Jay Baldwyn

Sie kommen nachts


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doch eine richterliche Anordnung kann Wunder wirken. Wenn Sie sich absolut sicher sind, sollten Sie sich unbemerkt ein Haar von dem Jungen beschaffen.«

      »Natürlich, so etwas sieht man immer in Filmen. Warum habe ich nicht von selbst daran gedacht?«, sagte Ananda verärgert.

      »Sie sollten sich nicht allzu sehr geißeln. Es war schon ein ganz außergewöhnlicher Moment, ihrem Sohn nach so langer Zeit gegenüberzustehen. Welcher Mutter wäre da eingefallen, sich ein Haar zu verschaffen?«

      »Es tut unglaublich gut, Sie in meiner Nähe zu haben …«

      »Oh, dieses Kompliment kann ich nur zurückgeben. Und es wird Ihnen noch besser tun, sich auf der Rückfahrt nicht auf die Straße konzentrieren zu müssen. Deshalb war es eine weise Entscheidung, mich mitzunehmen. Wir Leidensgenossen müssen schließlich zusammenhalten.«

      Durch den sicheren und dennoch zügigen Fahrstil von Paigam Kalzang sparten sie auf der Rückfahrt eine halbe Stunde ein. Oder lag es nur daran, dass zu später Stunde weniger Autos auf der Straße waren? Trotzdem ging es schon auf Mitternacht zu, als Ananda zu Hause ankam, nachdem sie Paigam vor seiner Tür abgesetzt hatte. Todmüde fiel sie ins Bett, konnte aber lange nicht einschlafen, weil ihr so viel durch den Kopf ging.

      Am nächsten Morgen fühlte sich Ananda, als hätte sie überhaupt nicht geschlafen. Ein Glück, dass Kumar erst am Mittag kommt, dachte sie. Sonst würde er sie wieder aufziehen, indem er behauptete, so viel Make-up gäbe es gar nicht, um ihr Gesicht frischer zu machen.

      Prompt ließ er dann später einen frechen Spruch ab. »Du hast auch schon einmal besser ausgesehen, altes Mädchen. Dass die Mission nicht erfolgreich war, gehr dir wohl tüchtig an die Nieren?«

      »Ja, was denkst du denn? Insgesamt vierzehn Stunden Fahrt, um vor einem verlassenen Haus zu stehen …«

      »Wer war denn der nette Herr, der bei dir im Auto saß? Ich habe euch vorbeifahren gesehen.«

      »Paigam Kalzang, er hat seine beiden Töchter ebenfalls unter ungeklärten Umständen verloren. Und ich bin ihm sehr dankbar, dass er mich begleitet hat. In ein paar Tagen fliegen wir zusammen nach New Delhi, um weitere Betroffene zu treffen.«

      »Pouya wird begeistert sein …«

      »Das Thema hatten wir doch schon. Wenn ich mir als Geschäftsfrau nicht einmal hin und wieder frei nehmen kann, wozu dann überhaupt selbständig sein?«

      »Mir musst du das nicht sagen. Ich bin auf deiner Seite, zumindest was die freien Tage betrifft. Auch für deine verzweifelte Hoffnung, Irshalu irgendwann wieder in die Arme schließen zu können, habe ich Verständnis, wenn ich auch glaube, deine Hoffnung ist trügerisch.«

      »Na hör mal, so nah dran wie im Moment war ich die ganzen Jahre nicht.«

      »Trotzdem glaube ich, dass es besser ist, gestern niemanden angetroffen zu haben …«

      »Das hat Paigam Kalzang auch gesagt. Aber nicht, weil er mir nicht glaubt, sondern weil er meint, ich müsse besser vorbereitet sein und in Begleitung eines Anwalts erscheinen. Sag mal, weißt du, wo man als Privatperson eine DNA-Analyse durchführen lassen kann?«

      »Du bist dir so sicher. Was ist, wenn du dich irrst?«, fragte Kumar behutsam.

      »Dann werde ich damit leben müssen. Schlimmer als jetzt kann es kaum werden.«

      »Ich habe eine Idee, um Pouya zu besänftigen. Du kennst doch Sonali Jamyang, die würde gerne öfter mal im Laden aushelfen.«

      »Ist die Dame nicht etwas zu alt für dich?«

      »Och, die paar Jahre … Jüngere Frauen geben mir nichts.«

      Na, denn frag mal die Goldene mit der sanften, zarten Stimme, die fast wie eine Melodie klingt.« Womit Ananda auf die Bedeutung der beiden Namen anspielte.

