Genèvieve Dufort

Amélie - Wo Schatten ist


Скачать книгу

auch noch nie direkt von ihr angesprochen worden. Gestern hatte sie noch den Wunsch gehabt, so zu sein wie diese Frau. Aber jetzt hatte sich für sie alles grundlegend verändert.

      ***

      Kapitel 5

      Amélie hatte das Rotlichtviertel fast verlassen, als sie plötzlich von einer männlichen Stimme angesprochen wurde. Ruckartig blieb sie stehen.

      »Hier bin ich!«, machte der Mann sie auf sich aufmerksam.

      Sie versuchte ihn auszumachen, aber es war so dunkel, dass sie seine Umrisse kaum erkennen konnte.

      »Komm' näher!«, rief er ihr zu und trat ein Stück von der Wand weg, an die er sich gedrückt hatte.

      Sie zögerte und wusste nicht genau, wie sie reagieren sollte. Ein schneller Blick die Straße entlang, sagte ihr das niemand in der Nähe war. Sie spürte, wie ihr Herz heftig in der Brust schlug. »Ja?«, fragte sie unsicher.

      »Na, nun komm' schon näher!«, forderte er sie erneut auf. »Ich will nicht so laut reden müssen!«

      Sie machte zwei Schritte auf ihn zu.

      »Und? Erkennst du mich wieder?«, fragte der Mann lächelnd.

      »Pierre?«, flüsterte Amélie ungläubig.

      »Ja, so nennt mich die alte Inès immer«, schmunzelte er und gestand: »Aber in Wirklichkeit heiße ich anders.«

      »Ach so!«, reagierte sie ungewollt einsilbig. Was willst du nur von mir?, fragte sie sich still. Willst du dein Geld zurückhaben? … Oh, nein! Das bekommst du nicht. Dann laufe ich gleich ganz schnell davon! Und wenn du mir nachrennst, dann schreie ich so laut ich kann. So laut, dass man es noch am Strich hört! »Was wollen Sie von mir?«, stotterte sie.

      »Bist du allein?«, wollte er wissen und ließ ihre Frage unbeantwortet.

      Sie schwieg.

      Er erkannte an ihrem unsteten Blick, dass sie kurz davor war zu flüchten. »Ich möchte nur mit dir reden«, erklärte er deshalb schnell.

      »Mit mir?« Sie starrte ihn verwirrt an. »Aber warum denn?«

      »Ich möchte dir einen Vorschlag machen« Er versuchte so beruhigend wie nur irgend möglich zu sprechen. »Kann ich mir dir reden?«

      »Ja«, meinte sie darauf zögernd. »Also?«

      »Nicht hier.« Er schaute sich um. »Kennst du ein Lokal, in das wir gehen können?«

      »Nein.«

      »Dachte ich mir schon«, nickte er. »Du bist wohl noch sehr jung, wie?«

      Amélie schwieg.

      »Komm' mit.« Er ging die Straße entlang und bog in die nächste Gasse ein. Dabei drehte er sich nicht um und wusste dementsprechend nicht, ob sie ihm auch tatsächlich folgte.

      Amélie war so verwirrt, dass sie einfach mitging. Ich kann ja immer noch abhauen, wenn es mir nicht gefällt, dachte sie. Ich kenne mich gut in diesem Viertel aus, bin hier ja aufgewachsen. Ehe er sich versieht, springe ich über eine Mauer und bin weg.

      *

      Dann standen sie vor dem ›La Goutte‹ und Pierre öffnete die Tür der Bar.

      Als Amélie ihm folgen und eintreten wollte, starrte der Rauswerfer sie finster an.

      »Verschwinde! Aber ganz schnell, ehe ich dir Beine mache!« Er deutete unmissverständlich nach draußen.

      Amélie zuckte zusammen und schämte sich ihrer schmutzigen Kleidung.

      »Sie gehört zu mir!«, ließ Pierre ihn wissen.

      Der Rauswerfer runzelte die Stirn. »Ach so!«, knurrte er, nachdem er ihn gemustert und im düsteren Licht dessen Bonität positiv beschieden hatte.

