Genèvieve Dufort

Amélie - Wo Schatten ist


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schnell die Straße hinunter und kam atemlos im Eckladen an.

      Der Besitzer lehnte an einem Regal und kontrollierte seine Bestände. Als er die Türglocke hörte blickte er kurz auf. »Gib dir erst gar keine Mühe, ›Souriceau‹!«, knurrte er sofort. »Bestell' deiner Mutter, erst muss das andere bezahlt werden. Vorher gibt es nichts, aber auch gar nichts mehr auf Kredit!«

      »Ich habe Geld, Monsieur Duvenet«, erklärte Amélie und fühlte sich in diesem Augenblick stark.

      »Dann zeig' mal her!«

      Lächelnd hielt sie ihm die Fünf-Euro-Note entgegen, die Inès ihr gegeben hatte.

      »Was will Mademoiselle denn?«, erkundigte sich Duvenet spöttisch. Er legte die Liste und den Kugelschreiber beiseite.

      »Einen Flachmann!«

      »Ist Robert, der alte Säufer, jetzt umgestiegen?«

      »Nein, der Flachmann ist für Inès«, erklärte Amélie.

      »Okay, … hättest du mir ja auch gleich sagen können. Du machst dich also endlich mal nützlich und arbeitest jetzt als Laufmädchen für die Damen?«

      »Nein«, widersprach sie kopfschüttelnd. »Das mache ich nur so.«

      »Na schön. Hier! Aber pass' auf und lass' die Flasche nicht fallen. Inès könnte sonst ziemlich sauer reagieren.«

      »Ja.« Sie presste die Flasche an ihre magere Brust und rannte dann schnell zurück.

      *

      Inès grinste sie an. »Du bist wirklich ein fixes Mädchen. Komm, bleib' doch, unterhalten wir uns noch ein wenig.«

      Sie setzten sich auf eine niedrige Mauer.

      Mit fahriger Hand drehte Inès die Verschlusskappe ab, nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche und wischte sich anschließend mit dem Handrücken über den Mund. »Ah, das tut gut!«

      »Du, Inès, ... darf ich dich mal was fragen?«, wagte sich Amélie schüchtern vor.

      »Schieß' los. Ich höre.«

      »Was muss man tun, um eine ›Putain‹ zu werden?«

      Mit dieser Frage hatte Inès nun wirklich nicht gerechnet. Überrascht schaute sie Amélie von der Seite an. »Warum fragst du?«

      »Sag' es mir doch einfach«, bettelte Amélie.

      »Soll das heißen, du willst diesen ehrenvollen Beruf ergreifen, ›Ma Petit‹?«

      »Ja, möchte ich vielleicht schon ...«

      »Ach, du liebe Güte!«

      »Kann ich das vielleicht nicht, Inès?«

      »Tja, das ist so eine Sache. Also ich will mich da ja nicht festlegen. Weißt du, vor vielen Jahren war es mal schick, wenn man wie ein Brett aussah. In den Sechzigern, da gab es dieses englische Fotomodell ... Hab' den Namen vergessen ... Ach, nein, jetzt fällt er mir wieder ein, Twiggy hieß die ... also, die war so dünn wie eine Bohnenstange. Aber die Kerle waren so richtig verrückt nach ihr. Alle Mädchen wollten wie Twiggy sein. Am Ende haben sich einige dabei sogar zu Tode gehungert. Ich erinnere mich noch an einige Schlagzeilen in der ›Libération‹ … Das kann ja mal wieder in Mode kommen, dann hättest du eine wirklich tolle Chance.«

      Amélie ließ den Kopf hängen. »Also kann ich das auch nicht.«

      Inès tätschelte ihr ein wenig unbeholfen die Schulter. »Hey, ›Ma Petit‹, Kopf hoch! Jetzt lass' dich doch nicht kirre machen. Außerdem ist das nicht gerade ein Zuckerschlecken, hörst du?«

      Sie nickte und schaute auf ihre Füße, die sie ein wenig baumeln ließ.

