Alexander Winethorn

Endgame


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ihr der Zutritt hinter diesem mysteriösen Vorhang gewährt werden würde.

      Als Albert und Lydia in den Bus stiegen, hob Alice heimlich die am Boden liegende Zigarette wieder auf, wischte den Dreck ab und steckte sie zurück in die Verpackung. Die werde ich noch bitter nötig haben, dachte sie und ging zum Bus.

      ****

      Kanzlerin Eva Scheppert und Präsident Richard Pollux befanden sich gerade auf dem Weg zum Plenarsaal, als sie die Nachricht erhielten, dass die Sitzung verschoben wurde. Der Gewerkschaftsrat verspätete sich, und so wie es aussah, würde es noch einige Zeit dauern, bis die Krisensitzung beginnen konnte.

      Eva wunderte sich nicht über die Verspätung. Wegen des Streiks kam es zum Stillstand des öffentlichen Nahverkehrs. Hinzu kam die Arbeitsverweigerung der Müllmänner, wodurch der herumliegende Abfall die Straßen und Gassen blockierte. Außerdem bestand die Gefahr, von Plünderern oder anderen Verbrechern überfallen zu werden, weswegen ein Spaziergang zu Fuß nicht zu empfehlen war. Aufgrund dieser Zustände wollte auch niemand das Parlamentsgebäude ohne Sicherheitsschutz verlassen. Aber das Parlament zu verlassen, war sowieso keine Option, schließlich mussten sie eine Lösung für die derzeitige Krise finden.

      Das Parlamentsbüro des Präsidenten war geschmackvoll eingerichtet. Neben den stilvollen Möbelstücken und Extras wie Mini-Kühlschrank und Fernseher war das Zimmer sogar mit einem Bad ausgestattet. In der Mitte des Raumes befand sich ein Glastisch, auf dem ein Schachbrett stand. Die schwarzen und weißen Schachfiguren waren bereit für eine neue Partie.

      Eva setzte sich auf die Ledercouch und holte ihren Computer aus der Tasche. Sie versuchte, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, aber es schwirrten ihr unzählige Gedanken durch den Kopf. Wie sollte sie eine Lösung für die Krise finden? Was wird mit den Menschen da draußen geschehen? Wie konnte es zu diesem Schlamassel kommen?

      Sie musste an Adam denken, der – wie sie zu diesem Zeitpunkt noch annahm –, sich außerhalb der Stadt in einem kleinen Dorf aufhielt. Seit dem großen Wirtschaftskollaps füllte sich ihr Terminkalender, weshalb sie ihn nur noch an den Wochenenden sah, wenn überhaupt. Nach dem gestrigen Überfall auf den Transporter, der den Tod zweier Polizisten zur Folge hatte, war sie zum ersten Mal froh darüber, dass Adam seinen Polizeidienst auf dem Land fernab von dem Chaos der Großstadt verrichtete. Sie nahm ihr Handy aus der Tasche und sah auf dem Display die unzähligen unbeantworteten Anrufe. Keiner der Nummern gehörte zu ihrem Verlobten. Enttäuscht legte sie das Telefon wieder zurück.

      Es klopfte an der Tür.

      Draußen am Korridor stand ein älterer Herr im Sportanzug. Es war Jacomo, der Friseur des Präsidenten.

      Nachdem die Sitzung verschoben wurde, ließ Pollux nach ihm rufen. Natürlich wäre Jacomo lieber bei seiner Frau und seinen drei Kindern geblieben, als dem Präsidenten mitten in der Nacht die Haare zu schneiden. Besonders bei all den Unruhen wollte er seine Familie nicht alleine lassen, aber das hätte sich Jacomo nie getraut, dem Präsidenten ins Gesicht zu sagen. Er lächelte nur freundlich und hoffte auf ein baldiges Ende.

      Während der Friseur die nötigen Vorbereitungen traf, um Teile des Büros in einen improvisierten Haarsalon umzuwandeln, nutzte Eva die Gelegenheit, die Daten auf ihrem Computer zu durchforsten.

      »Woran arbeiten Sie«, fragte der Präsident neugieriger.

      »Ich werte die Zahlen der letzten Quartale aus, um für die Verhandlungen mit dem Gewerkschaftsrat eine geeignete Basis zu finden.«

      Präsident Pollux brummte zustimmend und genehmigte sich ein Glas Scotch. Auf Jacomos Wunsch hin, setzte er sich in den drehbaren Ledersessel, vor dem der Friseur einen Spiegel aufgestellt hatte. Jacomo band dem Präsidenten eine schwarze Schürze um und begann dessen Haare nachzufärben.

      Die grauen Haare mussten weg.

      Nicht unbedingt, weil der Präsident eitel war, sondern aufgrund der Popularität. Die letzten Umfragen hatten ergeben, dass Politiker mit grauen Haaren oder Politiker mit Glatze eine bis zu dreißig Prozent geringere Beliebtheit bei den Wählern erzielten, als Politiker mit vollem, kräftigem Haar. Da noch einige Pressetermine für diese Nacht geplant waren, wollte der Präsident sich von seiner besten Seite zeigen. Deshalb befahl er Jacomo, seine grauen Haare mit einem gesunden, jungen Haselnussbraun zu kaschieren. Sicher spielte, wie bei den meisten Politikern, auch die Eitelkeit eine Rolle, darüber sprach man jedoch nicht.

