Jonas Nowotny

Die Kinder der Schiffbrüchigen


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Draußen krachte der Donner.

      »Komm«, hauchte die unschuldige Bunnystimme. Björn atmete tief durch die Nase. Rosenduft stieg ihm in den Kopf, irgendwo kokelte ein Räucherstäbchen. Sie hatte ihn. Ihre Arme schlangen sich um seinen Körper. Sie drückte sich an ihn, küsste seinen Hals. »Du bist ja ganz nass«, flüsterte sie und ließ Ihre Hände an seine Taille wandern. Sie griff nach dem Bund seines Sweatshirts, schob es in die Höhe und mit Björns widerwilliger Hilfe über seinen Kopf.

      »So ist es viel besser, oder?«

      Das T-Shirt fiel als nächstes. Catrins Mund glitt küssend über seinen Oberkörper, ihre Nägel kratzten seinen Rücken und fuhren schließlich hinunter und wanderten nach vorn zur Gürtelschnalle. Wie ein im Lichtkegel paralysiertes Reh starrte Björn geradeaus. Konzentriert versuchte er, die Beherrschung zu bewahren. Kein Körperteil sollte etwas tun, das er nicht wollte.

      »Schatz, ich hatte einen schweren Tag.« Er hielt ihre Hände, aber sie entglitten ihm sofort.

      »Stimmt etwas nicht?«

      »Alles in Ordnung«, log er. »Ich hatte eben viel Arbeit heute.«

      »Entspann dich, lass dich einfach fallen«. Ihr laszives Flüstern drang in sein Ohr. Regungslos ließ er sich aus der Hose schälen und ins Badezimmer bugsieren. Kurz bevor sich sein Blutpegel vollends in mittlerer Körperregion zuspitzen konnte, entdeckte er das verräterische Urinteststreifenpäckchen am Waschbecken. Catrins Lust, erkannte er ernüchtert, entsprang keiner echten Zuneigung, Liebe oder dem animalischen Bedürfnis nach körperlicher Vereinigung. Nein. Allein ihr Eisprung fand statt. Sie hatte ihn penibel errechnet, mit einem LH-Teststreifen überprüft und danach die Babysitterin organisiert. Björns Blut floss zurück in seinen Kopf.

      »Ich bin wirklich nicht in Stimmung.« Er schob sie beiseite und stieg in die Dusche. Catrins gefrorenes Lächeln verschwand hinter dem Duschvorhang.

      »Das Weib ist ihres Leibes nicht mächtig, sondern der Mann«, lockte sie mit süßer Stimme. »Desgleichen der Mann ist seines Leibes nicht mächtig, sondern das Weib.« Catrin schob den Vorhang zur Seite und folgte ihm in die Dusche. Sie wich vor den kühlen Tropfen zurück, die ihren nackten Körper sprenkelten, griff am Hahn und drehte ihn nach links. »Entziehe sich nicht eins dem andern.« Jetzt stand sie hinter ihm, griff nach dem Schwamm, rieb ihm damit die behaarte Brust und küsste seinen Nacken.

      »1. Korinther, Vers 7«, seufzte Björn. Er fühlte die beinahe schmerzhafte Wärme ihres weichen Busens an seinem Rücken. Sein Blick fiel auf das unscheinbare Pflaster in seiner Armbeuge. Sofort erschien das Bild der Kanüle vor Augen, die sich allmählich mit seinem Blut für den zweiten Test füllte. Ekel überkam ihn. Ihm graute vor sich selbst, vor seinem Blut, seinem Speichel und seinem Samen, auf den Catrin heute abzielte. Dem Teststreifen nach stand sie kurz vor dem Eisprung, ihrer fruchtbarsten Zeit im Zyklus, und jetzt verlangte sie von ihm, dass er sie erkannte, wie Adam Eva erkannt hatte damals im Paradies. Er selbst war jüngst aus dem Paradies verstoßen worden. Bis es auch Catrin erfuhr, konnte es nicht mehr lange dauern. Sie seifte ihn ein, führte den Schwamm sanft über seinen Leib. Du kannst mich nicht reinwaschen, Weib, dachte er, der Schmutz sitzt zu tief in mir.

      Catrin stöhnte, fasste ihn an der Taille und drehte ihn zu sich um. Mit halbgeschlossenen Augen und halbgeöffnetem Mund blickte sie ihn an. Sein Bunny war da. Ihre Lippen trafen sich. Herr, schmeckt sie gut!, durchfuhr es ihn. Er zitterte. Catrin sank auf die Knie. Björn konnte sich im Spiegel beobachten. Ein Fluchtimpuls durchzuckte in, doch Catrins fester Griff an Po und Schenkel machte ihm klar, dass Flucht unmöglich war. Vor Selbstekel schloss er die Augen, entzog sich seinem Spiegelbild und gab sich geschlagen. Er war ein leichtes Opfer. Noch nass zerrte sie ihn ins Schlafzimmer, legte ihn ins Bett, setzte sich auf ihn, kreiste mit dem Becken, stöhnte, ritt. Björn gab auf. Seine Hände wanderten über ihren Körper, an ihre Brüste, er richtete sich auf, küsste sich an ihnen betrunken, bis er das Gefühl für die Zeit verlor und in eine andere Welt abtauchte …

      ***

      Sie hat bekommen, was sie wollte. Wie immer, dachte Björn, noch während er kam. Catrin empfing seinen Samen und mit Gottes Willen würde er mit ihr verschmelzen, zu ihrem vierten Kind heranwachsen. Sein Sperma würde ein Leben stiften. Oder es brachte Catrin den siechen Tod. Seine Frau küsste ihn atemlos und ging ins Badezimmer. Sie verwandelte sich zurück in die graue Maus, die sie gewöhnlich war.

