Jonas Nowotny

Die Kinder der Schiffbrüchigen


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make it great!«, bestätigt sie ihm.

      Ja, Alexander stellt sich vorbildlich an. Nur er, Christian, ist gefühllos wie ein Stein. Tränen kullern Alexander die Wangen herab. Eine tropft dem Baby auf die Stirn. Um den Mundwinkel des Säuglings zuckt ein Lächeln. Sicher, es ist ein unkontrolliertes Babylächeln, aber trotzdem glaubt Christian ein Band zu spüren, das sich in diesem Augenblick zwischen Alexander und Louis knüpft. Bonding sagen die Profis dazu. Und er ist außen vor. Er sitzt wie ein Unbeteiligter daneben.

      »Schau nur, unser Sohn«, flüstert Alexander. Christian begreift die Bedeutung der Worte, aber die Vatergefühle fehlen. Hass steigt in ihm auf. Ist er denn wirklich ein gefühlskalter Mensch? Er, der bei Liebesschnulzen Tonnen von Taschentüchern vollrotzt und seit Jahren an keinem Kinderwagen vorbeikommt, ohne den schmerzhaften Wunsch zu spüren, selbst Vater zu sein? Es ist ungerecht. Er hat das Thema Adoption angesprochen und vorangetrieben. Alexander hat sich lange gegen eine Adoption gesträubt. Er konnte dieses Bohei, das die Heterosexuellen um das Kinderkriegen machen, nicht nachvollziehen. Christian und er sind schwul. Sie dürfen sich ohne schlechtes Gewissen dem Fortpflanzungswahn ihrer Umgebung entziehen. Alexander findet das großartig. Und doch ist es jetzt Alexander, der im entscheidenden Moment jenes Gefühl zu haben scheint, von dem er, Christian, träumt und von dem so viele Adoptiveltern berichten: Sie fühlen im ersten Moment, dass es genau das richtige Kind ist. Sie hätten nie ein anderes gewählt. Christian versucht Louis aus den Augen eines Vaters zu betrachten. Doch er sieht in ihm einen Fremden. Er hasst sich dafür. Und als er Alexander verliebt auf Louis lächeln sieht, gesellt sich zu seinem Hass Neid. Alexander scheint vor Glück zu platzen und ihn, seinen Mann, völlig vergessen zu haben.

      »It's time for a little paperwork«, unterbricht die Adoptionsagentin die Familienzusammenführung und packt einen Stoß Papier auf das Tischchen. Christian schießt von der Couch hoch, nimmt seine Jacke.

      »Tut mir Leid. Ich kann das nicht! Das hier sollte sich anders anfühlen, besser, tiefer, richtiger. Vielleicht hab ich mich geirrt. Vielleicht sollte ich gar nicht hier sein. Ich kann nicht sein Vater sein.«

      Regungslosigkeit. Stille. Alexander scheint ihn nicht gehört zu haben, er lächelt abwechselnd Louis und der Agentin zu, in dessen Rücken Christian steht. In ihrer ausgestreckten Hand steckt ein Kugelschreiber.

      »Das ist dein Part – du musst unterschreiben«, sagt Alexander.

      Doch das Gesagte geht nicht in seine Richtung, sondern an den Typen, der neben Alexander auf dem Sofa sitzt. Christian sieht ihn den Stift nehmen, sich auf die Kante des Sofas vorschieben und begreift erst jetzt, dass er es ist. Nur in Gedanken ist er geflüchtet.

      »Shall I sign here?« Christian zwingt sich zur Ruhe. Das kannst du! Ist wie auf Arbeit in der Bank. Papier zum Anfassen, Unterschriften, Geld. Krakelig unterzeichnet er das Papier.

      Christians Vatergefühle wollen sich auch in den kommenden Tagen nicht einstellen. Deshalb übernimmt er bald die Logistik. Während Alexander Louis die Flasche gibt, die Windel wechselt und Wärme schenkt, hetzt er durch die überfüllten Straßen Philadelphias. Er besorgt Nahrung, Kleidung und alles, was sie für einen Alltag im Hotel brauchen. Die Rollen sind verteilt. Automatisch. Und anders als geplant.

       Kapitel 4

      »Alexander schickt mich. Du sollst das Kuchenbuffet eröffnen.« Rüdiger hatte den Kopf durch die schwere Mahagonitür der Lounge gesteckt.

      »Louis ist erst vor einer Minute eingeschlafen. Ich kann jetzt nicht«, flüsterte Christian.

      »Wenn ich ohne dich nach oben komme, schimpft Alex mich aus. Er sagt, er hat das Babyphone eingesteckt«, gab Rüdiger zurück.