      Was die Wähler nicht wussten, war die Tatsache, dass Pollux von Natur aus rote Haare hatte. Seit seiner Jugend ließ er sie braun färben. Laut einer Studie misstrauten die Leute einen Politiker, der rotes Haar hat. Mit dem Alter kamen die grauen Haare, und vom roten Farbton war nichts mehr zu sehen. Außer ein paar alten Jugendfotos bewiesen nur noch seine zwei Kinder, Alice und Peter, seine einst feuerrote Haarpracht. Beide Sprösslinge erbten dieses markante Erscheinungsbild von ihm. Der Präsident hatte aber dafür gesorgt, dass die Medien die Kinder nie zu Gesicht bekamen, so ersparte er sich auch etwaige Fragen bezüglich seiner Haarfarbe.

      Derweil Jacomo die Haare des Präsidenten färbte, erledigte Eva einige Telefonate mit ihren Parteimitgliedern, die entweder nicht kommen konnten oder bereits auf dem Weg waren. Es gab viel zu tun. Leider konnte ihre Assistentin, Frau Mirna, nicht bei ihr sein und ihr bei der Arbeit aushelfen. Sie traute sich nämlich vor Angst nicht aus dem Haus. Während Eva vollstes Verständnis für Frau Mirnas Verhalten hatte, zeigte sich der Präsident mit seiner Assistentin nicht so nachsichtig. Er kündigte sie fristlos, nachdem sie nicht zur Arbeit erschien.

      Nach etlichen Telefongesprächen gönnte sich die Kanzlerin eine Pause und ließ sich wieder in die bequeme Couch fallen.

      Der Präsident bemerkte Evas Erschöpfung. »Sie machen sich zu viele Sorgen, Frau Scheppert«, beschwichtigte er. »Schonen Sie Ihre Kräfte für die Krisensitzung.«

      »Danke, aber ich glaube, die Kanne Kaffee, die ich heute getrunken habe, wird mich noch für einige Zeit wach halten.«

      »Diese einfältigen Leute!«, stieß Präsident Pollux zornig hervor. »Wären sie nicht so undankbar und gierig, wären wir alle nicht in dieser Lage.«

      »Von wem sprechen Sie, Herr Präsident?«, fragte Eva, die nicht ganz genau verstand, worauf er hinaus wollte.

      »Natürlich vom Volk, Frau Scheppert! Ich spreche vom Volk! Reden wir doch einmal offen miteinander. Auf dieser Welt gibt es nur zwei Klassen von Menschen: die Klasse, die führt und herrscht, und die Klasse, die folgt und dient. So funktioniert unsere Gesellschaft. Als noch die Pharaonen, Cäsaren, Könige und Imperatoren regierten, unterwarf sich das Volk bereitwillig der göttlichen Macht ihrer Herrscher und verehrte sie dementsprechend. Die Leute kannten ihren Platz in der Gesellschaft und akzeptierten ihn. Damals wusste man, dass nicht jeder zum Herrscher geboren ist, sondern nur ausgewählte Menschen dieses Privileg besitzen. Menschen mit dem richtigen Blut. Aber mit der Zeit wurde das Volk anmaßend und überheblich, es stellte sich mit den Herrschern auf eine Stufe.«

      »Ich muss zugeben, dass ich über Ihre Ansichten etwas schockiert bin«, erwiderte Eva. »Schließlich stamme ich selber aus einer einfachen Arbeiterfamilie. Und trotz meiner bescheidenen Herkunft, meiner Hautfarbe und meinem Geschlecht, habe ich mir diese Stellung hart erarbeitet. Ich denke, jeder kann durch ehrliche Arbeit und Fleiß an die Spitze gelangen, unabhängig seiner Abstammung und seines Blutes.«

      Präsident Pollux nahm einen weiteren Schluck Scotch und murmelte: »Wenn Sie das glauben wollen, Frau Scheppert.« Nachdem er das Glas geleert hatte, fuhr er fort: »Wäre die Klasse von Menschen, die folgt und dient, nicht so unersättlich und würden sie sich mit dem zufriedengeben, was ihnen zusteht, so wäre diese Krise erst gar nicht entstanden. Zuerst war es das Wahlrecht, danach kam der freie Zugang zu den Schulen und anderen Bildungseinrichtungen, gefolgt von der freien medizinischen Versorgung und so weiter und so fort. Alles soll gratis und für jeden frei zugänglich sein, aber niemand möchte dafür bezahlen. Kaum reicht man ihnen den kleinen Finger, schon wollen sie die ganze Hand. Natürlich musste es früher oder später so weit kommen.« Der Präsident wurde still. Jacomo nahm seine Schere und begann, die nun braun gefärbten Haare zurechtzuschneiden.

      »Ich glaube«, sagte Eva, »die Leute