Genèvieve Dufort

Amélie - Wo Schatten ist


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es ihr nicht gegeben.«

      »Richtig so! Du lernst wirklich schnell«, grinste Inès lobend.

      Amélie lehnte sich gegen die Hauswand und beobachtete die Freier, die wie liebeskranke Kater um die Mädchen herumstrichen, alle auf der Suche nach einer schnellen Befriedigung ihrer Lust. »Sag' mal, hast du das wirklich ernst gemeint?«, griff sie nach einer Weile den Faden von vorhin wieder auf.

      »Was meinst du?«, fragte Inès nach, ohne ihren Blick auf der Suche nach Kundschaft von der Straße zu lösen.

      »Das du etwas aus mir machen kannst.«

      In Inès' Augen lag plötzlich ein gieriger Glanz. »Du willst das also wirklich?«

      »Ja, ich denke schon.«

      »Nun, ich bin sicher, dass ich dir so einiges beibringen könnte.« Jetzt hatte Amélie ihre ganze Aufmerksamkeit. »Ich glaube, du hast das Zeug dazu. Ehrlich, ich sehe es dir an. Du bist ein abgebrühtes, kleines Luder. Eine geborene Domina!«

      Bin ich das wirklich?, fragte Amélie sich still.

      »Hör zu, ›Ma Petit‹!«, setzte Inès nach. »Du wirst nur die besten Kunden bekommen. Dafür garantiere ich!«

      »Warum hast du die denn nicht mehr?«

      »Zwei, drei von der Sorte habe ich noch. Aber die kommen nur aus lauter Gewohnheit zu mir. Ich kann keine neuen Stammkunden mehr aufreißen. Ehrlich, dazu bin ich inzwischen viel zu alt. Aber bei dem, was ich mache, geht es nicht in erster Linie um Schönheit. Also können wir dich so ausstaffieren, dass sie das Sabbern kriegen! Und sobald der Laden zu brummen anfängt, beschaffe ich dir eine fesche Wohnung und starte Anzeigen.«

      »Das klingt nicht schlecht.«

      »Lass' die alte Inès mal machen, ›Ma Petit‹, die hat einen Riecher für sowas«, brüstete sie sich. »Du wirst schon sehen. Wir werden mächtig auf den Putz hauen!«

      »Ich weiß nicht ...«, seufzte Amélie und schaute auf die Spitzen ihrer abgenutzten Schuhe.

      »Hey! Du ahnst ja gar nicht, was für Typen hier rumlaufen!«

      »Ist das denn nicht auch gefährlich?«

      »Meinst du die Kerle?«

      »Ja! Man liest und hört doch immer wieder davon.«

      »Man muss sich halt die richtigen Typen aussuchen. Darauf kommt es an, ›Ma Petit‹!«

      »Aber wie will man das vorher wissen?«

      »Ach, das bringe ich dir schon noch alles bei.« Inès verschwieg wohlweislich, dass sie selbst schon einmal fast einem Angriff zum Opfer gefallen war. Doch das war schon über zwanzig Jahre her.

      Amélie lächelte. In diesem Moment wirkte ihr Gesicht fast schön. Es bekam einen ganz eigenen Ausdruck, und man sah jetzt auch, dass sie feine Grübchen hatte. Aber wann hatte sie schon einen Grund zu lächeln?

      »Dann ist ja erst einmal alles besprochen«, meinte Inès und fügte hinzu: »Ich sage dir eine goldene Zukunft voraus, ›Ma Petit‹ …. Du wirst Gabrielle davon aber nichts erzählen, oder?«

      »Nein, ganz sicher nicht!«, versprach Amélie.

      »So, jetzt muss ich noch ein wenig Beute machen«, schnaufte Inès. »Sonst wird die Kohle knapp.«

      »Kann ich nicht hier bei dir bleiben?« Amélie schaute sie bittend an. »Dann kannst du mir gleich etwas beibringen.«

      Inès kratzte sich am Kopf. »Nein, besser nicht. Wir bekommen sonst Ärger mit den ›Macs‹. Ich darf hier in der Nacht stehen, aber wenn die dich sehen, dann wird es sicher ungemütlich«, meinte sie. »Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass du es toll finden würdest, wenn sich dich so ein hormongeschwängerter geiler Bock unter die Nägel reißt, oder? Dann kannst du dich nämlich gleich doppelt krummschuften und kommst niemals auf einen grünen Zweig, ehrlich. Lass' dir das besser gesagt sein!«

      »Das habe ich wirklich nicht vor«, nickte Amélie und schob leicht das Kinn vor. »Gut, dann gehe ich jetzt, Inès.«

      »Komm' morgen wieder. Aber nicht zu früh, verstanden? Ich muss ja auch noch etwas pennen«, schmunzelte Inès zufrieden. »Du weißt jetzt ja, wo ich wohne. Was sagst du zu zwölf Uhr?«

      »Ja. Einverstanden.«

      »Aber bring' mir einen Flachmann mit.«

      »Dann musst du mir dafür aber Geld geben«, gab Amélie prompt zurück.

