Reiner Kotulla

Marijana


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gleich die Mutter ran.

      Holt der Hengst den Hammer raus,

      Spendet ihm die Magd Applaus.

      Frühling ist’s, es kräht und sprießt,

      Denk freudig dran, wenn’s wieder gießt.“

      Man sah nur heitere Gesichter, dann wurde geklatscht.

      In dem Augenblick, als ihr Floß von mehreren Händen zu Wasser geschoben wurde, hatte Alexander eine Idee, die er noch in der Nacht, als sie, nachdem alle Gäste gegangen waren, unter dem Vordach ihres Zeltes saßen, preisgab. „Was haltet ihr davon, wenn ich euch an den Abenden, an denen wir nichts Besseres vorhaben, aus meinen neuen Texten vorlese?“

      Alle drei stimmten sie sofort zu, und Charlene fragte, ob er denn, auch wenn es schon sehr spät sei und sie erst morgen starten würden, nicht schon heute damit beginnen könnte.

      „Klar, Alexander, und außerdem ist ja jetzt schon morgen.“

      Das Floß hatten sie an den aus einem Holzsteg bestehenden Uferteil, der sich unterhalb des Klubhauses befand, geschoben und dort mit Seilen befestigt, sodass sie am Morgen nur die Seile lösen mussten und die Reise beginnen konnte.

      Alexander hatte sein Manuskriptbuch aus dem Zelt geholt. Auf dem Tisch stand noch eine volle Sektflasche in ausreichendem Abstand zur wärmenden Campinggaslampe.

      „Marijana, so heißt die Geschichte“, begann er und fuhr sogleich fort:

      „Kleines Dorf im Weilburgschen. Die Glocke des kleinen Kirchleins läutet eher fröhlich, beschwingt.

       Die Menschen, schwarz gekleidet, mit Gesangbüchern in den Händen, streben dem an einem Berghang liegenden Friedhof zu. Ein grauer Oktobersamstag, einer von diesen Tagen, an denen man nicht weiß, regnet es oder ist es der Nebel, der die Gesichtshaut nass werden lässt.

       Traurige, in sich versunkene Augen schauen auf den Sarg.

       Jemand hält eine Rede, deren Worte ich kaum vernehmen kann. Ich bin mir auch nicht sicher, hätte ich sie gehört, ob ich sie auch verstanden hätte.

       Dann der Chor: „Wenn du gehst, gehst du mit mir“. Das verstehe ich, kenne die tragische Geschichte.

       .

       ***

       Ich hatte mich im Hotel Golfo di Arzachena eingemietet. Cannigione, eine kleine Stadt, die zur Kommune von Arzachena gehört, war zu früheren Zeiten ein Fischerdorf gewesen. Heute verdienen die meisten Einwohner ihr Geld durch den Tourismus, der hier von Ende April bis Mitte Oktober das Leben beherrscht. Am eigentlichen Ortsausgang, wie an einen Berghang angelehnt, steht die Herberge. Vor ihr dehnt sich ein Parkgelände aus, auf dessen anderer Seite die Bebauung der Hänge in den letzten Jahren stark zugenommen hat. Bedingt durch die hier herrschenden Bauvorschriften, die das Bauen nur bis zu einer bestimmten Höhe und die Architektur der Häuser auf den traditionellen Stil Nordsardiniens festlegen, ist die eigentliche Stadtgrenze nicht mehr erkennbar. Diese Details hatte ich von Peter erfahren, den ich am Strand, der sich etwa einhundert Meter unterhalb meines Hotels befindet, kennengelernt hatte. Zu Hause hatte ich mir vorgenommen, viel zu schwimmen und zu wandern, wollte zu mir selbst finden in diesem Urlaub.

       Morgens, nach dem Frühstück, ging ich regelmäßig, nur mit Bikini und Jogginganzug bekleidet, hinunter an den Strand. Dort legte ich Hose, Jacke und Handtuch in den Sand, stieg ins Wasser und schwamm so weit ich konnte, natürlich den Rückweg einkalkulierend, hinaus.

       Wenn ich dann zurückkam, war ich erschöpft, fühlte mich aber trotzdem sehr wohl.

       Eine Zeit lang noch blieb ich dann am Strand sitzen, schaute einfach nur hinaus auf den Golfo di Arzachena und zur Bergkette auf der gegenüberliegenden Golfseite. An meinem fünften Urlaubstag, es war ein Donnerstag, saß, als ich zurückkam, ein Mann neben meinen Sachen, schaute mich an, als ob er auf mich gewartet hätte.