      »Echt?«, murmelte Christian, »das ist mir nicht aufgefallen.« Er nahm den Babyzeugrucksack und fand das Babyphone tatsächlich im vorderen Fach. Er stellte den Sender unweit von Louis' Wagen ab. Plötzlich klingelte ein Handy. Christian fand es auf der Couch. Es war das Gerät seiner Mutter. »Marquart« stand auf dem Display. Nicht einmal am Wochenende lässt die alte Dame einen in Ruhe, schoss es Christian durch den Kopf. Er konnte nicht verstehen, warum Renate bei ihr im Haushalt schuftete, neben ihrem Hauptberuf in der Bäckerei. So schlecht konnte es seinen Eltern finanziell doch nicht gehen. Christian drückte den Anruf weg und küsste seinen Sohn auf die Stirn.

      »Bis später.« Er folgte Rüdiger aus der Lounge, die Mahagonitür schloss er nur halb.

      ***

      Christian war kein großer Redner und deshalb erleichtert, dass Alexander diesen Part übernahm. Die Gäste versammelten sich auf dem Freideck. Sein Mann prostete in die Runde. Die etwa fünfzig Gäste grüßten zurück. Oliver stand am Rand und knipste Bilder.

      »Blut ist dicker als Wasser, warnten uns die Leute, als wir von unseren Adoptionswünschen zu erzählen anfingen«, begann Alexander, während er seinen Blick auf den Boden gerichtet hielt, »wir haben uns aber keine Angst einjagen lassen. Es braucht mehr als einen gemeinsamen Genpool. Davon sind wir überzeugt. Geteilte Erfahrungen, Erlebnisse, zum Beispiel dieses Fest heute, und Liebe – das ist es, was eine Familie wirklich ausmacht. Nicht das Blut.« Alexander biss sich auf die Unterlippe und streifte mit einem Blick die Gesichter der Gäste.

      »Lasst uns auf die erste gemeinsame Feier anstoßen!« Er hob das Glas. »Prost!«

      »Prost!«, grüßten die Anwesenden zurück.

      »Das Buffet ist eröffnet!«, rief Christian fröhlich, um nicht völlig unbeteiligt zu bleiben.

      »Endlich! Mir hängt der Magen schon in den Kniekehlen«, kommentierte Rüdiger. Verfressen wie eh und je, dachte Christian unwillkürlich. Und doch: Die Furchen um Rüdigers Mund waren tiefer geworden. Die Krankheit hatte begonnen, sein Äußeres zu zeichnen, unauswischbar, wie ein Tattoo. Christian beobachtete Rüdiger, wie er sich in den Oberdecksalon begab. Durch die Glasfront sah er ihn einen Kuchenteller vom Stapel nehmen und ihn mit Kuchenstücken beladen.

      Der Salon füllte sich.

      »Willst du nicht mit reinkommen?«, fragte Alexander und küsste Christian auf die Stirn.

      Christian seufzte. »Nein. Ich mag's nicht, wenn so viele Leute aufeinander sind. Ich glaube, ich warte, bis der Trubel sich gelegt hat.«

      Alexander nickte. »Ich kann dir aber nicht versprechen, dass dann noch was von der Käsesahne da ist.« Alexander lachte und umarmte seinen Mann. Eine Möwe zog kreischend über das Paar hinweg, im Babyphone knackte es. Christian sog Alexanders Duft ein und hielt ihn fest. Er liebte die Momente, in denen er sich an seinen Mann stützen konnte.

      Plötzlich schrie jemand auf. »Raus hier!«

      Die Gastgeber blickten sich fragend an.

      »Feuer!«, brüllte Rüdiger. Die Menschen, die sich eben noch in den Salon gedrängt hatten, drängten zurück aufs Freideck. Blitzschnell füllte der Saal sich mit weißgrauem Rauch.

      »Louis!« Christian geriet sofort in Panik. »Ich muss runter zu Louis!« Er schob sich an den Gästen vorbei in den verrauchten Salon. Es vergingen nur Sekunden, ehe er hustend zurück auf Deck stürzte. »Da kommen wir nicht durch«, keuchte er. Auf der Anetta wurde das Treiben panisch. Die Partygäste schrien durcheinander.

      »Feuerwehr, ruft doch jemand die Feuerwehr!«, schrie Renate. Horst schwankte neben ihr; seine Pupillen hetzten durch die Augenhöhlen, als suchten sie einen Fluchtweg. Christian blickte über die Reling. Der schmale Sims oberhalb der Fenster des Unterdecks schien ihm die einzige Möglichkeit.

      »Ich geh da drüber«, erklärte er knapp. Alexander schüttelte den Kopf. »Das ist viel zu schmal, du kannst dich nirgends halten! Du fällst ins Wasser!«

      Christian kniff die Augen zusammen. »Ich muss es wenigstens versuchen. Louis erstickt!«

      »Die Lounge ist abgeschlossen. Vielleicht ist noch gar kein Rauch drin!«

      Das Babyphone knarzte und übertrug Louis' Weinen. Christian warf Alexander einen eindringlichen Blick zu.

      »Nein,