Jonas Nowotny

Die Kinder der Schiffbrüchigen


Скачать книгу

ein Kind geben?« Oliver war ehrlich an dem Prozedere interessiert, als beträfe ihn das Thema persönlich. Und das tat es auch, das wurde ihm in diesem Moment bewusst.

      »Selbstverständlich brauchten wir einen Sozialbericht«, sagte Christian. »Wir wurden insgesamt acht Mal von der amerikanischen Sozialarbeiterin besucht, ehe wir Louis zugesprochen bekamen. Nur das deutsche Jugendamt, das haben wir nicht gefragt.«

      »Und das lässt sich das Amt so gefallen?« Oliver war verblüfft. »Eine Adoption quasi durch die Hintertür, da sollte man meinen, das Amt wäre ...« Er unterbrach sich selbst, weil Christians Blick sich verfinsterte.

      »Ich denke, das Thema Behörden lassen wir heute lieber«, schlug Alexander ruhig vor, »da liegt das eine oder andere im Argen.«

      »Genau«, gab Oliver retour und wich einen Schritt zurück. »Ich mische mich dann mal unter die Leute und mach ein paar Fotos.« Er nickte den beiden Männern freundlich zu und schnappte sich zur Nervenberuhigung ein Glas von den Tablett, das ein Kellner eben an ihm vorbeitrug. Wow, dachte er, nachdem er den Sekt auf Ex geleert hatte, was für eine kaputte Familie: Zwei Homos und ein schwarzes Baby! Außerdem irritierte ihn der Familienname Thalberg. Hatte der Hausmeister nicht von einer Feier der Benschs gesprochen? Oliver ließ Revue passieren, was er bisher wusste: Der Kapitän, Claus Thalberg, war der Großvater des adoptierten Babys Louis und Vater von Alexander Thalberg. Der Christian ... Christian! Oliver schluckte; kalt traf ihn die Erkenntnis. Er zoomte auf Christian. Die Kamera klickte drei Mal. Wenn Christian ihr Sohn war, dann ...

      »Na, auch heimlich in den Typen verliebt?«, unterbrach jemand seine Gedanken. Oliver senkte die Kamera. »Wie bitte?«

      Er musterte den hochgewachsenen, auffallend schlanken Mann, der sich neben ihn gesellt hatte. Sein Krawattenknopf saß passgenau am ordentlich aufgestellten Hemdkragen. Nur die rote Schleife wollte nicht recht zu dem braunen Anzug passen.

      »Leidensgenosse Rüdiger«, stellte sich der Fremde vor.

      »Leidensgenosse?«, erwiderte Oliver, »ich glaube nicht, dass ...«

      »Ach, zier dich nicht.« Der Schlanke grinste. »So oft, wie du die jetzt fotografiert hast. In welchen der beiden bist du denn verknallt?«

      Ein scheues Lächeln huschte Oliver über die Lippen. Hielt Rüdiger ihn für schwul?

      »Ich bin der Eventfotograf«, antwortete Oliver schnell. In das Gesicht des Unbekannten stieg ungesunde Röte. Verlegen nippte er am Orangensaft. »Entschuldigen Sie.«

      Oliver schmunzelte. »Und zu welchem Teil der Familie gehörst du?«

      Rüdiger seufzte. »Der Dunkelblonde ist mein Ex. Schau dir nur die Grübchen an, wenn er lächelt!« Er verschränkte die Arme und seine Stimme wurde ernst. »Zwei Jahre waren wir zusammen, bis ich Idiot dienstlich ein Jahr nach Australien musste und prophylaktisch mit ihm Schluss gemacht hab. Ich wollte ungebunden sein in Down Under.« Wieder nippte er an seinem Orangensaft. »Lass uns Freunde bleiben, hab ich zu ihm gesagt. Und als ich zurückkam, war er mit dem anderen verlobt.« Er deutete auf Alexander. »Freunde sind wir tatsächlich geblieben.« Oliver beobachtete Christian und wartete auf ein grübchendurchzogenes Lächeln, aber es erschien keines. Stattdessen erklang jetzt die Schiffsglocke, ein Dieselmotor röhrte und durch das Schiff zog ein Ruck. Thalberg hatte Fahrt aufgenommen. Die Anetta entfernte sich rasch vom Ufer.

      »Achtung!«, raunte Rüdiger ihm zu, »Catrin im Anmarsch! Das kann interessant werden. Vielleicht sollte der Bildberichterstatter näher treten.«

      »Who the fuck is Catrin«, murmelte Oliver und beobachtete die ganz in Schwarz gekleidete Frau, die jetzt auf das Elternpaar zuging. Sie trug ein kleines Mädchen im Arm; ein weiteres hatte sich scheu an ihr Kleid geklammert. Am anderen Arm baumelte lässig ein Weidenkorb.

