Genèvieve Dufort

Amélie - Wo Schatten ist


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sie verblüfft an.

      »Hey, seit wann reißt du denn das Maul auf? Ich habe dich noch nie was sagen hören!«, rief der Wortführer zurück.

      »Seit heute!« Sie riss ihren rechten Arm nach oben und zeigte ihnen ihren ausgestreckten Mittelfinger. Dann ging sie ohne ein weiteres Wort weiter.

      *

      Als sie nach Hause kam, lief sie fast ihrem Bruder in die Arme.

      »Na, gehst du noch immer nicht auf den Strich?«, blaffte Raphael sie an und weidete sich an ihrer Verlegenheit. »Wird Zeit, dass du endlich mal Kohle nach Hause bringst!«

      Bislang hatte sie ihm diesen Gefallen auch immer getan und war unwillkürlich rot geworden. Nie hatte sie wirklich gewusst, wie sie darauf reagieren sollte, wo sie eh keiner in Schutz nahm. Ihrer Mutter war völlig egal, was aus ihr wurde. Alles was sie interessierte, war dass sie ihr nicht mehr allzu lange auf der Tasche lag. Aber heute sah Amélie ihren Bruder mit anderen Augen an. Er war bald zweiundzwanzig Jahre alt und hatte ein aknezerfressendes Gesicht. Sie wusste nur zu gut, dass er so einige kriminelle Dinger drehte. Und es waren keine kleinen Gaunereien, mit denen er zu Hause prahlte. Irgendwann würde er deswegen in das in ganz Frankreich bekannte ›La Santé‹ im ›Vierzehnten Arrondissement‹ einfahren, dessen war sie sich sicher.

      Doch, seit heute!, beantwortete sie seine Frage schweigend und hing weiter ihren Gedanken nach. Auch er ist von Frauen abhängig. Alle sind sie es, ob arm, reich, dumm, dünn oder so bescheuert wie mein Vater, der bald den letzten Funken seines Verstanden versoffen haben dürfte. Sie alle brauchen uns Frauen. Aber wir brauchen sie nicht. Sie verspürte ein leichtes innerliches Zittern. Ob meine Mutter es auch weiß? Ob sie das je kapiert hat, dass wir eigentlich alle Männer unter Druck setzen können? Die müssen ja zu uns! Jetzt versteh' ich erst, warum so viele Mädchen Huren geworden sind. Die Männer kommen nicht, weil es ihnen Spaß macht, oder weil sie das Verruchte auf dem Straßenstrich lieben. Oh nein! Die gehen zur Nutte, wenn sie daheim nicht bekommen, was sie brauchen! Und die verdienen ihr Geld damit. Beinahe hätte sie laut aufgelacht, während sie unauffällig über ihre Rocktasche mit dem Fünfzig-Euro-Schein strich.

      »Hey, hörst du eigentlich zu, wenn man dir was sagt?!«, herrschte Raphael sie an.

      »Nein«, antwortete sie, überraschend laut und deutlich.

      Ihr Bruder sah erstaunt auf. »Sag' mal, du bist wohl total bescheuert, was?«, schrie er sie ruppig an und wiederholte seinen vorherigen Befehl: »Ich habe dir gesagt, du sollst mir die Schuhe holen, verdammt noch mal!«

      Amélie war ein anderer Mensch geworden. Inès hatte sie auf schnelle Weise erwachsen werden lassen. Oh nein, nicht Inès, korrigierte sie sich. Es war dieser Mann. Ein anderes junges Ding hätte das Ganze vielleicht für lange Zeit geschockt, aber nicht mich. Mich hat es aufwachen lassen. Jetzt weiß ich endlich Bescheid! »Hol dir deine blöden Schuhe doch selbst!«, erwiderte sie entschieden und mit fester Stimme.

      In diesem Moment schaute sogar ihr betrunkener Vater auf, aber er sagte nichts.

      »Hat die gerade was gesagt?« Nach langer Zeit blickte Gabrielle ihre Tochter wieder einmal richtig an.

      »Stimmt es, dass du deinen ›Mac‹ damals brutal die Kehle durchgeschnitten hast? Dass du ihn umgebracht hast?«, fragte Amélie unvermittelt in die eingetretene Stille hinein.

      Gabrielles Gesicht lief blaurot an. »Wer hat dir denn diesen Stunk erzählt?«

      »Das tut nichts zur Sache. Ich will nur wissen, ob es stimmt«, beharrte Amélie.