      »Ich will eine versteckte Nische«, forderte Pierre. »Wir wollen den Gastraum nicht betreten!«

      »Na, darum möchte ich auch gebeten haben«, grinste der Türsteher und wurde etwas zugänglicher, als eine Banknote den Besitzer wechselte. »Ich gebe Ihnen sofort Bescheid. Warten Sie hier bitten einen Augenblick, Monsieur le Grand!«

      Amélie starrte Pierre an. »Was hat er gesagt?«, flüsterte sie.

      »Mein liebes Kind, gebe jemandem ein großzügiges Trinkgeld und er nennt dich Kaiser.« Er lächelte dünn.

      »Aha!«

      Der Rauswerfer kam wieder zurück. »Ich werde Sie führen.«

      Amélie hatte noch nie eine Bar von innen gesehen. Raphael hatte ihr schon Wunderdinge darüber erzählt. Wenn seine Taschen voll waren, besuchte er sie der Reihe nach, bis er auch den letzten Cent ausgegeben hatte. Sie folgte den beiden und schlich an spärlich beleuchtetem rotem Samt vorbei und vernahm die gedämpfte Musik. Dann fand sie sich in einem sehr kleinen Raum wieder, in dessen Hintergrund eine breite Liege stand – auch sie war mit Samt bezogen. Vor Staunen bekam sie den Mund nicht mehr zu.

      Pierre bedeutete ihr, sich an den kleinen Tisch zu setzen, und kaum hatte sie sich auf dem Stuhl niedergelassen, erschien wie aus dem Nichts ein Kellner.

      »Was möchtest du gern haben?«, erkundigte sich Pierre freundlich.

      Ich habe Hunger, dachte sie, und wenn er mich schon so direkt fragt, warum soll ich es ihm dann nicht sagen? »Kann ich etwas zu essen haben?«

      Er nahm die Speisekarte, studierte sie einen Augenblick und gab dem Kellner seine Anweisungen.

      »Ganz wie Sie wünschen, Monsieur«, dankte der Bedienstete und verschwand zwischen den roten Vorhängen.

      Am liebsten hätte sie einen Blick dahinter geworfen, denn die Musik reizte sie und auch das Stimmengemurmel. Aber sie traute sich nicht. Das ist alles nur ein Traum, dachte sie. Wirklich, ein sehr schöner Traum. Aber gleich wache ich auf, und dann liege ich wieder in meinem Bretterverschlag. Ich muss später Raphael fragen, ob ich richtig geträumt habe, das darf ich nicht vergessen.

      »Du wunderst dich wohl, dass ich dich hierher mitgenommen habe, wie?« Pierre schaute sie lächelnd an.

      Sie hatte einen trockenen Mund bekommen. Als sie bejahen wollte, brachte sie keinen Ton heraus, weshalb sie schnell nickte.

      »Wie alt bist du?«, fing Pierre ein anscheinend unverfängliches Gespräch an.

      »Bin gerade achtzehn geworden.«

      »Ich habe dich für jünger gehalten.«

      »Das tun alle, weil ich nach nichts aussehe ...«, stellte sie düster fest. »Ich bin eben eine Vogelscheuche, verstehen Sie?«

      »Na ja, so würde ich mich aber nicht ausdrücken. Mir gefällst du, Kleines.«

      Fassungslos sah sie ihn an. »Wie bitte?«, fragte sie irritiert, ohne zu verstehen.

      »Ja, du hast das gewisse Etwas«, nickte er. »Ich kann es nicht genau in Worte fassen, aber da ist etwas Besonderes an dir.«

      Amélie spürte, dass sie einen hochroten Kopf bekam. Vielleicht …, dachte sie, vielleicht will er mich einfach nur ins Bett bekommen? Ach, du meine Güte, daran habe ich ja noch gar nicht gedacht. Ich werde verrückt! Sollte es heute soweit sein? Werde ich jetzt erfahren, wie es ist, wenn man mit einem Mann schläft. Ein Glück, dass es hier so dunkel und schummerig ist. Da kann er wenigstens meine erbärmliche verschlissene Unterwäsche nicht sehen ... Was er mir wohl dafür zahlt?

      »Hörst du mir eigentlich zu?«, riss er sie aus ihren Gedanken.

      »Wie? Was?« Sie war völlig durcheinander.

      In diesem Moment öffnete sich wieder der Samtvorhang und der Kellner kehrte mit einigen köstlich duftenden Dingen an den Tisch zurück.

      »Wir