Katharina Burkhardt

In meinem Herzen nur du


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Aber er hatte das auf eine Weise getan, dass sie das Gefühl nicht loswurde, ihre Mutter habe noch eine andere Erkrankung. Eine, die so schlimm war, dass man sie nicht beim Namen nannte.

      Finn begleitete Greta gelegentlich, wenn sie Erledigungen für ihre Eltern machte. Das waren die seltenen Gelegenheiten, bei denen sie sich sahen. Doch Finn behagte es immer weniger, dass sie sich heimlich trafen.

      »Du darfst deine Eltern nicht länger anlügen«, sagte er eindringlich.

      »Du lügst deinen Vater doch auch an.« Greta schob den Einkaufswagen durch die Gänge des Supermarkts zu den Kühltruhen mit Fleisch. Früher hatten sie ihr Fleisch beim Schlachter gekauft, dessen Geschäft gegenüber der Apotheke lag. Aber im vergangenen Jahr hatte er zugemacht.

      »Das ist was anderes«, behauptete Finn. »Mein Vater hat mir nicht ausdrücklich verboten, dich zu sehen. Er ist grundsätzlich gegen alles, was Spaß macht. Wenn ich immer auf ihn hören würde, dann würde ich genauso enden wie er.«

      »Meine Eltern verbieten mir auch alles, was Spaß macht.« Greta beugte sich über eine Kühltruhe und zog zwei Pakete mit Hackfleisch heraus.

      »Das stimmt doch nicht. Du hast echt keine Ahnung, wie so was ist.«

      Greta fuhr herum und sah Finn böse an. »Was soll das denn heißen? Dass ich zu blöd bin, um zu kapieren, wie es ist, mit einem besoffenen Vater zu leben? Dafür weißt du nicht, wie es ist, mit einer bekloppten Mutter zu leben.«

      Finn sah schockiert aus, und auch Greta war entsetzt über ihre eigenen Worte. Was hatte sie da nur gesagt? Schweigend schob sie den Einkaufswagen zum Regal mit den Nudeln. Als sie sich verstohlen nach Finn umsah, war er verschwunden.

      Am nächsten Tag stand Finn bei den Fahrradständern, als Greta mittags aus der Schule kam. Es war ein windiger, kalter Tag im Oktober und sie wickelte einen Schlauchschal um ihren Kopf. Finn sah verfroren aus. Er musste schon eine ganze Weile da stehen. Greta wusste, dass er mittwochs immer eine Stunde früher Schluss hatte als sie, und sie war unendlich erleichtert, ihn zu sehen.

      Er wirkte nicht mehr so verletzt wie tags zuvor, aber der Ausdruck in seinen Augen zeigte Greta, dass sie auch nicht ganz ungeschoren davonkommen würde. Aber es war okay. Finn zu verlieren, war ein schrecklicher Gedanke. Lieber ließ sie sich von ihm ausschimpfen.

      Seite an Seite schoben sie ihre Räder die Straße entlang. »Es tut mir leid, was ich gestern gesagt habe«, murmelte Greta verlegen.

      »Schon okay.« Finns Gesicht war verschlossen.

      Sie wartete darauf, dass er noch etwas Ärgerliches hinzufügen würde, aber er schwieg nur.

      Erst nach einer ganzen Weile, als sie bereits bei Gretas Straße angelangt waren, drehte er sich zu ihr um.

      »Was meintest du eigentlich damit, dass deine Mutter bekloppt ist?«

      Greta zögerte. Obwohl sie längst entschieden hatte, dass sie Finn nicht anlügen wollte, fiel es ihr doch schwer, ihr Familiengeheimnis preiszugeben. Zumal sie schreckliche Schuldgefühle plagten, seit sie so hässlich über ihre Mutter gesprochen hatte.

      »Sie ist manchmal so komisch«, sagte sie schließlich. »Sie läuft tagelang im Morgenmantel herum. Und sie vergisst lauter Dinge.«

      Finn sah sie aufmerksam an. Sein Blick wurde freundlicher und offener, was Greta ermutigte, weiterzureden. »Vor ein paar Tagen stand sie im strömenden Regen ohne Jacke in unserem Garten und hat die Bäume angestarrt. Als ich zu ihr gegangen bin, habe ich gesehen, dass sie weinte.«

      Schaudernd dachte Greta an jenen grässlichen Nachmittag, von dem sie nicht einmal Mareike erzählt hatte. Sie hatte ihre Mutter am Arm genommen und ins Haus geführt. Sie hatte ihr aus den nassen Kleidern geholfen und ihr einen Tee gekocht. Es erschütterte sie nach wie vor zutiefst, dass ihre Mutter, die normalerweise stark und verlässlich war, gelegentlich so verzweifelt und hilflos wirkte und die Unterstützung ihrer Kinder benötigte.

