Jonas Nowotny

Die Kinder der Schiffbrüchigen


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die doppelflügelige Tür. Vor der Villa standen zwei Polizeibeamten.

      »Herr Oliver Wagner?«, fragte ein langer hagerer Polizist, dem die Uniform nicht recht passen wollte. Oliver nickte. Sein Magen wurde flau.

      »Wir hätten ein paar Fragen an Sie. Würden Sie uns bitte auf das Präsidium begleiten?«

      Oliver gab sich ahnungslos. »Vielleicht könnten Sie mich vorher aufklären, worum es geht?«

      »Wir hörten, Sie waren gestern auf der MS Anetta und haben deshalb ein paar Fragen an Sie.«

      »Wer sagt, dass ich dort war?« Oliver merkte, wie einfältig seine Frage klang.

      »Was wollten Sie auf dem Schiff?«, überging der Beamte seine Frage.

      »Fotos machen.«

      »Fotos machen«, wiederholte der Fahnenmast mit ironischer Färbung. Oliver wusste, dass er den Beamten nicht die volle Wahrheit erzählen konnte. Sie war zu unglaubwürdig. Außer den Notizen seiner Mutter hatte er keinerlei Beweise. Und diese bewiesen nur eins: Sie war eine Betrügerin. Er befühlte das metallene Pfand in seiner Hosentasche.

      »Müssen wir das hier besprechen?«, fragte er schließlich.

      Die Polizisten beobachteten inzwischen den Makler, der nervös von einem Bein aufs andere tänzelte.

      »Ich höre dann von Ihnen«, verabschiedete Oliver ihn.

      »Äh, ja. Sicher.«

      Der Makler zuckte mit seiner Kaninchennase und ging. In den Augen des Polizisten spiegelte sich der graue Himmel. Der Wind frischte auf. Bald würde es Gewitter geben. Oliver stieg fröstelnd in den Polizeiwagen. Sie hatten nichts gegen ihn in der Hand. Gar nichts.

       Kapitel 6

      Der beißende Geruch von Rauch wollte Christian nicht aus der Nase. Alexander hatte ihn vom Krankenhaus nachhause geschickt. Er solle sich ausruhen – er könne ohnehin nichts für Louis tun. Alexanders kalter Blick ließ ihn noch immer frösteln. Wie konntest du ihn nur allein lassen? Der selbe Vorwurf, immer wieder. Innerlich widersprach er Alexander: Du hast mich doch rufen lassen! Du hast doch das Babyphone eingesteckt! Aber er schwieg und senkte den Kopf. Seine Hände zitterten, wenn er sich bewusst machte, wie knapp es um seinen Sohn gestanden hatte. Und es war noch nicht ausgestanden. Die Ärzte wollten Louis noch ein paar Tage zur Beobachtung in der Klinik behalten. Mit Prognosen bezüglich etwaiger Spätfolgen durch den Atemstillstand hielten sie sich zurück …

      Auch die Frage nach dem Täter drückte auf sein Gemüt. Der Schock, dass es offensichtlich jemanden gab, der ihm und seiner Familie Schaden zufügen wollte, saß tief. Wer war es? Wer steckte hinter dem Rauchbombenattentat? Zu gern hätte er geglaubt, Catrin stecke dahinter. Aber das war absurd. Sie war selbst Mutter. Eine Mutter konnte einem Kind niemals etwas zuleide tun. Aber es gab auch Mütter, die sich nicht um ihre Kinder scherten … Er wischte den Gedanken fort. Nein, Catrin war unschuldig. Er war froh, dass er sich Olivers vollen Namen gemerkt und der Polizei genannt hatte. Irgendetwas an ihm war ihm verdächtig vorgekommen. Hatte er mit dem Anschlag zu tun?

      Christian hatte sein Haus erreicht und lugte durch den Wurfschlitz in den Briefkasten. Mit einer unangenehmen Vorahnung schloss er den Kasten auf und nahm die Briefe heraus. Ausländeramt stand auf einem. Sein Puls beschleunigte sich. Er legte den Brief auf den Postkasten und betrachtete das andere Kuvert. Es trug den Stempel der amerikanischen Adoptionsagentur. Bevor er den Umschlag öffnen konnte, klingelte sein Handy. Die Titelmelodie von »Queer as folk« ertönte und ein Foto erschien auf dem Display. Nicht jetzt, Mama, dachte er und drückte den Anruf weg.