      »Du hast doch selbst welches! Also, ein wenig musst du auch in den Laden stecken.«

      »Du weißt genau, dass ich mir was zum Anziehen kaufen muss, Inès. Ich habe doch nur alte Fetzen. Ich kann das Geld nicht für einen Flachmann ausgeben.«

      »Du bringst einen mit oder es läuft gar nichts«, beharrte Inès bestimmt.

      So soll das also laufen. Du glaubst, ich wäre so jung und dämlich, dass ich nicht merke, wie du auf meine Kosten fett werden willst, wie?, dachte sie. Aber da irrst du dich gewaltig. Ich lasse mich nicht verarschen! Von niemandem … auch nicht von dir, liebe Inès! Amélie blickte sie einen Moment forschend an, dann sagte sie laut: »›Salut‹!«[3]

      Inès sollte sehr lange warten müssen, bis sie Amélie wiedersah.

      *

      Seelenruhig schlenderte Amélie an den anderen Mädchen vorbei. Sie wurde ausgeschimpft, verjagt, und einmal wollte man sie tatsächlich sogar körperlich angreifen. »Hau ab! Kriech' unter ›Mamans‹ Rock! Zieh' Leine! Verpiss' dich!«, kam es von allen Seiten.

      Noch gestern wäre sie davongerannt und ihr Herz hätte vor Angst gezittert. Doch heute war alles anders. Wie Schuppen im Haar, war all ihre Naivität von ihr abgefallen. Nein, sie war schon lange kein Kind mehr.

      Eigentlich bin ich nie wirklich ein Kind gewesen, dachte sie bei sich. Wer in diesem Viertel aufwächst, der hat keine Kindheit. Hier lernt man vom ersten Augenblick an das raue Leben kennen und weiß auch, dass man sich durchbeißen muss, wenn man nicht untergehen will. Bis gestern hatte sie geschwiegen und sich im Hintergrund gehalten, weil sie noch nicht wirklich erwacht war. Sie war eben nicht so eine kesse Biene wie die anderen jungen Mädchen in ihrem Alter.

      Die waren schon mit zwölf oder dreizehn Jahren mit den Jungen hinter die Mülltonnen oder Büsche gegangen. Einige hatten ja auch schon Abtreibungen hinter sich. Aber wen störte das hier schon? Vielleicht die von der ›Aide Sociale‹? Ja, wenn sie vielleicht mal eine Mitarbeiterin bekämen, die es wirklich gut mit ihnen meinte, sich auch über das amtliche Maß hinaus um sie kümmerte und das Beste aus deren Jugend zu machen versuchte. Aber diese Fürsorgerinnen blieben in aller Regel nicht sehr lange. Nicht, weil sie keine Lust mehr hätten, nein, weil sie einfach daran zerbrachen. Weil alles, was sie taten, letzten Endes doch vergeblich war, und man sie obendrein noch verhöhnte.

      Man musste schon die Rüstung eines Ritters tragen, wenn man das alles verkraften wollte. Jetzt hatten sie hier im Viertel eine Frau mit grauen Haaren. Sie war streng, gerecht und passte auf wie ein Luchs. Wenn sie hörte, dass ein junges Mädchen schwanger war, nahm sie es sofort mit zum Arzt. Entweder kam es dann in ein Heim und trug das Kind aus, oder aber, man brachte es in eine Klinik. Dort wurde dann nach den beiden vorgeschriebenen Beratungsterminen unter ärztlicher Aufsicht die Abtreibung vorgenommen und nicht bei einer von den schmierigen ›Engelmacherinnen‹.

      Viele Säuglinge waren ja schon geschädigt, wenn sie noch im Mutterleib waren. Die Huren nahmen Drogen, tranken und waren so gar nicht in der Lage gesunde Kinder zur Welt zu bringen. Die Medizin war ja so weit vorangeschritten, dass man schon im frühsten Stadium feststellen konnte, ob man ein gesundes Kind austrug oder eben nicht.

      Zumeist waren die Mädchen froh, wenn sie von ihrer Schwangerschaft befreit wurden. Vor dem Heim hatten sie letztlich alle Angst. Von dort brachen sie meist aus, tauchten unter, und eines Tages entdeckte man sie als