      Sie hatte ihren Vater angerufen, der augenblicklich nach Hause gekommen war. Greta hörte ihn am Telefon mit Dr. Springer sprechen und dabei fiel das Wort Depression. Sie hatte keine Ahnung, was das war, aber ihr war klar, dass es etwas völlig anderes als Migräne sein musste.

      »Ich weiß, was Depressionen sind«, sagte Finn jetzt zu ihrer Verwunderung. »Dann weint die Seele.«

      Er fasste nach Gretas Hand und hielt sie fest. Hand in Hand gingen sie weiter.

      »Es tut mir so leid«, hob Greta noch einmal an. »Ich wollte nichts Blödes über deinen Vater sagen.«

      »Aber es stimmt ja.« Finn zog die Nase hoch. »Er ist ein übler Suffkopp. Und ich kann dir unmöglich lange böse sein«, fügte er mit einem verlegenen Lächeln hinzu.

      »Ich dir auch nicht.« Greta war unendlich erleichtert.

      Und dann stellte Finn sein Rad an einen Laternenpfahl und nahm sie in die Arme. Feiner Nieselregen setzte ein, aber das merkten sie kaum.

      »Trotzdem solltest du irgendwann mit deinen Eltern reden«, sagte Finn. »Vielleicht, wenn es deiner Mutter wieder besser geht.«

      »Ich weiß.« Greta fühlte sich immer unwohler in ihrer Haut, weil sie so viel log. Ein paarmal hatte sie sich zu Hause fast verplappert und erschrak zutiefst. Sie fürchtete die Ablehnung, die ihre Eltern Finn entgegenbrachten, aber sie fürchtete sich auch vor dem Donnerwetter für ihre Lügereien. Mittlerweile wusste sie kaum, was schlimmer war.

      Doch auch Finn vermied weiterhin Begegnungen zwischen Greta und seinem Vater. Ole Janssens Trunksucht wurde von Jahr zu Jahr schlimmer. Während er es früher trotzdem geschafft hatte, seine Arbeit zu bewältigen, gelang ihm dies nun immer seltener. Aufträge blieben liegen, die Kunden waren verärgert und suchten sich einen anderen Schmied. Die Janssens gerieten zunehmend in Geldnot, und Finn wirkte oft ebenso bedrückt wie Greta, wenn sie sich trafen.

      Und auch Mareike war nicht glücklich. Es wurmte sie, dass Greta sie ständig als Alibi benutzte und zu Hause behauptete, sich mit ihr zu treffen, während sie in Wahrheit mit Finn zusammen war.

      »Du hängst ja nur noch mit Finn rum«, beschwerte sie sich.

      »Stimmt doch gar nicht«, verteidigte sich Greta. »Bloß, weil du gestern nach dem Volleyball allein nach Hause fahren musstest, machst du hier so einen Aufstand.«

      »Gestern bloß?« Mareike verzog das Gesicht. »Letzte Woche auch schon. Und vorletzte.«

      Sie standen auf dem Pausenhof dicht beieinander, und doch schien der Abstand zwischen ihnen riesig zu sein. Es war ein sonniger, aber frostiger Tag Anfang Dezember, Greta wickelte ihren Schlauchschal enger um ihren Kopf und trat von einem Fuß auf den anderen. Sie verstand nicht, warum Mareike sich so aufregte. Sie sahen einander doch jeden Tag in der Schule. Und sie spielten zusammen Volleyball im Turnverein. Ja, gewiss, sie trafen sich nachmittags seltener als früher. Aber dazu fehlte einfach die Zeit. Greta ging noch reiten und zum Klavierunterricht und Mareike zum Jazztanz.

      Greta verbrachte neben ihren alltäglichen Verrichtungen zudem viel Zeit mit Weihnachtsvorbereitungen. Sie buk Plätzchen und bastelte mit Julia einen Fotokalender als Weihnachtsgeschenk für ihre Eltern. Stundenlang wählten sie unter Dutzenden von Bildern die schönsten aus, zerschnitten sie und erstellten damit Collagen auf dem Kalenderpapier.

      Immerhin ging es Gretas Mutter zurzeit wieder gut, sodass sie ihr nicht auch noch ständig zur Hand gehen musste.

      Dennoch traf sie auch Finn vergleichsweise selten. Jetzt im Winter, wo es viel regnete und stürmte, gab es dafür wenig Gelegenheiten. Draußen war es zu ungemütlich und Finn hatte sein Zimmer kaum für sich. Martin hockte ständig auf seinem Bett, las Comics und ließ sich nur unter wütendem Protest vertreiben.

      »Es ist eben gerade viel los«, sagte Greta zu Mareike.

      Die schaute immer noch finster, aber sie machte ein Friedensangebot. »Kommst du wenigstens morgen mit ins Kino?«

      »Was willst du denn gucken?«