hinterließ rücksichtslos durchwühlte Kleidung, Notizen, Alben. Alles hatte an Intimität verloren. Er fühlte sich den Beamten gegenüber so nackt wie er in diesem Augenblick im Bad stand. Schnell trocknete er sich ab, als könne er damit seine Unversehrtheit zurückerlangen.

      In den Morgenmantel gehüllt, betrachtete er seine Küche, die mit Essbereich und Wohnzimmer eine offene Einheit bildete. Sogar die Kochtöpfe hatten die Beamten beschlagnahmt. Sie suchten darin nach Spuren des Brennstoffs, erklärten sie. Kaliumnitrat. Als ob er so blöd wäre, in seiner Wohnung an einer Bombe zu basteln.

      »Hier haben wir doch was«, hatte ein Polizist gesagt und mit behandschuhter Hand eine blaue Schachtel Wunderkerzen aus einer Schublade gefischt. »Der Zünder der Rauchbombe war eine Wunderkerze. Ich wusste, dass wir fündig werden würden!«, triumphierte er. Oliver schüttelte den Kopf. Wie viele Familien gab es in der Stadt, die keine Wunderkerzen im Haus hatten?

      Ein stumpfsinniges Glücksgefühl erfüllte Oliver, als er bemerkte, dass Wasserkocher und Tassen ihm geblieben waren. Er setze Teewasser auf und erklomm über die schmale Wendeltreppe den zweiten Stock, wo sich das Schlafzimmer befand. Auch hier war alles polizeilich durchwühlt. Ein Panoramablick hinunter auf die Stadt bot sich hier. Manchmal holte er sich Details mit dem Teleskop näher, das ebenfalls hier oben stand. Oliver schaltete das Radio ein. »Die Polizei sucht immer noch nach Hinweisen auf den Rauchbombenattentäter. Bitte melden Sie ...« Sofort drehte er den Apparat wieder ab. Er konnte den Zeugenaufruf nicht mehr ertragen. Verwünschungen grummelnd begab er sich in die Küche, nahm eine Tasse aus dem Schrank und goss brodelndes Wasser über den Teebeutel. Während der grüne Tee zog, ließ er sich seufzend aufs Sofa sinken und stellte die Tasse auf den Beistelltisch. Er achtete darauf, dass die feine Stoffhose und das weiße Hemd, das er sich für den Notartermin angezogen hatte, nicht zerknitterten. Der Beamer warf unermüdlich weißes Licht an die Wand. Er fischte den Beutel aus der Tasse und nippte am Tee. Wie schnell sich ein Leben ändern konnte, dachte er matt. Um nicht weiter dem Grübeln zu verfallen, drückte er eine Taste auf der Fernbedienung. Das nächste Bild der Speicherkarte wurde an die Wand geworfen: Christian und Alexander mit Louis auf dem Arm, wie sie Rüdiger auf der MS Anetta zuprosteten. Catrin stand im Hintergrund. Diese Catrin! Wie sie ihn angemacht hatte! Er schmunzelte.

      Die folgenden Bilder, die er jeweils nur kurz betrachtete, bestanden aus Nahaufnahmen von Horst, Renate und Thalberg mit seiner Frau Marianne. Dann folgte ein Schnappschuss von Catrin dem nächsten. Im monotonen Takt sprang Oliver mit dem Finger auf der Fernbedienung von Foto zu Foto: immer wieder Catrin, Catrin, Catrin. Bei einer Zoomaufnahme von ihr und Björn stockte er. Es schien, als blicke das Ehepaar direkt in die Linse. Olivers Finger schaffte es nicht, die Weiter-Taste zu drücken. Sein Blick haftete auf dem Bild. Er bekam den Eindruck, dass hier zwei fremde Menschen nebeneinander hergingen. Aus ihren Augenpaaren seufzte Müdigkeit, und ihre Lippen waren so dicht aufeinandergepresst, als wolle keiner von beiden je wieder einen Satz zum anderen sagen.

