Reiner Kotulla

Marijana


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sie sich um und verließ den Raum.

      Ewald, nun echt wütend, griff erneut nach dem Ordner und rannte fast, ohne mich noch einmal anzuschauen, in Richtung des Nachbarbüros. Bald darauf kam die Verkäuferin zurück, setzte sich an ihren Schreibtisch, schrieb etwas auf. Dann kam sie zu mir an die Theke, wortlos, und legte mir die Rechnung hin. ‚Das ist gleichzeitig der Lieferschein, wenn Sie den dann bitte unterschreiben würden.‘

      Inzwischen war der erste Kollege wieder in den Verkaufsraum gekommen. Ich hatte unterschrieben und bezahlt, als sie mich bat, ihr zu folgen. Vor der Tür der Werkhalle lag die Rolle Stahlband. ‚Ich möchte mich bei Ihnen bedanken‘, wandte ich mich an die Frau.

      ‚Tun Sie das.‘

      Jetzt war ich unschlüssig, was sollte ich sagen? Dieses Mal half sie mir nicht. Also sagte ich einfach ‚herzlichen Dank‘, nahm die Rolle auf und ging zu meinem Auto.“

      Da war er wieder, Charlenes skeptischer Blick.

      Später, als Volker und Alexander alleine waren, erzählte Volker, dass er sich mit ihr verabredet hatte, auf einen Kaffee im Café Alte Lahnbrücke.

      In dieser Nacht hatte Alexander einen seltsamen Traum. Er war wieder in seiner ehemaligen Redaktion. Ihm war eine Volontärin zugeordnet worden, die kurz vor der Prüfung stand. Da wollte er unbedingt dabei sein. Er irrte durch das Gebäude, fand aber den Raum, in dem die Prüfung stattfinden sollte, nicht, obwohl er dessen Lage genau zu kennen glaubte. Dann lag er mit einer anderen, sehr jungen Frau im Bett, die er zuvor noch nie gesehen hatte. Widerstandslos ließ die sich streicheln, doch zeigte sie keinerlei Regung. Plötzlich lag die Volontärin neben ihm, und die andere Frau stand am Fenster, blickte hinaus und tat, als ob sie das Ganze nichts anginge. Die Volontärin schaute ihn erwartungsvoll an, im Blick das Verlangen nach einer Erklärung.

      „Du machtest einen so unnahbaren Eindruck, dass ich nicht gewagt habe, es bei dir zu versuchen.“

      „Ich weiß, so bin ich.“

      Inzwischen befanden sie sich auf einem Waldweg, und er suchte nach einer Möglichkeit, ihr näherzukommen, als er am Wegrand einen großen Reisighaufen entdeckte. In den krochen sie hinein, was ihnen auch mühelos gelang. Er vermochte jedoch nicht, die Öffnung zum Weg hin zu schließen. Dies gelang jedoch einem jungen Mann, der wie aus dem Nichts heraus aufgetaucht war. Nun waren sie allein. Er lag ihr zugewandt. Seine Hand lag auf ihrem stark ausgeprägten Venushügel. Sie reagierte sofort, obwohl er seine Finger kaum bewegte. Bald spürte er ihren herannahenden Orgasmus, als der junge Mann von außen ein herbeikommendes Auto meldete. Dann standen er und die Frau auf einer Straße, und neben ihnen hielt ein kleiner Lastwagen. Die Fahrerin fragte, ob sie sie mitnehmen könnte. Sie bedeutete ihnen, auf der Ladefläche Platz zu nehmen. Als er dort hinaufgeklettert war, lag sie bereits auf einer dort ausgebreiteten Decke. Alexander erwachte mit starkem Harndrang.

      Simone war bereits zur Schule gegangen, und so konnte er sich in aller Ruhe das Frühstück zubereiten, um hinterher, zur Ideensammlung, einen ausführlichen Speziallauf zu absolvieren. Und dazu die Zeitung.

      „Die Karnevalsgesellschaft verhüllt den Kalsmunt-Turm“, las er und musste an Christo, der mit seiner Aktion, den Berliner Reichstag zu verhüllen, seinerzeit viel Aufsehen erregt hatte. Der hatte da nicht irgendein Gebäude verhüllt, sondern ein Symbol.

      Entstanden als ein Gebäude preußischer Scheindemokratie, später ein paar Jahre Hort der Weimarer Republik, von den Nazis als einen solchen symbolisch angezündet und verbrannt, von der Roten Armee als Ort ausgewählt, wo sie zum Zeichen der Befreiung des deutschen Volkes vom Hitlerfaschismus im Mai 1945 die rote Fahne gehisst und der nun, wieder aufgebaut, zum Aushängeschild für den durch den Anschluss der DDR an die BRD neu entstandenen Staat werden sollte. Da durfte er sich schon fragen, warum ein solches Gebäude unsichtbar gemacht werden sollte.

