Jonas Nowotny

Die Kinder der Schiffbrüchigen


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      Oliver ging in die Hocke. »Dann mal einfach ein neues.« Er blickte sie mitleidsvoll an. Eine Träne kullerte ihr über ihre Wange. »Ich habe aber kein Papier mehr!«

      »Ich hab dir gesagt, du sollst aufpassen, Becky!«

      Oliver sah in die Richtung, aus der die weibliche Stimme gekommen war. Catrin hatte die Hände in die Hüften gestemmt. Das schwarzes Kleid und die dunklen Haare flatterten kontrastvoll zu ihrem elfenbeinblassen Gesicht im Wind. Becky hörte augenblicklich auf zu weinen. Mit verdrücktem Schluchzen wischte sie den Ärmel durch das Gesicht.

      »Geh zu deinem Vater und hol dir ein Taschentuch. Putz dir damit die Nase!« Rebecca nickte, warf Oliver einen flinken Blick zu und huschte davon.

      »Kindern kann man alles tausendmal sagen, sie tun es doch nicht«, sagte Catrin.

      »Hmm«, gab Oliver zurück. Er lächelte verlegen, »Da kann ich nicht mitreden, ich habe keine Kinder.«

      »Das geht manchmal schneller, als man denkt.«

      »Na, dafür bräuchte es eine Frau.« Oliver merkte, dass ihm Röte in die Wangen stieg.

      Catrin lachte. Olivers Unsicherheit schien ihr zu gefallen. »Wir wurden uns vorhin gar nicht vorgestellt«, sagte sie.

      »Ähm, ja.« Oliver war aus dem Konzept. »Ich bin... äh ... Oliver Wagner. Und Sie sind?«

      »Catrin, Alexanders Schwester.« Sie lächelte und schob sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Oliver fiel ein erbsenfeiner Perlenohrring auf.

      »In welchem Zusammenhang stehen Sie zu Christian?«, forschte Catrin.

      »Genaugenommen in keinem.« Oliver bemerkte, wie ihm die Stirn unter feinen Schweißperlen kribbelte. »Ihr Vater hat mich mit dem Fotografieren beauftragt.« Er deutete auf die Kamera.

      »Ach, verstehe. Dabei hätte ich schwören können, dass Sie zu seiner Familie gehören.«

      »Nein, tut mir Leid, da täuschen Sie sich.«

      Catrin zuckte mit den Schultern. »Macht ja nichts.«

      Die Verlegenheit lächelte aus Olivers Gesicht. Catrins Haare wehten im Wind, während sie ihn offen musterte. Er konnte ihren Augen nicht standhalten und wich aus. Alexanders Schwester hatte etwas an sich, das ihm gleichermaßen gefiel und abschreckte. Ein scheuer Seitenblick zeigte ihm, dass sie ihren Blick abgewandt und auf den Neckar gerichtet hatte. Sie sortierte ihr schwarzes Haar. Wieder sprangen Oliver die blassrosafarbenen Perlen ins Auge. »Schöne Ohrringe haben Sie. Flussperlen?«

      »Was für ein guter Beobachter!« Catrin lächelte anerkennend. »Ja, das sind Süßwasserperlen. Sie wurden angeblich vor hundert Jahren aus dem Neckar gefischt. Mein Mann hat sie auf dem Flohmarkt gefunden. Ich finde Sie wunderschön.«

      »Ja, das sind sie«, antwortete Oliver leise. Sein Blick spazierte über das glitzernde Wasser.

      »Darf ich Sie was Persönliches fragen?«, sagte Catrin gegen das Rauschen des Stimmengewirrs. Oliver nickte auf den Neckar hinaus.

      »Wonach suchen Sie? Weshalb sind Sie hier?«

      Oliver wandte sich Catrin zu, versuchte ihren Blick zu deuten, doch ihr Gesicht war verschlossen. Noch nie hatte ihm jemand eine so sonderbare Frage gestellt.

      »Ich verstehe Sie nicht. Ich sagte Ihnen bereits, dass Ihr Vater ...«

      »Oliver, keine Ausflüchte«, lachte Catrin, »Sie sind ein Suchender!«

      »Ein Suchender«, fragte Oliver heiser.

      »Ich merke es sofort, wenn Menschen etwas auf dem Herzen haben. Sie haben einen leeren Blick und es ist, als schauten sie durch einem hindurch.«

      Oliver runzelte die schweißnasse Stirn. »Und bei mir haben Sie das Gefühl, ich schaue durch Sie hindurch?« Er war sich unsicher, ob Catrin etwas wusste oder nur im Trüben stocherte. »Und was suche ich, Ihrer Meinung nach?« Oliver sah sie hart an; nicht noch einmal wollte er hören, er blicke durch Menschen hindurch.

