Jonas Nowotny

Die Kinder der Schiffbrüchigen


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Renate für ihn manchen Kampf mit den Lehrern ausfocht. Allein gegen einen Menschen musste er sich selbst behaupten: Horst. Seinen Vater. Ihm gegenüber war auch Renate machtlos.

      »Danke!« Christian lächelte und gab ihr die heiße Milchflasche. »Gleich ist es so weit, Süßer!« Er drückte Louis einen Kuss auf die Stirn. Das Wiegen beruhigte ihn.

      »Was wollte dein Vater denn?«, fragte Renate. Sie hatte den Blick fest im Sektkühler, rührte das Eis mit der Flasche.

      »Das Übliche. Er kippt wieder mal im Akkord Biere. Er wurde redselig und laut. Er wollte wissen, warum wir Louis nicht taufen lassen.«

      »Hm«, machte Renate. »Hat er's verstanden?« Sie hielt die Flasche prüfend an ihre Hand und packte sie dann zurück ins Eis.

      »Ich bin gegangen. Mir war's peinlich. All meine Freunde sind hier, und er führt sich so auf.«

      »Ärgere dich nicht über ihn. Er meint es nicht so.« Renate bedeutete ihm, sich auf die Ledercouch zu setzen. Die Milch hatte Trinktemperatur erreicht. Sie setzte sich neben ihn.

      »Wie hältst du das nur aus?«, fragte Christian. »Diese Sauferei, diese Demütigungen!« Er tauschte Louis‘ Schnuller gegen die Milchflasche. Sofort saugte Louis gierig daran.

      »Dein Vater ist krank«, sagte sie leise, »aber tief im Herzen ist er ein guter Mensch.«

      Christian blickte sie verständnislos an.

      »Er ist krank«, schob sie seufzend nach, »und genau deshalb darf ich nicht gehen.« Renate kramte in der Innentasche des Blazers. Sie fand ihr Handy, legte es beiseite und suchte weiter. Dann zog sie ein Taschentuch hervor und tupfte sich die Augen.

      »Alkoholiker können sich helfen lassen, Mama. Aber das tut er nicht! Er macht dich kaputt, er macht unsere Familie kaputt!« Christian flüsterte – nicht wegen Louis, sondern des Themas wegen, das große Familientabu. Dabei wusste alle Welt von Horsts Problemen. Dass er seine Frau schlug und seinen Sohn geprügelt hatte, bis dieser endlich ausgezogen war.

      Die Tür öffnete sich erneut. Oliver stolperte in den Raum. »Oh ... Verzeihung«, stotterte er, »ich suche die Toiletten.«

      Christian verdrehte die Augen und konzentrierte sich auf Louis, gierig saugte er am Milchfläschchen.

      »Sie müssen daran vorbeigegangen sein: Gleich links neben der Treppe«, erklärte Renate.

      »Danke, danke«, sagte Oliver und behielt ein paar Sekunden Blickkontakt mit Renate. Erst als sie sich abwandte und Louis über das krause Haar strich, zog Oliver den Kopf aus der Tür.

      »Wie der dich angegafft hat«, bemerkte Christian unwirsch.

      Seine Mutter schüttelte den Kopf. »Was du immer siehst!«

      »Also, mir kommt er komisch vor«, beharrte Christian. Renate winkte ab. Eine Stille, nur ab und an von Louis' Schmatzen unterbrochen, breitete sich aus. Renate und Christian hatten ihre Augen auf das trinkende Baby gerichtet.

      »Ich frag mich immer wieder«, sagte Renate nach einer Weile, »wer sie ist und wie es ihr jetzt geht.«

      Sie streichelte ihrem Enkel das Ärmchen.

      »Wem?« Christian konnte dem abrupten Themawechsel nicht folgen.

      »Seiner Mutter.«

      »Louis hat keine Mutter. Er hat zwei Väter.« Christians Ton wurde scharf. »Ich denke mal, sie ist froh, dass sie ihr Problem los ist«, sagte er und betonte das Wort Problem. Säuerlich nahm er Louis den Sauger aus dem Mund, hievte ihn über die Schulter und klopfte ihm vorsichtig den Rücken. »Er schluckt immer zu viel Luft, gierig, wie er ist.« Er wusste nicht, warum Renates Frage ihn ärgerte. Vielleicht, weil sie ihn daran erinnerte, dass zwei Menschen in Amerika seinem Sohn die Hautfarbe, die Form der Nase und alles andere, was sich vererben ließ, mitgegeben hatten. Nicht er und Alex.

      »Habt ihr sie denn getroffen?«, fragte Renate.