      Björn starrte an die Schlafzimmerdecke. Das kurze Empfinden des Einssein wich einem schalen Geschmack im Mund. Er fror. Sein Körper klebte vor Schweiß. Ekel. Selbstverachtung plagte ihn, und er richtete seine Worte an Gott: Herr, sie fragte mich, ob etwas nicht mit mir stimme, und ich antwortete ihr »nein«. Und erneut habe ich gegen deine Gebote verstoßen. Du sollst nicht lügen. Denn auch Schweigen ist Lügen. Aber wie kann ich ihr eine solch ungeheuerliche Wahrheit überbringen? Jesus sagt, wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein. Catrin ist rein, Herr. Sie wird sich bücken, einen runden Stein aus dem Staub heben, nicht groß genug, um mich zu töten und nicht klein genug, um mich unversehrt zu lassen. Und sie wird ihn auf mich werfen, ohne Schuld, denn sie ist rein, Herr, und meine Schuld wiegt schwer. Wie konnte ich nur glauben, du hättest mir verziehen und vergessen? Herr, ich weiß, ich habe keinen Grund zu klagen, denn du bist gerecht und ich verdiene deine Strafe. Aber ich flehe dich an: Verschone meine Familie. Lass den Kelch an meiner Frau vorübergehen. Lade nicht mehr Schuld auf mich, als ich tragen kann, Herr, und gib mir die Kraft, mich Catrin zu offenbaren. Catrin ist eine gute Mutter, eine gute Ehefrau, und sie hat es nicht verdient, dass ich sie ins Verderben ziehe. Herr, siehst du nicht meine Verzweiflung? Strafe sie nicht für Sünden, die ich begangen habe. Gib mir diese letzte Chance. Ich gelobe Besserung, Herr. Habe ich die beiden vergangenen Jahre nicht gezeigt, dass ich es besser kann? Habe ich nicht nach deinen Geboten gelebt? Gib mir die Möglichkeit, dir zu zeigen, wie ernst es mir ist. Bitte lass ein Wunder geschehen, Herr. Lass Gnade walten und eine Verwechslung vorliegen. Lass sich alles in Wohlgefallen auflösen. Du kannst es, Herr, denn du bist groß, und dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.

       Kapitel 9

      Als Oliver erwachte, brauchte er einen Moment, bis er das summende Geräusch im Raum dem Beamer über seinem Kopf zuordnen konnte. Das Gerät warf noch immer ein Bild an die blanke Wand. Die Couch, auf der er eingeschlafen war, knarzte unter ihm, als er sich reckte. Sein Blick streifte das gerahmte Foto auf dem Beistelltisch. Es zeigte eine von Krankheit gezeichnete Frau. Durchsichtige Schläuche liefen über ihre spitz vorgetretenen Wangenknochen und trafen sich unter der dünn gewordenen Nase. Manchmal fragte Oliver sich, warum er gerade dieses Foto von ihr gerahmt hatte. Warum nicht eines, auf dem sie noch sich selbst glich? Die Fotografie zeigte ein bleiches und knochiges Tier – nicht seine Mutter. Mit dem wütenden Krebs im Körper hatte sie ihm endlich die Wahrheit erzählt und ihm den silbernen Talisman übergeben. Oliver fand, dass aus ihren Augen eine Mischung aus Angst und Erleichterung sprach.

      Die letzten Tage ihres Lebens hatte sie sich ihre Schuld von der Seele geredet. Ihre Angst, er habe bereits um die unrühmliche Familiengeschichte gewusst oder zumindest etwas geahnt, war völlig aus der Luft gegriffen. Bis zu dem Tag, an dem ihm ein Eintrag in ihrer Krankenakte verdächtig vorkam, hatte er in glückseliger Unwissenheit gelebt. Die im Nachhinein betrachtet recht deutlichen Andeutungen von Nachbarn und Familienangehörigen hatte er weggewischt, ohne sich über sie Gedanken zu machen. Den Zweifeln, die ihn während der Pubertät überfallen hatte, war er nicht nachgegangen. Mit jeder Minute ihrer Erzählung fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, und das Gefühl, betrogen worden zu sein, wuchs. Es war, als lege jemanden einen Schalter in seinem Kopf um. Er fühlte sich nicht mehr wohl am Bett seiner kranken Mutter. In der Villa der Eltern würde er nicht wohnen bleiben können. Die Berichte seiner Mutter waren wie Evas Apfel gewesen: Zwar hatten sie ihm Erkenntnis beschert, ihn jedoch auch aus dem Paradies befördert ... Dachte er jetzt schon im Vokabular von Catrin? Seit Sonntag ging sie ihm nicht mehr aus dem Kopf. Er seufzte und dachte zurück an das Verhör auf dem Präsidium. Auch wenn ihm die Beamten nicht abnahmen, dass er vor drei Tagen mehr oder weniger zufällig am Ort des Geschehens gewesen war, war er doch froh, nichts von den Familienhintergründen erzählt zu haben. Die zweite Speicherkarte, auf die er die Bilder