Genèvieve Dufort

Amélie - Wo Schatten ist


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      Amélie wusste, dass Inès, schon solange sie denken konnte, in der Straße anschaffen ging und bewunderte sie über alle Maße.

      Inès lehnte lässig mit ihrer Schulter an einer Hauswand und rauchte eine ›Fluppe‹, wie sie ihre Zigaretten immer nannte. »Na, ›Ma Petit‹, willst du dir mal wieder den Betrieb ansehen?« Sie nannte Amélie immer ›Ma Petit‹, weil sie sich ihren Namen nicht merken wollte oder wegen ihres jahrelangen Alkoholkonsums nicht mehr dazu in der Lage war. Auf eine gewisse Art war Inès mütterlich und freundlich – aber nur zu Menschen, denen sie sich überlegen fühlte. Amélie war so ein Mensch und mit ihren achtzehn Jahren noch so unerfahren, dass sie ihr eine Menge vormachen konnte. Inès brauchte das für ihr Selbstwertgefühl.

      Amélie blieb stehen. Verunsichert blickte sie die Prostituierte an. »Ich mach' schon keinen Ärger ...«, erklärte sie schüchtern und wollte schon mit gesenktem Kopf weitergehen.

      »Ach, Quatsch! ...Das meine ich doch gar nicht. Bleib' doch mal stehen.«

      Amélie drehte sich ihr zu, immer noch fluchtbereit. Sie traute sich nicht ihr direkt in die Augen zu sehen.

      Inès musterte sie von oben bis unten. »Ich kenne dich doch.«

      Amélie lächelte unsicher.

      »Wer ist denn deine Mutter?«, fragte sie, mit leicht zur Seite geneigtem Kopf.

      »Gabrielle Chivier.«

      »Da schau' an ...«, grinste Inès, »das hätte ich mir doch eigentlich denken können! … Du bist also tatsächlich die Tochter von der alten Gabrielle.«

      »Ja«, antwortete sie gedehnt, nicht wissend, worauf das gerade hinauslaufen sollte.

      Inès ging um sie herum, grinste sie höhnisch an und strich sich eine falsche Locke ihrer Haarverlängerungen aus dem Gesicht. »Gabrielles Tochter ... Also, dich muss sie ja wirklich im besoffenen Zustand gezeugt haben!«

      Amélie war es unangenehm, so von ihr taxiert zu werden und wollte schon weiterschleichen, als sie von ihr aufgehalten wurde.

      »Hey! Habe ich dir etwa gesagt, dass du schon gehen kannst?«, fuhr Inès sie auf eine Weise an, die keinen Widerspruch duldete.

      Unwillkürlich zuckte Amélie zusammen.

      »Ich meinte es nicht so, ›Ma Petit‹!«, lenkte Inès rasch ein, die ihre Reaktion bemerkt hatte. »Ich bin nur überrascht, verstehst du?«

      »Nein.«

      Inès kratzte sich am Kopf. »Kannst du vielleicht auch nicht, ›Ma Petit‹«, überlegte sie laut. »Mensch, wenn ich daran denke ... Damals, als wir zusammen anschaffen gingen, deine Mutter und ich ... Die ›Formidable Gabrielle‹ nannte man sie überall. Du liebe Güte, was haben wir zusammen Geld gescheffelt. Du kannst dir ja gar nicht vorstellen, was für ein heißer Feger deine Mutter damals war. Die hat die ganze Straße eingesteckt, wenn sie wollte. Und Kavaliere hatte die … Ich weiß das noch wie heute, nur reiche Pinkel waren das. Damals dachten alle, die Gabrielle würde das große Rennen machen ... Tja, hin und wieder kommt es ja mal vor, dass eine von uns den großen Fang macht … Sag' mal, hat die wirklich diesen Robert geheiratet?«

      »Ja, das ist mein Vater«, bestätigte Amélie nickend.

      Inès lachte verächtlich auf. Freundschaftlich bot sie ihr eine Zigarette an. »Kannst ruhig eine nehmen. Ich habe die nicht vergiftet.«

      »Danke«, stotterte Amélie irritiert. Sie hatte noch nie geraucht. Aber sie traute sich nicht, ihr das zu sagen. Zum ersten Mal unterhielt sich ein Mensch wirklich mit ihr – interessierte sich für sie. Sie hustete beim ersten Zug, und Inès musste ihr ein paar Mal kräftig auf den Rücken klopfen.