      Raphael lachte und schlug sich amüsiert auf die Oberschenkel. »Da spielt sie die ganze Zeit die Hirnlose und hat es dabei faustdick hinter den Ohren!«, grölte er. »Oh verdammt, wenn diese Fotze nur ein wenig hübscher wäre, ich würde sie glatt auf den Strich schicken. Die würde uns garantiert das große Geld einbringen, und wir müssten endlich nicht mehr von der Fürsorge leben.«

      Einen Augenblick lang war sie in der Versuchung, gegen seine Beleidigung aufzubegehren und ihnen das Geld zu zeigen. Doch dann schob sie ihr Kinn vor und dachte: Ihr könnt meinetwegen über mich denken, was immer ihr wollt. Ich weiß, dass ich mit euch nichts gemein habe … Ich gehöre überhaupt nicht zu euch! Da ihre Mutter noch immer schwieg, was sonst gar nicht ihre Art war, war Amélie sicher, dass Inès die Wahrheit gesprochen hatte. Sie war geschockt, verstand aber zugleich, dass ihre Mutter für sich nach einem Ausweg gesucht hatte – wenngleich der kläglich gescheitert war.

      »Die zehn Jahre sind doch längst rum, ›Maman‹!«, meldete sich Raphael zu Wort. »Du kannst es ihr ruhig erzählen!«

      »Halt deine vorlaute Schnauze!«, fuhr Gabrielle ihren Sohn an.

      »Was hast du gesagt?«, lallte ihr Vater dazwischen.

      Amélie betrachtete die bizarre Familienidylle. Nein, dachte sie, ich werde mein Leben ganz anders aufbauen. Ich werde nicht in diesem Sumpf bleiben. Mit meinem Wissen kann ich eine ganze Menge anfangen. Mir macht keiner mehr etwas vor. Ich werde es euch allen zeigen. Ihr werdet euch noch wundern. Gestärkt und selbstbewusst durch ihr vermeintliches Wissen ging sie zur Tagesordnung über. »Ist das Essen fertig?«, richtete sie sich an ihre Mutter.

      »Du willst wohl noch mal runter, oder?«, griente Raphael. »Hast du dein Umfeld heute nicht bereits genug erschreckt?« Verständnislos schüttelte er den Kopf. Dann versuchte er sie erneut einzuschüchtern und seinen Frust an ihr abzulassen. »Ich kapier' eh nicht, dass man dich auf der Straße überhaupt duldet. Aber vielleicht sind sie dir ja sogar dankbar, weil du als lebende Vogelscheuche, die Tauben vertreibst, damit die nicht laufend auf den Lack der Autos kacken!«

      »Wenn du dein unflätiges Maul aufmachst, kommt nur Scheiße raus«, kam es leise, aber dennoch klar und deutlich über die Lippen ihrer Mutter. »Ich sagte dir eben schon, du sollst die Schnauze halten!«

      »Von einer wie dir lasse ich mir nicht den Mund verbieten!«, kreischte er respektlos.

      »Solange du die Beine unter meinen Tisch stellst, werde ich das sehr wohl!«, gab sie ihm zu verstehen.

      »Vielleicht solltest du deine einfach mal wieder breit machen«, kam es bissig zurück, »damit es hier mal was Richtiges zu fressen gibt.«

      »Wenn ich dich anschaue, habe ich sie einmal zu oft breit gemacht!«, konterte Gabrielle und gab ihm eine schallende Ohrfeige.

      »Aber die Kohle vom letzten Bruch, die hast du eingesteckt, wie?«, versuchte er sich zu verteidigen.

      »Du lebst hier und hast deinen Teil abzugeben. Such' dir gefälligst eine anständige Arbeit, ehe du endgültig in den Knast wanderst!«

      Niemand kümmerte sich mehr um Amélie. Sie nahm sich einen Teller, häufte die spärlichen Kartoffeln darauf, die übrig geblieben waren und begann zu essen, während ihr Bruder zur Tür schlurfte.

      »Ich komme morgen früh wieder«, ließ er alle wissen und fügte an sie gewandt hinzu: »Penn‘ bloß nicht wieder in meinem Bett, verstanden?«

      Amélie hatte einen kleinen Verschlag in der Küche, in dem ihr Bett stand und wohin sich der ganze Mief zog. Gleich hinter der Bretterwand befand sich das elterliche Schlafzimmer. Sie hasste es, dort schlafen zu müssen. Nachdem sie gegessen hatte, stellte sie den Teller zum übrigen Abwasch und schlich wieder aus der Wohnung.

      ***

      

Kapitel 4

      »Da bist du ja wieder!«, stellte Inès überrascht fest.

      Inzwischen war es Dunkel in den Straßen von ›Goutte d'Or‹. Die vereinzelten Neonröhren versuchten verzweifelt, ein wenig die Illusion von Leben und Licht herbeizuzaubern. Aber hier, ganz am Ende der Straße, wo nur noch die verbrauchten Huren standen, kam davon nichts an.

      Inès durfte auch in der Nacht hier stehen, weil sie für die anderen eine ›abartige Nutte‹ war, die ausschließlich