Katharina Burkhardt

In meinem Herzen nur du


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vom Wind zerzaust und ihr Gesicht vom Regen benetzt.

      »Vielleicht werde ich krank«, murmelte sie. »Ich mache mir mal einen Tee und gehe zu Bett.«

      Greta sah ihrer Mutter beunruhigt hinterher. Sie war doch nie krank. Und sie ging auch nie vor ihren Kindern schlafen.

      Ihr Vater klatschte in die Hände. »Für euch ist auch Schlafenszeit. Ab ins Badezimmer zum Zähneputzen.«

      »Jetzt schon?« Greta sah auf die Uhr. Normalerweise durfte sie immer noch etwas länger als Julia aufbleiben.

      »Allerdings. Für dich gibt es keine Extrawurst, mein Fräulein.«

      Murrend folgte Greta ihrer Schwester ins Badezimmer. Zum Gutenachtsagen kam an diesem Abend nur ihr Vater an ihr Bett. Auch das war ungewöhnlich. Nachdem sie alleine war, wälzte Greta sich eine Weile im Bett hin und her. Dann holte sie eine Taschenlampe aus ihrer Nachttischschublade. Unter der Bettdecke las sie ihr Buch fertig. Sie musste einfach wissen, wie es ausging, auch wenn sie dadurch viel zu spät einschlief.

      Am nächsten Morgen erschien ihre Mutter im Morgenmantel zum Frühstück. Das kam sonst nie vor. Normalerweise war sie immer schon angezogen, wenn die Mädchen aufstanden.

      »Bist du wieder gesund, Mama?«, fragte Greta.

      »Ein bisschen Kopfweh habe ich noch, das ist alles.« Erika Bubendey schmierte lächelnd Butterbrote für die Schule, wie sie es jeden Morgen tat.

      Als Greta mittags heimkam, verkündete ihre Mutter, es gäbe heute Tiefkühlpizza. Hartmut Bubendey, der ebenfalls jeden Mittag zum Essen nach Hause kam, zog überrascht die Augenbrauen hoch, aber seine Töchter waren hellauf begeistert. Normalerweise gab es bei ihnen nie so tolle Sachen, immer nur Gemüse, Kartoffeln und Fleisch.

      »Habt ihr viele Hausaufgaben auf?«, fragte ihre Mutter.

      »Bei mir geht es ganz schnell.« Julia stopfte ein Stück Salamipizza in ihren Mund.

      »Bei mir ist es eine Menge«, erklärte Greta verdrossen. »In Erdkunde müssen wir Landkarten zeichnen, das dauert bestimmt ewig.«

      »Nun, dann setz dich bitte gleich ran. Und du auch, Julia. Erst Hausaufgaben, dann Spielen.« Erika Bubendey sah ihre Töchter der Reihe nach mahnend an. »Ich werde mich inzwischen ein Stündchen hinlegen, so ganz wohl ist mir immer noch nicht.«

      Bald darauf stand sie auf und verließ die Küche.

      Hartmut Bubendey wischte sich mit einer Serviette den Mund ab. »Ihr habt gehört, was eure Mutter gesagt hat.«

      Die Mädchen nickten.

      »Und seid leise, ja? Eure Mutter braucht ein bisschen Ruhe.«

      Wieder nickten die Mädchen, diesmal erstaunt. Von ihrem Vater kannten sie es durchaus, dass er sich zu einem kurzen Mittagsschlaf zurückzog, bevor er wieder in die Apotheke ging. Aber ihre Mutter legte sich nie tagsüber hin.

      Doch sie begriffen bald, dass sich etwas verändert hatte. Immer häufiger klagte ihre Mutter in nächster Zeit über Müdigkeit und Kopfschmerzen, und bald wurde es ihr zur Gewohnheit, sich jeden Mittag für ein, zwei Stunden zurückzuziehen. In dieser Zeit hatte absolute Stille zu herrschen, selbst das Telefon schaltete ihr Mann aus, bevor er wieder zur Arbeit ging.

      »Was hast du denn, Mama?«, fragte Julia einmal.

      »Ach, mir ist nur ein wenig schwindelig. Das kommt von den dummen Kopfschmerzen. Aber wenn ich mich ausruhe, wird es rasch besser.« Ihre Mutter zog Julia auf ihren Schoß. »Hast du Lust, mit mir Plätzchen zu backen? Advent ohne Plätzchen ist doch doof, oder?«

      »Ja!«, rief Julia begeistert und klatschte in die Hände.

      Doch später kam sie in Gretas Zimmer, hockte sich mit angezogenen Beinen auf ihr Bett und presste ihr Monchhichi an ihre Brust. Das affenähnliche Plüschtier schleppte sie neuerdings ständig mit sich herum. Die langen Haare fielen ihr unordentlich in das rundliche Gesicht. Normalerweise achtete ihre Mutter immer darauf, dass Julia ihre blonde Mähne mit einer Spange bändigte. Das hatte sie heute offenbar vergessen.

