Alexander Winethorn

Endgame


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Wir sind nicht gierig«, meinte der Präsident energisch. »Wir nehmen nur das, was von Geburt an rechtmäßig unser ist. Wir gehören immerhin zur gehobenen Klasse, der Führungsklasse. Herrscher haben Privilegien, und das Volk sollte dankbar darüber sein, für diese Privilegien aufkommen zu dürfen. Gäbe es uns nicht, wären die Menschen wie Kinder ohne Eltern. Wer sonst würde ihnen sagen, was sie zu tun haben und was nicht? Wenn es uns nicht gäbe, würden die Leute verzweifelt und kopflos umherirren. Niemand würde für die nötige Struktur und Ordnung sorgen. Ohne uns bekämen sie nichts mehr zustande. Ohne Herrscher gäbe es nur unkontrollierbares Chaos. Das ganze Land, ja sogar unsere ganze Zivilisation würde zusammenbrechen. Ohne die Führung und die Vision der Elite wären die Menschen nichts weiter als herrenlose Tiere, die sich gegenseitig zerfleischen würden. Niemand würde sie im Falle eines Krieges kommandieren. Niemand würde ihre Schulen und Krankenhäuser organisieren, und sie hätten niemanden, der ihnen sagt, wann sie den Müll zu beseitigen haben. Schauen Sie hinaus, Frau Scheppert! Sehen Sie, wie der ganze Abfall unsere Straßen verstopft? Man kann bereits den verfaulten Gestank bis hinauf ins Parlament riechen. Die Bürger verhalten sich wie Kinder, die ihre Zimmer nicht aufräumen wollen und lieber in ihrem eigenen Mist ersticken. Und der Gewerkschaftsrat verwöhnt diese Arbeiterklasse auch noch mit Begünstigungen und Rechten. Dieses Schmarotzerpack ist einfach nur faul und … Ouch! … Pass doch auf Jacomo!«

      Der Friseur hatte ihn mit der Schere am Ohr geschnitten. »Verzeiht mir, Herr Präsident!«, sagte er und holte ein Taschentuch, das er gegen die Verletzung drückte. Nachdem die Wunde aufgehört hatte zu bluten, setzte er seine Arbeit fort.

      Eva wollte die Aussage des Präsidenten, die sie als sehr verstörend empfand, widerlegen, als ihr Telefon anfing zu läuten. Nach einem kurzen Gespräch legte sie wieder auf.

      »Mir wurde soeben mitgeteilt, dass die Medien über die erste Demonstration der heutigen Nacht live berichten werden.« Sie nahm die Fernsteuerung des Fernsehers, der an einer der Wände des Büros befestigt war, und schaltete das Gerät ein.

      Jacomo wurde mit seiner Arbeit fertig und räumte seine Sachen zusammen. Präsident Pollux betrachtete mit zufriedener Miene seine neue Frisur im Spiegel. Jacomo bekam für seine Dienste weder eine Bezahlung noch Trinkgeld, aber das kümmerte ihn nicht. Er war einfach nur froh, dass er endlich wieder zu seiner Familie gehen konnte.

      »Wo soll die Demonstration stattfinden?«, fragte Pollux.

      »Beim Zoo«, erwiderte Eva, die einen Nachrichtenkanal suchte. »Sie demonstrieren beim städtischen Zoo, Herr Präsident.«

      ****

      Peter holte mit seiner neuen Axt weit aus und schlug einer ausrangierten Schaufensterpuppe den Kopf ab. Dank des Holzgriffes war die Axt leicht zu handhaben. Die stählerne Schneide war scharf wie eine Rasierklinge und schnitt durch den Puppenkopf wie durch warme Butter. Sein Hieb traf die Puppe mit solch einer Wucht, sodass sich der Keil in die Erde bohrte und dort stecken blieb. Es bedarf Peter einiges an Anstrengung, um die Axt wieder aus dem Erdboden herauszuziehen.

      Da im Industrieviertel allerlei Müll herumlag, musste er nicht lange suchen, um etwas zu finden, an dem er seine Waffe ausprobieren konnte. Eigentlich wollte er an lebenden Objekten üben, aber er konnte weder eine Ratte noch eine herumstreunende Katze aufstöbern.

      Peter war gerade auf der Suche nach einem weiteren Gegenstand, an dem er sich austoben konnte, als A1 auf ihn zukam. »Nettes Spielzeug, A76667«, sagte der Anführer des Sirius-Kollektivs.

      »Danke!«, erwiderte der Junge stolz.

      Sie befanden sich auf dem Parkplatz vor der Autofabrik, in der vor Kurzem ein Treffen aller Kollektivmitglieder stattgefunden hatte. Die Zusammenkunft zeigte ihre wahre Stärke als Kollektiv. Die Anzahl der Anhänger beeindruckte Peter, und laut A1 waren sie der Polizei zahlenmäßig bei weitem überlegen.

      »Darf ich einmal?«, fragte A1.

      Peter überreichte dem Anführer die Axt.