      Oliver drückte die Taste, der Beamer blätterte weiter. Die Projektion flackerte drei Sekunden. Nicht den Geist aufgeben, beschwor Oliver das Gerät, und das Bild beruhigte sich. Die Fotografie, die nun an der Wand erschien, war die selbe Aufnahme wie die vorangegangene, mit einem entscheidenden Unterschied: Oliver hatte Björns Gesicht aus einer Laune heraus gegen sein eigenes Konterfei ausgetauscht. Zum Spaß. Die Nachtschicht war ruhig gewesen, so hatte er Zeit für Photoshop gehabt … Ja, Catrin faszinierte ihn. Das Gespräch mit ihr auf der Anetta ging ihm einfach nicht aus dem Kopf. Er hatte gefühlt, dass zwischen ihr und ihrem Ehemann etwas Ungutes schwelte. Vermutlich verstieg er sich deshalb zu der Idee, wie es wohl wäre, wenn er und sie … Er lachte. Wie kindisch und naiv er doch sein konnte! Er war vierzig und doch ein Kind. Er war froh, dass die Fotomontage in seinem Spind geruht hatte, während die Polizei seine Wohnung durchsucht hatte. Nicht auszudenken, welchen Strick die Beamten ihn aus diesen Bildern drehen konnten!

      Oliver lehnte sich zurück und nahm einen tiefen Schluck Grüntee.

      »Catrin, du hast Recht! Ich bin ein Suchender! Auf allen Ebenen!«, sagte er laut zu ihrem Abbild an der Wand. Wie zum Protest flackerte das Lichtbild; Catrins Gesicht verzog sich zu einer Teufelsfratze. Dann klackte es im Beamer und die Wand verdunkelte sich schlagartig. Nur die Belüftung föhnte weiter.

      »Na, wenn das keine Antwort ist«, scherzte Oliver. Er drückte die Off-Taste und stand auf. Nachdenklich schlüpfte er in ein Sakko, während sein Blick an der weißen leeren Wand klebte. Für einen Sekundenbruchteil schien es, als habe sich Catrins Foto in den Putz gebrannt, so wie ein unbewegtes Computerbild sich in den Bildschirm frisst.

       Kapitel 10

      Die Schiebetür des Hospitals glitt zur Seite. Christian sog frische Sommerluft durch die Nase.

      »Ich bin immer froh, wenn ich aus Krankenhäusern bin«, sagte er zu Alex, der neben ihm ging und Louis in der Babyschale trug. Er lächelte. Sanft strich er Christian über den Rücken. Seine erste Berührung seit Tagen. Das erste Lächeln. Christian schluckte.

      »Jetzt haben wir es hinter uns«, sagte Alexander und küsste Christian auf den Mund. »Ich liebe euch zwei!«

      Die Augen des Geküssten glitzerten. Bedenken wollte er im Augenblick nicht anmelden. Jetzt haben wir es hinter uns – der Satz entsprach nur der halben Wahrheit. Louis war aus dem Krankenhaus entlassen, ja, aber ob der Atemstillstand zu Folgeschäden führte, blieb offen. Das würde sich, wenn überhaupt, erst in ein paar Jahren zeigen. Christian erwiderte den Kuss. Die Berührungen hatten ihm in den letzten Tagen gefehlt. Alexander hatte sich jeder Nähe verweigert.

      »Du hättest ihn nicht alleine lassen dürfen!«, warf er Christian immer wieder vor und wollte nichts davon wissen, dass er ihn nach oben zum Kuchenbuffet zitiert hatte. Aber die Krise war überstanden. Louis durfte nach Hause, und nur darauf kam es an.

      Plötzlich erstarb Christians Lächeln. Er tippte auf Alexanders Schulter. »Schau mal, wer da kommt.« Er deutete mit dem Kinn auf Oliver, der den beiden eiligen Schrittes entgegen kam.

      »Was will der hier? Sichergehen, dass er Louis auch umgebracht hat?«

      »Nimm mal«, gab Alexander zurück und drückte ihm die Babyschale in die Hand.

      »Wo willst du hin?«

      »Ich frag ihn.«

      »Alex!«, zischte Christian hinter ihm her. Doch sein Mann beachtete ihn nicht. Chris trat von einem Bein auf das nächste, blickte zu Louis hinunter, nahm ihm den Schnuller vom Bauch, den der Kleine immer ausspukte, nachdem er eingeschlafen war. Eine Brise wehte Alexanders Lachen zu ihm herüber. Was gab es zu lachen? Neugierig ging er auf die beiden zu.

      »Woher