      »Kannst dir das, mit deiner ›Maman‹ wohl nicht ganz vorstellen, oder?«

      »Nein«, erwiderte sie wahrheitsgemäß. Sie führte die vor sich glimmende Zigarette nur zum Mund, sog aber nicht wirklich daran und ließ sie in ihrer Hand einfach herunterbrennen.

      »Aber, dass deine ›Maman‹ früher auf den Strich gegangen ist, hast du doch gewusst?«

      »Ja, das hat sie mir oft genug gesagt.«

      Inès kicherte und nahm einen kräftigen Zug von ihrer Zigarette. »Jetzt sieht sie wohl wie eine alte Schachtel aus, wie?«

      Amélie konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Mutter einmal so etwas wie eine Schönheit gewesen sein sollte. Sie ließ sich gehen, war verkommen und schlampig. »Ja.« Sie konnte nur einsilbig antworten, weil sie dieses Gespräch weiterführen wollte, so unangenehm es ihr auch war.

      Inès stellte sich in Positur. »Tja, ›Ma Petit‹, das macht die Ehe!«, behauptete sie steif und fest. »Schau' mich mal an, ich bin genauso alt wie deine Mutter, aber ich gehe immer noch anschaffen. Ich mache immer noch gutes Geld damit. Ja, da staunst du, was?«

      In diesem Augenblick kamen zwei Männer vorüber.

      Amélie wusste nicht, dass es ›Souteneurs‹, Zuhälter, waren.

      »Na, Inès, reißt du mal wieder ein Kind auf?«, rief ihr einer der beiden ›Macs[1], wie man die Luden hier im Viertel auch nannte, verächtlich zu.

      Inès schimpfte ihnen wütend hinterher.

      Die ›Souteneurs‹ lachten gutmütig.

      »Verdammte Schweine, lasst mich in Ruhe!«

      »Tun wir ja, Inès ..., tiefer kannst du ja gar nicht mehr sinken, altes Scheusal. Dass dich die Freier überhaupt noch anfassen ... Aber es muss ja wohl welche geben, denn ohne die Dummen würde die Welt ja aussterben.«

      Amélie hatte sich jetzt ebenfalls gegen die Hauswand gelehnt und beobachtete zu ihrer Verwunderung, dass die Inès rot wurde. Es war ihr offensichtlich sehr peinlich, dass man sie derart vor ihr herabwürdigte, wo sie sich doch gerade in ihren angeblichen Erfolgen gesonnt hatte.

      Die ›Macs‹ blieben bei zwei superblonden, langbeinigen Geschöpfen stehen, die nur gut zwanzig Meter von ihnen entfernt an der Straße standen. Auch sie waren nicht mehr viel wert, denn sie wurden in die Tagesschicht geschickt. Die wirklich guten, Geld bringenden Huren kamen erst am späten Abend, und die anderen hatten dann das Feld zu räumen.

      Amélie wusste das.

      »Die mit ihren falschen Mähnen!«, schimpfte Inès wütend. »Die tun wirklich so, als könnten sie sich alles leisten.«

      »Warum bist du jetzt so wütend?« Amélie schaute sie erstaunt an.

      »Oh, ... dich habe ich ja völlig vergessen!«, starrte Inès entgeistert zurück. »Wo war ich eben stehen geblieben?«

      »Du hast von meiner Mutter gesprochen.«

      »Ach ja, ... verdammt, du siehst ihr kein bisschen ähnlich, ›Ma Petit‹.«

      Amélie schwieg.

      »Na ja, man könnte sicherlich etwas aus dir machen ... Ehrlich! Wird zwar ein ganzes Stück harte Arbeit, aber ich glaube schon, das es gehen wird.« Sie spielte wieder mit ihrer Locke, als sie Amélie weiter musterte. »Du hast aber auch dürre Arme und Beine, … bist ein echtes Klappergestell!«

      »Ja, ich weiß.«

      Inès regte sich immer noch über die beiden ›Vollkaufleute‹ auf, wie man die ›Souteneurs‹ umgangssprachlich auch nannte. »Ich brauche jetzt einen Schnaps, sonst platze ich! … Sag' mal, du kannst mir nicht zufällig mal einen Flachmann besorgen?«

      »Wenn du mir Geld gibst«, antwortete Amélie, einen Daumen am Zeigefinger reibend.

      »Hier hast du einen Schein, aber beeil dich.«

      »Ja.«

      Ich weiß noch nicht einmal, ob sie ehrlich ist. Vielleicht kommt sie gar nicht wieder? Verflucht, ich hätte