      »Alex' Schwester und ihr Mann«, erklärte Rüdiger und deutete mit dem Kinn auf den farblosen Mann, der Catrin folgte. Auch er trug ein Mädchen im Arm. Oliver traf ein Blick aus Catrins nussbraunen Augen. Sie strahlten aus einem blassen, aber porzellanpüppchenschönen Gesicht zu ihm her. Für ein paar Sekunden stockte ihm der Atem.

      »Catrin!«, rief Alexander mit sektgelöster Stimme, »mit euch hab ich nicht wirklich gerechnet!«

      »Mama und Papa haben drauf bestanden«, antwortete Catrin trocken und stellte den Weidenkorb neben sich auf die Schiffsdielen.

      Alexander schien das Gesagte nicht zu enttäuschen. Er wandte sich lächelnd dem Mädchen auf ihrem Arm zu.

      »Schön, dass du da bist, Maria.« Speckbäckig sabberte die Kleine auf ihr weißes Kleidchen. Alexander streichelte sie über die Wange und begrüßte die beiden älteren Mädchen. »Gut Euch zu sehen.« Zuletzt reichte er Björn, Catrins Ehemann, die Hand.

      »Lasst uns anstoßen!«, sagte Alexander.

      »Du weißt, dass wir nicht trinken«, entgegnete Catrin. Die Kälte ihrer Stimme wehte zu Oliver herüber. Er wischte sich eine wohlige Gänsehaut vom Arm.

      »Wir haben für den Fall der Fälle auch Kindersekt«, mischte sich nun Christian ein, der sich zuvor, der Begrüßung entziehend, etwas abseits gestellt hatte. Catrin brachte ein steifes Lächeln zustande. »Also gut.« Sie linste in den Kinderwagen. »Der Junge schläft friedlich, als ginge ihn die ganze Chose hier nichts an«, sagte sie.

      Alexander überging die Bemerkung. Er schnitt Oliver eine Grimasse, während er sich am Verschluss des alkoholfreien Sekts abmühte. Oliver drückte auf den Auslöser.

      Catrin reichte ein Glas an Björn. »Bekomme ich auch einen?«, fragte Rebecca, Catrins Älteste. »Aber natürlich!«, antwortete Alexander und gab der Achtjährigen den nächsten Sekt.

      »Du auch einen, Ruth?«, erkundigte sich Christian, während er bereits einen Kinderbecher füllte, »der schmeckt ganz lecker! Den trinke ich auch immer!«

      Statt ihrem Onkel zu antworten, vergrub Ruth ihr Gesicht im Baumwollrock der Mutter.

      »Sie darf bei mir nippen«, sagte Catrin, nahm den Becher und trank hastig, ohne jemandem zuzuprosten. »Übrigens, Becky«, fuhr sie fort, als sie den Becher absetzte, »magst du Louis nicht unser Geschenk geben?«

      Das Mädchen nickte. Entgegen Olivers Erwartung befand sich das Geschenk nicht in Catrins Weidenkorb. Becky nahm einen violetten Rucksack vom Rücken und zerrte ein schmal geschnürtes Päckchen heraus.

      »Das Geschenkpapier habe ich selbst bemalt«, erklärte sie stolz und überreichte Alexander das zerknitterte Paket.

      »Vielen Dank. Ich bin vorsichtig beim Auspacken.« Mit einem Messer, das auf dem Partytisch lag, schnitt er die bunten Schnüre durch und löste mit spitzen Fingern den Klebestreifen.

      »Schau mal, Christian, das Geschenkpapier hat Becky selbst gemalt«, sagte Alexander zu Christian, als habe dieser das Bisherige nicht mitbekommen. Er strich das Papier über seinem Knie sorgfältig glatt. Rote Herzen und gelbe Sterne umrandeten drei Strichmännchen.

      »Das bist du, Onkel Chris, und der kleine Louis«, erklärte Rebecca strahlend.

      »Habe ich sofort erkannt«, behauptete Alexander und drückte seiner Nichte einen Kuss auf die Stirn. Becky kicherte.

      »Wollen wir uns jetzt Louis‘ Geschenk vornehmen?«, fragte Alexander. Becky nickte. »Ich tippe auf Strampler«, sagte Alexander und faltete den weißen Stoff auseinander. Dann hielt er einen Moment inne, suchte Blickkontakt zu Catrin. »Du kannst es wirklich nicht lassen, oder?«, fragte er matt. Oliver sah ihn um Fassung ringen und drückte rasch den Auslöser, als Alexander das Kleidungsstück hochhob, damit auch Christian den roten Schriftzug lesen konnte.

      »Jesus loves me«, las Rebecca vor, »Das bedeutet: Jesus liebt mich.«

      »Danke für die Übersetzung, mein Schatz«, erwiderte Alexander leise und schaute in Richtung seiner Schwester.

      »Der Kleine soll wissen, dass er trotzdem nicht verloren sein muss«, erklärte sie unschuldig. Alexander presste die Lippen aufeinander und nickte langsam, als begreife er endlich, welch schlechter Mensch