      A1 führte einige schwunghafte Bewegungen aus. »Da hast du eine hervorragende Wahl getroffen, A76667«, lobte er den Jungen und gab ihm die Axt wieder zurück. »Dein Kamerad, A2013, hat mir von eurem Ausflug zum Eisenwarenladen erzählt, und wie du den Besitzer und seinen Freund in Schach gehalten hast. Du musst ein guter Kämpfer sein, wenn du dich mit zwei ausgewachsenen Männern messen kannst, und noch dazu als Sieger hervorgehst.«

      »Ich hatte ein paar Stunden in Kickboxen«, meinte Peter verlegen. »Aber es ist nicht der Rede wert.«

      »Lass mal sehen«, sagte A1 und nahm eine Kampfstellung ein.

      Peter sah verwirrt drein und fragte verblüfft: »Jetzt? Hier? Wie …«

      Er konnte den Satz nicht mehr beenden, denn A1 verabreichte ihm einen Fußtritt gegen die Brust, wodurch der Junge rücklings zu Boden fiel. Die Axt glitt ihm dabei aus seiner Hand.

      »Nicht reden, A76667! Kämpfen!«, forderte ihn sein Gegenüber auf und vollführte eine zweite Beinattacke. Diesmal war Peter vorbereitet und wich dem Angriff aus. Nicht nur das, er konterte mit einem Gegenangriff und brachte A1 fast aus dem Gleichgewicht. Aber nur fast.

      A1 rollte seitwärts an ihm vorbei, wobei Peter nicht bemerkte, wie der Mann mit seiner rechten Hand ein wenig Erde vom Boden mitnahm. Als die beiden sich wieder gegenüberstanden, bereit für ein weiteres Kräftemessen, täuschte A1 einen Angriff vor. Während Peter versuchte, den vorgetäuschten Angriff zu blocken, erkannte er zu spät, wie ihm sein Gegner eine Handvoll Dreck ins Gesicht schleuderte. Peter sprang überrascht zurück und wischte sich den Schmutz aus seinen Augen und aus seinem Gesicht. Bevor er die Augen wieder öffnen konnte, spürte er einen Ruck an seinem Bein, und er fiel zu Boden. Mit verschwommenem Blick sah er, wie sich A1 über ihn beugte. Der Anführer presste sein Knie gegen den Kehlkopf des Jungen. Schwere Gurgelgeräusche quälten sich aus Peters Mund. Der Junge versuchte verzweifelt nach Luft zu schnappen.

      »A76667, das war der älteste Trick der Welt«, sagte A1 emotionslos. »Aber es ist keine Schande, darauf rein zu fallen. Wie du gesehen hast, ist dieser Trick noch immer sehr wirkungsvoll. Nur die Dummen und die Toten kämpfen mit Ehre. Denk daran, wenn du da draußen mit jemandem kämpfst, der dir überlegen ist.« A1 entfernte sein Knie von Peters Kehlkopf, wodurch der Junge wieder leichter atmen konnte.

      »In diesem Leben wird dir nichts geschenkt, A76667. Entweder du nimmst dir, was du brauchst, oder ein anderer nimmt es dir weg. Und ich versichere dir, es gibt immer einen anderen. Unsere Politiker sind diese anderen. Sie nehmen sich, was sie kriegen können, und das Volk ist zu schwach und zu dumm, um etwas dagegen zu unternehmen. Zwar protestieren sie auf den Straßen, aber so handeln nur liberale Weicheier. Glaubst du etwa, Politiker fürchten sich vor Demonstranten? Denkst du, ihnen zittern die Knie beim Anblick all dieser Hippies, Hipsters, Warmduscher und Schlappschwänze? Nein, natürlich nicht. Dafür habe sie Polizisten, ihre treuen Wachhunde, die die Drecksarbeit für sie erledigen. Das Einzige, was den Politikern Angst macht, ist eine ernstzunehmende Gefahr, die ihr eigenes, feiges Leben bedroht. Nur, wenn ihre sichere Welt da oben im Parlament zu brennen beginnt, und wenn ihr eigenes Leben auf dem Spiel steht, nur dann werden die Politiker wirklich etwas verändern. Und genau das werden wir vom Sirius-Kollektiv durchsetzen. Das Volk und diese Demonstranten sind einfach zu schwach und zu gutmütig für diese Aufgabe. Ihnen mangelt es an Stärke. Sie könnten nie das tun, was wir beabsichtigen zu tun. Sie haben diese Politiker gewählt, ihre Lügen geglaubt, und jetzt bekommen sie eben die Rechnung dafür serviert. Das Volk verdient keine bessere Behandlung als die Politiker. Die dümmsten Schafe wählen ihre Schlächter immer selbst. Vergiss meine Worte nie, A76667.

      »Das werde ich nicht«, sagte Peter demütig.

      »Ich beobachte dich schon seit längerem, du hast viel Potential. Du bist ein geborener Krieger und könntest einer meiner besten Soldaten werden.« A1 reichte dem Jungen die Hand und half ihm beim Aufstehen. »Komm, lass uns zu deinem Kameraden gehen.«

      Die Worte von A1 ermutigten Peter und ließen jeden Zweifel in ihm verschwinden, er war fürs Kämpfen geboren.

      Sie betraten die Autofabrik, in der ein reges Treiben herrschte. Mehrere Geländewagen