      »Hure sein, das hat was von Rauschgift. Wenn du erst einmal eine bist, dann kommst du davon in der Regel nicht wieder los, verstehst du?«, fuhr Inès fort. »Das ist eine echt verflixte Sache … Sieh' mich an. Ich werde hier bis zum Verrecken stehen. Soziale Absicherung? … Vergiss es! Und eines Tages, ja, eines Tages, da wird dann endgültig Schluss damit sein … Und was habe ich dann von meinem Leben gehabt, frage ich dich? Nichts, gar nichts! Glaub' mir, ›Ma Petit‹!«

      »Aber irgendetwas muss ich doch machen!«, seufzte Amélie. »Ich will Geld verdienen, Inès. Ich habe noch nie eigenes Geld gehabt. Es ist furchtbar ... Ich will von hier fort, raus aus diesem Viertel.« Sie blickte Inès traurig an. »Ich will endlich frei von all dem hier sein und leben. Wo Schatten ist, … da muss doch auch irgendwo Licht sein … Verstehst du mich?«

      »Sie quälen dich wohl sehr daheim, wie?«

      »Raphael ist am schlimmsten.«

      »Wer ist Raphael?«

      »Mein Bruder.«

      »Hör' doch nicht auf den.«

      »Mein Vater ist ein Scheusal, er will seit Jahren unbedingt ein Aufklärungsgespräch mit mir führen, in allen Details ...«

      Inès lachte rau. »Dieses Schwein! … Und was hast du ihm gesagt?«

      »Dass wir schon in der Schule aufgeklärt worden sind und ich auf praktische Übungen sehr gern verzichte.«

      »›Ma Petit‹, du gefällst mir«, lachte Inès erneut. »Du bist gar nicht auf den Mund gefallen. Ehrlich.«

      Amélie blickte mit trüben Augen vor sich hin. »Ich finde mein Leben so sinnlos«, murmelte sie leise.

      Inès bekam jetzt echtes Mitleid mit ihr, wozu auch der Alkohol beitrug. Denn immer, wenn sie ein bestimmtes Quantum inne hatte wurde sie rührselig. »Sag' doch nicht so einen Quatsch.«

      »Putze soll ich werden. Mein ganzes Leben soll ich für andere schuften! Dabei meint sie, dass ich selbst dazu zu bescheuert wäre!«

      »Wer hat dir das gesagt?«

      »Meine Mutter.«

      Tja, dachte Inès, das ist für Gabrielle wohl ein harter Schlag gewesen. Ihre ›Ma Petit‹ sieht ja auch wirklich arg aus. Lang und dünn, dazu dieses spitze Gesicht. Die Augen sind hübsch, ja, das kann man wohl sagen: Ihre Augen sind direkt schön. Aber ansonsten? Kein Arsch, keine Titten. Alles Dinge, die die Männer nun mal an einer Frau wollen, die fehlen ihr völlig. Die Haare strähnig und unmöglich angezogen. Sie hatte es wirklich nicht leicht. »Hast du denn schon einmal mit der ›Aide Sociale‹ gesprochen? Von denen kommt doch bestimmt jemand zu euch, oder etwa nicht?«

      »Natürlich, die kommt doch in jeden Block.«

      »Wusste ich doch. Die können es nicht lassen. Die müssen ihre Nase überall reinstecken. Was sagen die denn?«

      »Die Frau sieht mich doch gar nicht, … hat mich noch nie gefragt, wie es mir geht oder wie sie mir helfen kann«, antworte Amélie leise.

      »Weil du deine Klappe nicht aufmachst, deswegen!«, behauptete Inès direkt.

      »Ich will ja, aber wenn sie dann da ist dann schaffe ich es einfach nicht.«

      Inès nahm wieder einen großen Schluck. »Tja, ›Ma Petit‹, das Leben ist wirklich nicht einfach. Aber ich will dir mal was sagen: Du kannst noch immer schön werden.« Sie hatte das Bedürfnis ihr ein paar nette Worte zu sagen.

      Amélie saugte sie gierig auf. »Ehrlich?«

      »Aber klar doch!«, beharrte Inès schmunzelnd. »Du bist doch noch gar nicht richtig reif! Das kann alles noch werden!«

      »Meinst du?« Amélie schüttelte ungläubig den Kopf. »Meinst du wirklich, mich wird mal ein Kerl anfassen und so ... «

      »Du hast noch nie?«

      Sie schüttelte wieder den Kopf. »Die Mädchen auf der Straße erzählen sich alle eine Menge und ich weiß gar nichts.«

      »Bist wohl neugierig, wie?«

      Amélie sah auf ihre schmutzigen