Jonas Nowotny

Die Kinder der Schiffbrüchigen


Скачать книгу

      »Er atmet!«, rief der Arzt, über Louis gebeugt.

      Um Christians Herz wurde es leichter. Er ging zu Alexander.

      »Machen Sie weiter!«, wies der Arzt ihn an, »ganz langsam und gleichmäßig pumpen!« Er übergab Alexander die Beatmungshilfe, die einem Blasebalg ähnelte. Christian sah den Schlauch, den sie Louis in das dünne Ärmchen gesteckt hatten …

      »Er darf nicht sterben!«, keuchte Christian. Ihm wurde schwarz vor Augen. Taumelnd sackte er zu Boden. Von weit her hörte er Alexander sagen: »Er hat ordentlich Rauch abbekommen.«

      Dann verdichteten die Worte sich zu einem unverständlichen Klumpen. Um Christian wurde es still.

       Kapitel 5

      Oliver konnte die Erlebnisse des gestrigen Tages noch immer nicht fassen. Mit dem Wunsch, ein Gesicht zu seinen Vorstellungen zu erhalten, war er losgezogen. Gewonnen hatte er ein Heer von Eindrücken, die er noch nicht einzuordnen vermochte. Er hatte die halbe Nacht in seiner neuen Wohnung wachgelegen, den silbernen Talisman in der Hand. Immer wieder drängte es ihn an den Computer, um sich die Photographien anzusehen. Wie es Louis wohl ging? Ob er gestorben war? Gleich nachher würde er Erkundigungen einholen; die Kollegen im Krankenhaus wussten gewiss Bescheid.

      ***

      Andächtig drehte er den Schlüssel im Schloss der massiven Tür zu der Villa, die einmal sein Zuhause gewesen war.

      »Machen Sie die Fotos für das Exposé selbst?«, fragte der Makler und deutete auf die Kamera. Oliver schüttelte den Kopf.

      »Nein, mit dem Verkauf möchte ich nichts zu tun haben. Die Canon ist nur eine Macke von mir.«

      Im Mundwinkel des Maklers zuckte ein Lächeln. »Verstehe. Dabei lassen Erinnerungen sich schlecht fotografieren«, stellte er fest.

      »Stimmt«, gab Oliver zurück.

      »Führen Sie mich herum?« Der Makler setzte eine geschäftige Miene auf.

      Oliver nickte. »Am besten, wir beginnen oben, im Speicher.«

      Wieder ein nervöses Zucken, bevor er Oliver die ausladende Treppe hinauf folgte. Die Stufen knarzten.

      »Die Villa wurde 1895 fertiggestellt. Mein Ururgroßvater ...« Oliver stockte, als würde er sich eines Fehlers bewusst. »Das Haus ist seit seiner Erbauung in Familienbesitz«, fuhr er fort. »Mein Ururgroßvater hat die Pläne damals selbst entworfen.« Olivers Stimme war bar jeden Stolzes. Sie waren auf dem Speicher angelangt. Zwei Tauben flatterten auf, zogen an den geduckten Köpfen der Männer vorbei und gelangten durch die zerbrochene Scheibe nach draußen.

      »Das Glas sollten Sie vielleicht ersetzen lassen«, empfahl Oliver dem Makler. »Ziehen Sie mir es vom Verkaufserlös ab.« Der untersetzte Mann nickte und kritzelte auf seinen Block eine Notiz. Er drehte sich um die eigene Achse. Der große Speicher wirkte trotz der vielen Gegenstände aufgeräumt.

      »Was ist mit all den Truhen und den Schränken? Nehmen Sie die noch mit?«, fragte der Makler.

      »Da sind nur alte Bücher und Familienfotos drin. In dem Schrank da hängt noch das Hochzeitskleid von meiner Urgroßmutter.« Oliver nahm einen tiefen Atemzug. »Setzen Sie mir die Entrümplungskosten ebenfalls auf die Rechnung.«

      »Herr Wagner, wenn Sie die Sachen nicht brauchen, dann lassen wir sie einfach stehen. Sie glauben nicht, wie die Leute sich auf solche alten Dinge stürzen. Der Käufer wird eine wahre Freude an den Schätzen hier haben.« Er gab sich entzückt.

      »Gut, soll er seinen Spaß haben, ich brauche die Sachen nicht. Gehen wir weiter.« Oliver stieg die Treppe hinunter.