      »Wen?«

      »Seine Mutter«, sagte Renate ungeduldig. Christian schnaufte unwillig. Warum jetzt dieses Thema? Warum ihn an einen Menschen erinnern, den er so lange wie möglich zu verdrängen beabsichtigte? Sein Sohn würde früh genug Fragen nach seiner Mutter stellen. Aber heute, an Louis' Feier, wollte er nicht über sie reden.

      »Nein. Sie verließ kurz nach seiner Geburt das Krankenhaus. Drei Tage später hat sie die Adoptionspapiere unterschrieben. Das Thema ist für sie erledigt.« Christian setzte Louis die Flasche neu an, betrachtete ihn verliebt. »Wie man ein wundervolles Geschöpf wie ihn einfach weggeben kann!«

      »Meinst du nicht, sie hatte ihre Gründe?«, fragte Renate vorsichtig.

      »Ihr ist Louis einfach passiert«, sagte Christian und dachte: Und für Alexander und mich ist er das Beste, das uns passieren konnte.

      »Wir sollen nicht schlecht über die Herkunftseltern reden, ich weiß. Aber ich versteh es nicht, Mama! Es will einfach nicht in meinen Kopf! Wie kann man in einem Land wie den USA nur in eine Lage kommen, in der man keine andere Möglichkeit sieht, als ein so wunderschönes Baby einfach wegzugeben? Es gibt die Pille, Kondome, Spiralen.« Christian war aufgestanden und tigerte mit Louis im Arm durch den Salon.

      Renate schluckte.

      »So kenne ich dich gar nicht. Ihr schuldet seiner Mutter viel.«

      »Wir schulden ihr …?« Christian schüttelte den Kopf. »Das ist jetzt ein Scherz, oder?« Er blickte auf Renate herab. »Und nenn sie nicht immer seine Mutter! Man wird nicht automatisch Mama, nur weil man ein Kind gebärt. Dazu gehört ein wenig mehr.«

      »Vielleicht hast du Recht.« Renate stand auf. »Eine Mutter sollte alles versuchen, um ihr Kind zu behalten.« Sie hob den Sektkühler, lächelte. »Aber wer sagt dir, dass sie es nicht getan hat?«

      »Sie ist sofort gegangen«, sagte Christian. Abwartend blickte er seiner Mutter in die Augen. Sie fasste ihn am Kinn.

      »Ihre Not ist euer Glück. Vergiss das nicht. Versuche, ihr etwas Achtung entgegenzubringen.«

      Christian schluckte. Er wusste, dass sie Recht hatte. Beschämt senkte er die Augen. Renate ließ sein Kinn los.

      »Ich bring das Ding zurück.« Sie schwenkte den Sektkühler.

      Louis war über dem Trinken eingeschlafen. Christian nahm ihm den Sauger aus dem Mund und stellte die Flasche auf einem Tischchen ab.

      »Es wird dir an nichts fehlen, mein Sohn, das verspreche ich dir.« Bilder sprangen in ihm hoch, als blättere er in einem Popup-Buch. Das erste zeigt ihn, wie er in Philadelphia auf dem Sofa der Adoptionsagentur sitzt, nervös, gejetlagged, neben sich. Alexander sitzt bei ihm und ist trotzdem fern. Er sagt nichts, sitzt nur stumm da, mit einem Bein wippend, immer schneller, bis Christian es nicht mehr erträgt und die Hand auf sein Knie legt. Dann ist es so weit. Langsam geht die Tür auf. Eine schwarze Frau kommt herein. Sie trägt eine Babyschale, über der als Schutz ein dünnes Tuch liegt. Sie stellt die Trage auf das Tischchen und faltet den Stoff zurück. Da liegt er, die Augen geschlossen. Friedlich. Christian rückt näher an Alexander, schaut abwechselnd zum Baby, zu seinem Mann. Er kann die Situation nicht greifen. Alexanders Gesicht ist ein gefrorenes Lächeln. Wie oft hat Christian sich diesen Moment ausgemalt? Wie oft sich den Funken Liebe vorgestellt, der in diesem Augenblick überspringen würde? Unzählige Male der Wärme im Herzen nachgefühlt, die er empfinden würde, wenn er sein Baby zum ersten Mal sah.

      »That's your son. You are parents now!«, sagte die Frau und lachte. »Hold him, if you want.«

      Will er, besser: kann er das, dieses fremde Kind halten wie seinen Sohn? Christian fühlt Leere. Er blickt auf den Säugling und fröstelt. Da ist kein Funke. Alle Eltern finden ihr Baby wunderschön, schießt es ihm durch den Kopf. Aber Christian findet Louis mit dem zerknautschten Gesicht, dem riesigen Näschen und der schwarzen Haut einfach nur hässlich. Er soll der Vater sein? Von nun an? Von diesem Baby?

      »Darf ich?«, hört er Alexander fragen, der aufsteht und an der Babyschale nestelt. Louis öffnet die Augen,