Jay Baldwyn

Sie kommen nachts


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nicht bewegen, als hätte man mich hypnotisiert.«

      Die Augen des Offiziers verengten sich einen Moment zu Schlitzen. Sein Blick bekam etwas Lauerndes. »So, Sie fühlten sich also wie hypnotisiert. Aber von wem, wenn Sie doch keinen gesehen haben?«

      »Ich weiß es doch nicht. Jemand muss so eine große Macht haben, dass er Leute bewegungsunfähig und Dinge zum Vibrieren bringen kann …«

      »Ich denke, das bringt uns jetzt nicht weiter. Haben Sie überall gesucht, auch in der Umgebung?«

      »Natürlich, meine Brüder waren stundenlang unterwegs, ohne Erfolg.«

      »Dann würde ich Ihnen raten, die Vermisstenanzeige schriftlich zu formulieren und gleichzeitig Anzeige gegen Unbekannt zu erstatten. Der Kollege händigt Ihnen vorne die Formulare aus. Die müssen allerdings in Urdu ausgefüllt werden. Sie beherrschen doch die Amtssprache? Ach ja, ich hörte Sie, den Wachtmeister so begrüßen.« Der Offizier stand auf und geleitete Ananda zur Tür. Hinter ihrem Rücken machte er seinem Kollegen ein Zeichen, das so viel bedeutete, als hielte er sie für leicht plemplem.

      Nach dem Ausfüllen der Formulare ging Ananda Tsomo tief enttäuscht in ihren Laden zurück. Sie hatte nicht wirklich erwartet, Hilfe zu bekommen, aber es wenigstens einen Moment gehofft.

      In den nächsten Tagen brachte sie überall in Leh Suchmeldungen mit Irshalus Foto an. Man brachte ihr allseits viel Mitgefühl entgegen und weckte sogar einige Male falsche Hoffnungen, indem man behauptete, den Jungen an verschiedenen Orten gesehen zu haben. Die Spuren führten aber allesamt in eine Sackgasse. Anandas Verzweiflung wuchs von Monat zu Monat, bis sie jede Hoffnung verlor, ihren Sohn jemals wiederzusehen.

      Dann schlug das Schicksal erneut zu. In der Nacht vom 5. auf den 6. August 2010 - einen Tag früher, 48 Jahre zuvor, war der Leinwandmythos Marilyn Monroe am anderen Ende der Welt unter nie geklärten Umständen ums Leben gekommen - ereignete sich in Leh und in vielen anderen Gebieten Ladakhs eine Flutkatastrophe, bei der es über fünfhundert Todesopfer und viele Verletzte gab.

      Nächtliche Wolkenbrüche bisher nicht gekannten Ausmaßes haben die nördliche Himalaya-Stadt Leh ins Chaos gestürzt. So und so ähnlich lauteten damals die Schlagzeilen, die um die Welt gingen. Insgesamt 115 Leichen bei den Aufräumarbeiten in den überfluteten Gebieten geborgen, und 375 Verletzte in örtlichen Armeekrankenhäusern behandelt, hieß es weiter. Und der Polizeichef des Bundesstaats Jammu und Kaschmir, Kuldeep Khoda äußerte sich dahingehend, dass Dutzende Menschen noch immer vermisst seien.

      Zum ersten Mal begrüßte Ananda, dass Irshalu, der zu diesem Zeitpunkt schon drei Jahre vermisst wurde, die Katastrophe nicht miterleben musste. Sie selbst hatte derartige Sturzfluten aus den Bergen, die riesige Schlammlawinen mitbrachten und Zerstörungen von Teilen Lehs sowie umliegender Städte und Dörfer verursachten, noch nie erlebt. Ihr Haus war zwar weitgehend verschont worden, weil es erhöhter als die anderen lag, aber sie musste hilflos mitansehen, wie einfachere Lehmhäuser begraben oder mitgerissen wurden.

      Von einem Moment auf den anderen hatte sich etwas Segensreiches ins Gegenteil verkehrt, denn die Wasserversorgung für die Landwirtschaft von Leh basierte überwiegend auf Schmelzwasser der Gletscher und der höhergelegenen Schneefelder. Wohingegen für das Trinkwasser ausschließlich Quell- und Grundwasser genutzt wurde. Dazu dienten private Brunnen und etwa vierhundert öffentliche Wasserstellen, von denen zirka ein Drittel auch im Winter nutzbar waren.

      Nun glich Leh beinahe einer Geisterstadt, in der eine gespenstische Stille herrschte. Unpassierbare Straßen und Brücken, geschlossene Läden und vor Entsetzen verstummte Touristen. Es gab keinen Busbahnhof mehr und keine Flüge von und nach Leh, da die Landebahn überspült wurde. Fahrzeuge und Busse lagen unter Schutt begraben, und alles war mit Schlamm und Unrat bedeckt. Während Schaufelbagger den Weg für Rettungsmannschaften bahnten, die Verschüttete befreien sollten, halfen Anwohner und Touristen gleichermaßen, den Lehm und die Schlammberge mit allem, was sie in die Hände bekamen, abzutragen. Sogar das Regierungskrankenhaus war nicht von Schlamm verschont worden, sodass die Verletzten ins Militärkrankenhaus gebracht werden mussten. Es gab keinen Strom, kein Telefon und kein Internet, und auch nichts zu essen, da Läden und Restaurants geschlossen blieben, bis die Regierung dazu aufforderte, die Läden zu öffnen, um so etwas wie Normalität wiederherzustellen.