      »Glaubst du, Mama stirbt?«

      »Was?« Greta sah ihre kleine Schwester entgeistert an. »Wie kommst du denn darauf?«

      »Elisabeths Oma hatte auch oft Kopfschmerzen, und dann war sie einfach tot.«

      Die Angst, die Greta in den letzten Wochen immer wieder verdrängt hatte, griff auf einmal mit langen Fingern nach ihr. Sie riss an ihrem Herzen und drückte ihre Kehle zu.

      »Nein«, flüsterte sie. »Ganz bestimmt nicht. Die Mama wird noch ewig leben.«

      Doch im Zimmer sank die Temperatur auf einmal um fünfzig Grad ab. Auch Julia schien es zu bemerken, sie drückte ihr Monchhichi mit erschrockenem Gesicht fester an sich. Greta kroch zu ihr aufs Bett und zog ihren Kopf an ihre Brust.

      »Es wird alles gut, kleine Schwester«, flüsterte sie, aber die langen Finger der Angst zerrten so heftig an ihr, dass sie es kaum auszuhalten vermochte.

      Abends sprach Greta ihren Vater an, als sie ihm dabei half, die Küche aufzuräumen, während ihre Mutter schon wieder im Bett lag.

      »Julia hat gefragt, ob Mama stirbt.«

      Ihr Vater, der gerade einen Topf in die Geschirrspülmaschine räumte, richtete sich abrupt auf.

      »Wie kommt sie denn darauf?«

      »Die Oma von einem Mädchen aus ihrer Klasse ist gestorben, weil sie Kopfschmerzen hatte.«

      »An Kopfschmerzen stirbt man nicht, Greta. Vermutlich hatte die alte Frau eine ernste Krankheit. Das ist bei deiner Mutter aber nicht der Fall. Sie ist nur etwas erschöpft, das ist alles. Wir müssen ein bisschen Geduld mit ihr haben, ja?«

      Zwei Tage später bekam Greta mit, wie ihre Großmutter anrief, die im Ruhrgebiet lebte. Herta und Willi Paulsen waren Erika Bubendeys Eltern.

      »Uns geht es allen gut«, hörte Greta ihren Vater sagen. Und dann: »Ach, das hat Erika sicher vergessen. Du weißt doch, wie das so kurz vor Weihnachten ist, da kommt man kaum zur Besinnung.« Nach einer Pause fuhr er fort: »Sie bringt Julia gerade ins Bett, das kann ein bisschen dauern. Julia hat zurzeit Mühe mit dem Schlafen … Wie? Dann seid ihr auch schon im Bett? … Ja, da kann man nichts machen, ich richte es Erika aus.«

      Er legte auf, und da erst bemerkte er Greta.

      »Julia ist doch noch wach.« Sie konnte ihre Verwirrung nicht verbergen. »Nur Mama liegt im Bett.«

      Ihr Vater fuhr sich durch die Haare und presste die Lippen aufeinander.

      »Ich weiß.« Er räusperte sich. »Du kennst doch Oma Herta, die macht sich nur unnötige Sorgen. Sie muss nicht wissen, dass es eurer Mutter zurzeit nicht so gut geht.« Er räusperte sich erneut. »Weißt du, genau genommen muss das auch sonst niemand wissen. Die Leute reden immer so viel, das macht dann rasch in Travenstedt die Runde.«

      Greta dachte daran, wie über Finn Janssens Vater hergezogen wurde. Aber das war doch etwas anderes. Er war schließlich selbst schuld, dass er so viel trank. Ihre Mutter hingegen konnte ja nichts für ihre Kopfschmerzen. Dennoch versprach Greta ihrem Vater, mit niemandem darüber zu sprechen, dass ihre Mutter krank war. Sie kreuzte dabei hinter dem Rücken zwei Finger, denn Mareike hatte sie selbstverständlich bereits erzählt, wie eigenartig sich ihre Mutter neuerdings benahm.

      Um Weihnachten herum ging es Erika Bubendey tatsächlich besser. Sie lachte wieder so wie früher, war morgens ordentlich angezogen, wenn sie ihre Töchter weckte, und ging abends erst ins Bett, wenn die Mädchen schon lange schliefen. Nur die ausgedehnten Mittagsruhen behielt sie bei.

      Dann saßen Greta und Julia in ihren Zimmern und langweilten sich. Greta trödelte mit ihren Hausaufgaben herum und verbrachte endlose Stunden damit, auf ihrem Bett zu liegen und die weiße Raufasertapete an der Decke anzustarren, während die Stille drückend auf dem Haus lastete und jede Bewegung und jeden Gedanken schwer