      Er wandte sich wieder der Post zu. Fünf Seiten geheftetes Papier im Kuvert der Adoptionsagentur. Auf dem Dokument klebte ein gelbes Post-it: »Congratulations!«

      Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Er überflog den englischen Text. Das offizielle Adoptionsurteil. Jetzt waren ihre Unterlagen endlich komplett. Sie würden das jämmerliche Gefühl, unvollständig zu sein, ablegen. Louis war jetzt hochoffizielles Mitglied der Thalbergfamilie, hier stand es schwarz auf weiß. Christian nahm ein weiteres Blatt aus dem Umschlag. Unglaublich, dass ihn einmal ein Dokument in Din-A5-Größe glücklich machen würde: die Geburtsurkunde seines Sohnes. Neben der Sterbeurkunde die einzige Ehrung, die man ohne eigene Leistung erhält, dachte er. Für ihn war dieses Stückchen Papier im wahrsten Sinn des Wortes eine Auszeichnung: Es zeichnete Alexander, Louis und ihn als das aus, was sie in ihren Herzen bereits waren: eine Familie. Vater, Vater und Kind.

      Das Handy klingelte wieder.

      »Ja, Mama?«

      »Wie geht es dir? Wie geht es Louis?«

      Christian konnte seine Mutter nur schwer verstehen. Sie flüsterte. »Mein Chef lässt mich nicht weg, aber heute Abend, wenn ich für Papa gekocht habe, komme ich ins Krankenhaus.«

      »Mama, das ist nett, aber ich bin schon wieder entlassen.«

      »Louis liegt doch noch im Krankenhaus, oder? Mein Gott, wer ist denn bei ihm?«

      »Alexander. Hör zu, Mama, ich muss Schluss machen, da ist Post vom Ausländeramt ...«

      Sie ignorierte das Gesagte. »Mein Gott, wer tut denn so was? Eine Rauchbombe! Habt ihr schon was von der Polizei gehört? Weiß man, wer es war?«

      Christian pochte das Blut in den Schläfen, was immer geschah, wenn Renates Stimmlage aus Sorge um ihn zwei Oktaven stieg. Er war im Moment nicht in der Lage, auf seine Mutter einzugehen. Der Anblick des Schreibens vom Ausländeramt lag ihm tonnenschwer im Magen.

      »Nein, Mama, wir wissen nichts. Lass uns später nochmal telefonieren, okay?« Christian legte auf. Gedrückt nahm er den Brief vom Ausländeramt. Er wusste, dass er keine guten Nachrichten enthalten konnte. Langsam riss er den Umschlag auf und entfaltete das Schreiben.

       Sehr geehrter Herr Christian Thalberg, sehr geehrter Herr Alexander Thalberg,

       hiermit werden Sie freundlichst daran erinnert, dass die Fiktionsbescheinigung ‚Ihres‘ Sohnes Louis seit zwei Wochen abgelaufen ist. Ihnen wird deshalb dringend empfohlen, umgehend bei uns vorzusprechen.

       Mit freundlichen Grüßen

       Andrea Bonetti

       -Ausländeramt-

      Fiktionsbescheinigung. Christian fand die Vokabel, die für einen Aufkleber in Louis‘ amerikanischen Pass stand, der ihm den Aufenthalt in Deutschland gestattete, noch immer nichtssagend. Er schaute auf die Armbanduhr. Dreizehn Uhr. Die Beamten beim Amt müssten jetzt langsam vom Mittagstisch zurückkommen. Beste Voraussetzung für einen Besuch bei Frau Bonetti also, dachte er und hastete die Stufen zur Wohnung im Dachgeschoss hinauf. Dort kramte er im Ikea-Wohnzimmerschrank nach Louis‘ Pass.

      ***

      Christian schritt den tristen Gang des Amtes entlang. Er und Frau Bonetti fanden keinen Draht zueinander. Bei jedem Besuch stand ihr die Lustlosigkeit ins aufgedunsene Gesicht geschrieben und trieb ihn regelmäßig zur Raserei. Ihre dicklichen Wangen hingen schlaff herunter und hoben sich, zumindest in seiner Gegenwart, nie für ein freundliches Lächeln – selbst dann nicht, wenn Louis sie vergnügt und zahnlos sabbernd angrinste. Aus unerklärlichen Gründen schien er Frau Bonetti zu mögen. Seufzend drückte Christian die Klinke der bekannten Tür.

      »Guten Tag, Frau Bonetti. Sie haben uns angeschrieben«, begann Christian und lächelte zum Trotz besonders nett.

      »Was han i ihna denn gschriba?« Immer wenn die dicke Frau mit italienischem Namen am Revers in breitestem Schwäbisch loslegte, war Christian irritiert.

      »Die Fiktionsbescheinigung für unseren Sohn ist abgelaufen«, half er ihr. Bei dem Wort »unseren« malte er mit seinen Zeigefingern Gänsefüßchen in die Luft. Damit imitiere er die Anführungszeichen, die die Damen vom Ausländeramt in ihre Briefe druckten, wenn von Louis als ihrem Sohn die Rede war. Christian legte Louis‘