      Aber die Gefahr war noch nicht gebannt, da es weiterhin regnete und die Flüsse anschwollen. Um sich über Nacht in Sicherheit zu bringen, suchten die Anwohner höher gelegene Orte wie den Palast und die Shanti Stupa auf, wo sie sich zu Hunderten drängelten. Manche übernachteten auch in ihren Autos, die sie auf sicheren, höher gelegenen Straßen geparkt hatten.

      In den folgenden Wochen und Monaten kehrte dann langsam wieder Ruhe ein. Die schlimmsten Schäden waren beseitigt, und man begann mit dem Wiederaufbau. Ananda und ihre Brüder hatten bis zur totalen Erschöpfung gearbeitet, die Eltern waren schon zu alt, um selbst Hand anzulegen, aber alle waren noch einmal davongekommen. Ihre Häuser und der Laden waren zwar verschmutzt, aber unbeschädigt. Und in all dem Chaos war sogar die schmerzliche Erinnerung an Irshalu etwas zurückgetreten, sofern eine Mutter überhaupt aufhören konnte, an ihr vermisstes Kind zu denken.

      Paigam Kalzang, dessen erster Name die Botschaft/Nachricht bedeutete, während der zweite Glück, gutes Schicksal verhieß, war an diesem Tag zum dritten Mal im Geschäft von Ananda Tsomo im Abstand von nur wenigen Tagen, hatte aber bisher nicht den Mut gefunden, die schöne, aber so überaus traurige Frau anzusprechen. Das sollte sich heute ändern, nahm er sich fest vor.

      Wie konnten so wunderbare Augen nur so blicklos schauen, hätte er sich gefragt, wenn er es nicht besser gewusst hätte. Denn als Erstes war im vor Betreten des Ladens das Plakat mit dem Foto des vermissten Kindes im Schaufenster aufgefallen. Es musste immer wieder erneuert worden sein, denn die Farben wirkten frisch und wie neu, und als aufmerksamer Beobachter war ihm das Datum, das schon annähernd zehn Jahre zurücklag, nicht entgangen.

      Paigam Kalzang war traditionell mit einem Salwar Kameez, einer Art Tunika mit Hose, bekleidet. Dazu trug er einen Pagri - Turban im gleichen satten Blau. Als er langsam auf Ananda zuging, begrüßte er sie mit dem „Namaste“-Gruß, den sie erwiderte. Dabei fiel ihm auf, dass sie das Kunststück vollbrachte, ihm als Kunden die nötige Aufmerksamkeit zu schenken und gleichzeitig innerlich unbeteiligt zu bleiben, wie ihr Blick, der zwischendurch immer wieder wie in weite Ferne gerichtet schien, verriet.

      »Womit kann ich behilflich sein?«, erklang ihre angenehme, aber leise Stimme.

      »Viel lieber würde ich etwas für Sie tun, wenn sie erlauben.«

      Ananda sah ihn irritiert an. »Was sollte das sein?«

      »Sie müssen wissen, dass uns das Leid verbindet. Meine Töchter Kamika und Saira sind seit 2004 ebenfalls unauffindbar.«

      Es war unmöglich festzustellen, was in Ananda vorging, als sie Paigam Kalzang in ein nur durch einen gerafften Vorhang abgetrennten Nebenraum bat und ihm Tee anbot. »In dem Jahr ist mein Irshalu erst geboren worden«, sagte sie mit unbewegtem Gesicht.

      »Ich weiß, er war damals drei Jahre alt, genau wie meine Tochter Saira Sanjana, Kameka war zwei Jahre älter. Unsere Kinder könnten das gleiche Schicksal erlitten haben. Sie sind doch auch der Meinung, dass Ihr Sohn entführt worden ist?«

      »Allerdings, nur glaubt mir niemand, und es gibt bis heute nicht die geringste Spur von ihm. Alles, was der Polizei einfiel, war, meinen Mann zu verdächtigen, weil wir seit einigen Jahren getrennt leben. Aber Bhavin würde mir das nie antun, seit …«

      »Dieses Argument konnte man bei mir nicht anbringen, denn meine Frau hat sich nicht von mir getrennt. Sie ist an dem Leid, gleich unsere beiden Töchter verloren zu haben, buchstäblich zugrundegegangen. Nach langer Krankheit ist sie vor zwei Jahren verstorben.«

      »Das tut mir leid. Seien Sie sich meines aufrichtigen Mitgefühls gewiss.«

      »Danke. Damals haben wir noch in der Nachbarregion Himachal Pradish gelebt. Ich bin erst im vorigen Jahr nach Leh gezogen. Haben Sie zufällig die Meldungen über Himachal Pradish verfolgt? Man sprach von Spionagesatelliten, wie immer in solchen Fällen.«

      Ananda