      »Oh, ich bin Ihnen zu nahe getreten«, stellte Catrin fest.

      »Nein, so ist es nicht. Ich kann nur nicht verstehen, was Sie ...«

      »Oliver, es hat nichts Anrüchiges, ein Suchender zu sein. Alle suchen wir. Nach Wahrheiten. Nach Antworten. Nach einer Frau. Vielleicht nach Gott.« Sie hatte sich ihm zugewandt und schien auf eine Reaktion zu warten. Doch mehr als ein kehliges »ähm« brachte er nicht zustande. Er konnte es nicht fassen: Baggerte ihn gerade die Schwester des Gastgebers an? Oliver konnte sich nicht empören. Im Gegenteil. Er fühlte sich geschmeichelt. Catrin gefiel ihm, und dass Frauen ihm offen Interesse bekundeten, geschah nicht oft.

      »Sie müssen mir nicht antworten. Entschuldigen Sie. Es war unhöflich, Sie anzusprechen.« Catrin senkte den Blick.

      »Ihnen muss nichts leid tun. Ich war nur irritiert. Ich finde es schön, dass Sie sich für mich interessieren.« Wieder schwappte Oliver Röte ins Gesicht. Seit wann ließ er sich von Frauen derartig aus der Fassung bringen? Wieder diese Schweißperlen.

      Catrin hob den Kopf und lächelte erleichtert.

      »Also. Wonach suchen Sie?«

      Ehe Oliver sich darüber klar werden konnte, ob er ihr antworten wollte, unterbrach Catrins Mann die Unterhaltung.

      »Da bist du ja!«, sagte Björn und musterte Oliver.

      Catrin schien sich in keiner Weise ertappt zu fühlen und stellte die beiden Männer einander vor.

      »Wo sind die Kinder?«, fragte sie anschließend.

      »Bei Oma am Bug. Becky übt die Kate-Winslet-Pose. Wir sollten Oma nicht zu lange mit den Wirbelwinden allein lassen.« Björns Heiterkeit wirkte gezwungen.

      »Ach!«, meinte Catrin, »ich habe mich gerade so schön mit Oliver unterhalten. Und es wäre unhöflich, das Gespräch so angebrochen zurückzulassen.«

      Björn hob misstrauisch die Augenbrauen.

      Oliver stotterte: »Schon gut, Frau äh ... Thalberg?«

      »Wulf«, half Björn, der sichtlich ungeduldig wurde.

      »Es war schön, mit Ihnen zu plaudern. Aber ich müsste ohnehin mal für … ähm … kleine Fotografen.«

      Catrin zwirbelte neckisch an einer Haarsträhne. »Verstehe. Dann setzen wir das Gespräch gern ein andermal fort.« Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, dennoch entging Oliver nicht das vorwurfsvolle Glimmen in ihren Augen, mit dem sie ihren Gatten bedachte. Oliver lächelte dem Ehepaar verbindlich zu. Welch bizarre Familie!

       Kapitel 3

      Die Lounge der MS Anetta befand sich im vorderen Teil des Hauptdecks, zwischen der Treppe zum Oberdeck, der Toilette und dem Salon. Eine schwere Mahagonitür führte in den mit bequemen Sitzmöbeln und einer Bar ausgestatteten Raum. Christian stand am Tresen, schüttete einhändig Milchpulver aus dem Dosierer in Louis' Milchflasche und goss heißes Wasser aus der Thermoskanne darüber. Louis weinte schrill vor Hunger.

      »Gleich ist es so weit, mein Herz. Es ist noch zu heiß«, tröstete Christian und wiegte seinen Sohn im Arm. Mit der freien Hand schüttelte er die Flasche, damit die Milch rascher abkühlte.

      Die schwere Holztür öffnete sich leise. Renate steckte den Kopf herein. »Den habe ich dem Kellner abgenommen.« Sie hielt einen mit Eiswasser gefüllten Sektkühler. »Ich dachte mir, der Kleine hat Hunger. Und so geht es schneller.«

      Christian rang sich ein Schmunzeln ab. Er konnte ihr noch nicht ganz verzeihen, dass sie ihn eben allein mit seinem Vater hatte stehen lassen, um die unsägliche Catrin zu begrüßen. Aber Renate dachte mit, das musste er ihr lassen und, das war am wichtigsten, sie vergötterte ihren Enkel. Von dem ersten Tag an, als sei Louis ihr Fleisch und Blut. Sie gab eine großartige Oma ab. Ebenso wie sie eine großartige Mutter sein konnte, wenn sein Vater nicht in der Nähe war.