      »Die Möbel hier würde ich ebenfalls gern stehen lassen«, sagte Oliver und der Makler schrieb mit zuckendem Mundwinkel. »Kein Problem. Wenn Sie sich sicher sind.«

      »Das obere Stockwerk habe ich die letzten zwanzig Jahre bewohnt. Ich habe keinen Bedarf, mich weitere Jahrzehnte mit den Möbeln zu umgeben.« Oliver sprach zu sich selbst, als müsse er sich dieser Tatsache noch einmal bewusst werden. »Meine Eltern haben ihre letzten Jahre im unteren Stockwerk verbracht. In der Beletage.«

      Der Makler schoss Fotos. Seinem zuckenden Mund entglitt bei jedem Foto ein »Sehr schön, sehr schön.«

      Sie waren im Erkerzimmer angelangt.

      »Donnerwetter! Ein Ausblick ist das hier!«

      »Ja, über die ganze Stadt. Aber es ist wie mit allem: Man gewöhnt sich schnell daran. Mein Ururgroßvater hat im hohen Alter hier immer gesessen und dem Rauch seiner Fabrik am Stadtrand nachgeblickt. Das Zepter hatte er da längst an seinen ältesten Sohn abgegeben. An meinen Großvater.« Oliver hielt einen Moment inne und beobachtete das nervöse Mundwinkelzucken des Maklers. Er fragte sich, ob der Druck, Immobilien vermitteln zu müssen, in dem sonderbaren Zucken ein Ventil gefunden hatte.

      »In der wievielten Generation, sagten Sie, ist das Haus in Familienbesitz?«

      »Ich sagte es noch nicht. Ich bin die vierte.«

      »Darf ich Sie fragen, warum Sie mit der Familientradition brechen? Vier Generationen! Das findet man heute selten. Ihnen muss doch das Herz bluten!«

      Oliver zog die Stirn in Falten.

      »Ich musste feststellen, dass dieses Haus in Wirklichkeit ein Kartenhaus ist. Ein Kartenhaus, das kurz vor dem Einsturz steht.« Der Makler riss die Augen auf. »Das war natürlich nur bildlich gesprochen.« Er lächelte. »Sagen wir, ich möchte den alten Muff hier loswerden. Mir etwas eigenes aufbauen.«

      Der Makler nickte mit ausdruckslosem Gesicht. Sie gingen die Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Vom Knarzen der Stufen begleitet, erzählte Oliver, dass die Firma, welche die Familie Wagner einst reich gemacht hatte, bereits von seinem Vater verkauft worden war.

      »Er wollte nicht in die Fußstapfen seines Vaters treten. Er steckte stattdessen all sein Geld in seine Idee … und damit in den Sand.« Oliver lächelte. »Außer dem Haus und ein paar Aktien ist uns nicht viel geblieben. Meine Eltern haben mehr oder weniger bescheiden gelebt.« Seine Worte klangen angesichts der antiken Möbel und der hochherrschaftlichen Räume leicht zynisch.

      »Dann war ihr Vater ein mutiger Mann«, bemerkte der Makler.

      Ein bitteres Lächeln huschte über Olivers Gesicht. »Vielleicht. In manchen Dingen allerdings war er … war er feige bis zur Bahre.« Wenn der Makler ihn in diesem Moment angesehen hätte, wären ihm Olivers feuchte Augen aufgefallen. Stattdessen fotografierte er die Zimmerdecken.

      »Der alte Stuck ist wundervoll«, entfuhr es ihm entzückt.

      »Was, meinen Sie, wird das Haus bringen«, erkundigte sich Oliver.

      »Ich werde das mit meinem Kollegen besprechen. Der kennt sich damit aus, wie sich der Denkmalschutz auf den Wert auswirkt. Trotzdem greife ich mit 1,4 Millionen Euro wohl nicht zu hoch. Es gibt 100 Ar Park um das Gebäude herum. Und es liegt im Herzen der Stadt, wie man so sagt. Also beste Lage.

      »Gut«, gab Oliver zurück, »den Maklervertrag haben Sie dabei?«

      Der Makler klopfte mit der flachen Hand auf eine Ledermappe. »Ich müsste noch ein paar Daten ergänzen.« Oliver zog sein Handy aus seiner Hemdtasche. »Gut, bereiten Sie bitte alles vor. Ich rufe derweil ein Taxi.«

      Die Unterschrift unter den Kontrakt fiel Oliver schwerer als erwartet. Der Schriftzug war lange nicht so schwungvoll und lässig wie gewöhnlich. Er rief sich ins Bewusstsein, dass er hier nicht den Verkauf der Villa, sondern lediglich die Suche nach einem Käufer genehmigte. Noch gab es ein Zurück. Vergilbte Bilder erschienen in seinen Kopf: Er spielt unten in der Halle Ball, bis er einen Porzellanteller von der Wand schießt. Mutter versetzt ihm wütend eine Ohrfeige. Wenige Minuten später sitzen Mutter und Sohn mit einer Tube Klebstoff verschwörerisch am Küchentisch und lösten das Porzellanscherbenrätsel. Oliver, sagt sie, du bist ein Lausejunge, aber ich hab dich lieb …

      Die