      „Ich beobachte Sie schon seit zwei Tagen, und da wollte ich sehen, wer da mit einer solchen Regelmäßigkeit Frühsport betreibt.“

       Ich hatte nicht die Absicht, in diesem Urlaub Bekanntschaften zu machen, wollte allein sein, um in aller Ruhe auch über meine Beziehung zu Dieter nachdenken zu können. Ehrlichkeit dachte ich, vielleicht wirkt sie? „Wissen Sie, ich bin hierhergekommen, um meine Ruhe zu haben. Ich habe nicht die Absicht, jemanden kennenzulernen.“

       Ich schätzte den Mann auf Ende dreißig. Er war schlank, sah aber nicht besonders sportlich aus. „Entschuldigen Sie bitte. Ich will Sie nicht anmachen, respektiere Ihre Absicht. Will dann auch nicht weiter stören.“

       Er erhob sich und wandte sich zum Gehen. Dann drehte er sich noch einmal zu mir um. „Ich wohne in der Nähe, und, wie gesagt, beobachte ich Sie seit vorgestern. Ich denke, dass auch mir ein wenig sportliche Betätigung sicher gut täte.“ Dabei schaute er an sich herunter und, so glaubte ich es zu bemerken, streckte demonstrativ seinen Bauch ein wenig hervor.

      „Wenn Sie meinen“, sagte ich, blieb sitzen und schaute aufs Meer hinaus, obwohl ich jetzt gerne zum Hotel zurückgegangen wäre.

       Dann, als er außer Sichtweite war, zog ich mir im Sitzen die Bikinihose aus und die Jogginghose an. Desgleichen verfuhr ich mit dem Oberteil. Ich ging auf mein Zimmer, duschte und zog mich an.

       Mit einem Buch unter dem Arm lief ich hinunter in die Hotelhalle und durch einen Seitenausgang hinaus in den hoteleigenen Park. Hier standen einige Pinien, die, so nahm ich an, so beschnitten worden waren, dass sie über einem circa acht Meter hohen Stamm eine breit ausladende Krone bildeten, ein Dach oder besser einen großen, natürlichen Sonnenschirm. Um den Stamm herum standen einige bequeme Liegen, deren Sitzpositionen variabel einstellbar waren. Ich setzte mich, begann zu lesen, fand aber nicht die nötige Ruhe dazu. Immer wieder wanderten meine Gedanken nach Hause nach Weilburg an der Lahn.

       Ich war gerade zweiundvierzig Jahre alt geworden, arbeitete bei einer Versicherung und engagierte mich in meiner Freizeit auch politisch. Ich musste lächeln, weil ich gerade im sogenannten Bewerbungsstil dachte, bin aber froh, dass mich niemand dabei beobachtete. Ich war hier draußen alleine und genoss es, dass die großen Touristenströme jetzt im September bereits versiegt waren.

       Die zu dieser Zeit hier herrschende Temperatur wie auch das Wetter überhaupt kamen einem schönen deutschen Sommer nahe. Aber auch in der Gallura, so heißt die Landschaft im Norden Sardiniens, wo überwiegend Granitsteinbrüche die industriellen Ansiedlungen bilden, ist die Natur nicht mehr in heiler Ordnung.

       Einer Hotelangestellten hatte ich darüber berichtet, dass mir beim Schwimmen wiederholt Feuerquallen, Medusen, wie man hier sagt, begegnet waren. Die Frau hatte eine bedauernde Geste gemacht und erklärt, dass man die hier noch vor einigen Jahren nicht gekannt habe. Auch im hiesigen Meer ist also das Gleichgewicht der Natur gestört, dachte ich.

       Einen Mann am Nachbartisch hörte ich während des gestrigen Abendessens darüber berichten, dass im vergangenen August städtische Arbeiter Feuerquallen eimerweise davongetragen hätten. Als ich das hörte, dachte ich daran, dass ich mich zu Hause schon oft an Protestaktionen beteiligt hatte, die gegen die Zerstörung unserer natürlichen Umwelt gerichtet waren. All das ging mir durch den Kopf und mir fiel auf, dass ich wieder nicht konkret über meine derzeitigen Probleme nachdachte, was ich doch eigentlich wollte, als ich das Buch zur Seite gelegt hatte.

       Jetzt stellte sich Bewegungsdrang ein. Warum nicht, dachte ich, stand auf und ging auf mein Zimmer. Ich zog Jeans, T-Shirt und feste Schuhe an und machte mich auf den Weg. Ich war dabei, eine Strecke über die Berge nach Arzachena zu erkunden und schon ein gutes Stück vorangekommen. Ich benötigte heute etwa eine Stunde, um das Ende des bereits gelaufenen Abschnitts zu erreichen. Dann wandte ich mich weiter in westlicher Richtung und erreichte bald einen Bergrücken, von dem aus ich hinunter ins Tal und bis nach