      Diese Frage warfen die Organisatoren der Kalsmunt-Verhüllung nicht auf. Beteiligt waren außer der Karnevalsgesellschaft ein Transportverein und das Wetzlarer Stadtbauamt, so las Alexander weiter. Also wurden da auch öffentliche Mittel verbraten. Und wofür? Auch darüber gab der Artikel Auskunft. Ein Wettbewerb des Hessischen Rundfunks und die damit verbundene Hoffnung auf einen Preis.

      Nun, dachte Alexander, wenn sie schon so wenig kreativ sind und eine Sache kopieren müssen, haben sie vielleicht den Kalsmunt als ein Symbol des menschenverachtenden Feudalismus, in dem sich auch heimische Adlige durch die Ausbeutung ihrer Bauern bereichert haben, ausgewählt? Er suchte in dem Artikel vergebens nach einer Antwort. Doch halt, da stand es, der „altehrwürdige Bergfried“ ist es, der verhüllt werden soll. Das ganze Theater also nur wegen einer Aktion. Dekadent, dachte Alexander und legte die Zeitung auf die Seite.

       Sieben

      Am Samstag fragte Alexander Mühlberg, ob er etwas über den Toten, den sie beim Ruderklubgelände aus der Lahn gefischt hatten, erfahren hatte. Mühlberg wies auf seine guten Beziehungen zur Wetzlarer Polizei hin und erzählte, dass diese inzwischen die Identität des Toten ermittelt hatte. Die Obduktion hätte ergeben, dass der Mann keines natürlichen Todes gestorben war. In diesem Zusammenhang suche man nach einer Frau, mit der der Mann zusammengelebt hatte, die aber seit einigen Wochen verschwunden war.

      Alexander bat Mühlberg, auch des weiteren seine guten Beziehungen spielen zu lassen, warum, das wusste er zu diesem Zeitpunkt noch nicht genau zu sagen. „Ich bin Schriftsteller“, sagte er zu Mühlberg auf dessen entsprechende Frage hin.

      „Ah, verstehe“, sagte der.

      An diesem Wochenende waren Volker und er alleine herausgefahren. In der vergangenen Woche hatte es ununterbrochen geregnet. Der Pegel der Lahn war kräftig angestiegen. Die Arbeiten am Floß waren gut vorangegangen, der Ferienbeginn rückte immer näher heran. Heute sollte das Zelt auf der Plattform neu errichtet werden, und sie wollten dann dort eine Probenacht verbringen. Am kommenden Samstag wollten sie dann gemeinsam das Floß im festlichen Rahmen zu Wasser lassen. Sie hatten erfahren, dass an diesem Tag der Ruderklub ein Regattafest veranstalten wollte. Woraufhin Simone die Idee hatte, dass zumindest der Vorstand an der Floßtaufe teilnehmen könnte. Dem hatten sie zugestimmt und Alexander beauftragt, entsprechende Verbindungen aufzunehmen.

      Mühlberg versprach, das zu „regeln“, wie er sich ausdrückte.

      Am Abend saßen Volker und Alexander im Vorzelt um den auf der Plattform befestigten Tisch. Volker hatte Pizza besorgt, Bier lag in einer mit Gas zu betreibenden Kühlbox, die sie ebenfalls im Boden verankert hatten.

      „Du hast doch nicht immer allein gelebt, Volker?“

      „Wenn du damit meinst, in meiner eigenen Wohnung, dann stimmt das so. Ich hatte Beziehungen, aber zusammengezogen sind wir nie.“

      „Manchmal ist ein Zusammensein ohne gemeinsame Wohnung doch recht unkompliziert. Man kann die Gemeinsamkeiten nutzen, bewahrt sich aber ein gewisses Maß an eigener Freiheit.“

      „Kann schon sein, wenn beide denn auch frei sind. Ich hatte eine Beziehung zu einer verheirateten Frau, da war es sehr praktisch, dass ich eine Wohnung hatte. Und doch war das Ganze nicht einfach, wie du dir das vielleicht vorstellen kannst.“

      „Hast du sie geliebt?“

      Volker antwortete, ohne zu zögern. „Ganz sicher.“

      „Und sie dich?“

      „Genau weiß ich das nicht, obwohl sie das manchmal gesagt hat.“

      „Und ihren Mann?“

      „Den angeblich auch. Oft beteuerte sie mir, eine glückliche Ehe zu führen, mit einem Partner, der, anders als sie selbst, absolut treu sei.“

      „Gibt es das?“

      „Ich habe es lange geglaubt, bis mir jemand erzählt hat, dass ihr Mann mit einer anderen Frau ein Kind gehabt hätte. Ich habe zunächst nicht gewagt, sie daraufhin anzusprechen, weil ich fürchtete, das wäre das Ende unserer Beziehung.“

      „Das verstehe ich nicht.“

      „So ging es