      »Ich will sie ja nicht heiraten. Sie soll dich nur vertreten.«

      »Vorerst, alles andere wird sich finden.«

      Am darauffolgenden Donnerstag flogen Ananda Tsomo und Paigam Kalzang mit der Fluggesellschaft Go Air um 10:20 Uhr in die indische Hauptstadt. Während der Flugzeit von einer Stunde und zwanzig Minuten überlegte Paigam, ob er Ananda entsprechend auf das Treffen vorbereiten sollte, entschied sich aber dagegen. Es würde besser sein, wenn sie im Kreise Gleichgesinnter etwas erfahren würde, was sich für sie womöglich als etwas schwer verdaulich herausstellen konnte.

      Die Zusammenkunft war an Tag eins erst für 14:30 Uhr angesetzt – am zweiten Tag sollte es schon früh losgehen und bis zum späten Nachmittag dauern – sodass den beiden nach dem Einchecken im The LaLiT New Delhi Hotel noch Zeit für einen kleinen Ausflug blieb. Paigam hatte erfahren, dass Ananda nie zuvor in der Hauptstadt gewesen war, und wollte ihr wenigstens etwas von den Sehenswürdigkeiten zeigen.

      Das 5-Sterne-Hotel mit Außenpool, Wellnessbereich und Fitnessstudio, den Tagungsräumen, Restaurants, Cafés und Bars war für Ananda ein echtes Erlebnis. Und erst die klimatisierten Zimmer mit Safe, iPod-Dockingstation, Highspeed-Internetzugang, Satellitenempfang für den LCD-Fernseher mit integriertem DVD-Player ... Selbst Kühlschrank, Minibar und Wasserkocher gab es, und Ananda hatte noch nie vorher eine Regendusche in einem Badezimmer gesehen. Bei dem flauschigen Bademantel glaubte sie, dass er vergessen worden war, wurde dann aber von Paigam über ihren Irrtum aufgeklärt.

      Neu-Delhi als Hauptstadt Indiens, Sitz der indischen Regierung, des Parlaments und der obersten Gerichte, war am Anfang des 20. Jahrhunderts südlich der Altstadt von Delhi angelegt worden, um die traditionelle Hauptstadt Kalkutta abzulösen. Der neue Stadtteil erhielt dann im Jahre 1927 den Namen Neu-Delhi.

      Der Connaught Place, ganz in der Nähe des The LaLiT galt als eines der größten kommerziellen und finanziellen Zentren im nördlichen Indien. Der Platz beherbergte ein klassisches Einkaufszentrum, und in den Gebäuden mit aufwändigen Fassaden, klassischen Säulen und Arkadengängen waren zahlreiche Büros, Geschäfte und Restaurants untergebracht.

      Unweit des Connaught Platzes konnte man die Sternwarte „Jantar Mantar“ aufsuchen, ein Freiluft-Observatorium, das Jai Singh II., der Herrscher von Jaipur, 1725 errichten ließ, und das bis heute kaum verändert wurde. Zwischen Palmen und Blumenrabatten standen riesige Steingebilde in tiefem Rot und Weiß. Zeugen der umfassenden astronomischen Kenntnisse in Indien Anfang des 18. Jahrhunderts. Mithilfe dieser gigantischen Sonnenuhren bestimmte man damals die genaue Zeit, Sonnen- und Mondkalender und astrologische Beweg-ungen.

      Ananda bestaunte die verschiedenen Bauanlagen von immenser Größe, mit denen die Messungen durchgeführt werden konnten. »Jantar Mantar leitet sich aus dem Sanskrit ab und bedeutet magisches Gerät, oder täusche ich mich?«

      »Nein, ganz und gar nicht. Und diese überdimensionale Sonnenuhr heißt Samrat Yantra, was das „höchste Instrument“ bedeutet«, erklärte Paigam Kalzang. »Anhand der Schatten auf den Treppenstufen konnten unsere Vorfahren, sofern sie das nötige Knowhow besaßen, ablesen, wann die Regenzeit begann oder die beste Zeit zum Aussäen war. Toll, nicht?«, meinte Paigam, woraufhin er die Gelegenheit nutzte, das Gespräch auf die unerforschten Weiten des Alls zu bringen. »Interessieren Sie sich für Astronomie und ferne Himmelskörper, die womöglich der Erde gleichen?«

      »Ehrlich gesagt, weniger. Ich finde, man sollte zuerst die Probleme auf der Erde lösen, bevor man auf die Suche nach fernen Welten geht, egal ob bewohnt oder unbewohnt.«

      »Verstehe, und wenn man uns besucht? Eine Außerirdische Intelligenz könnte über ganz andere technische Möglichkeiten verfügen als wir. Es gibt Autoren, die meinen, wir hätten schon in grauer Vorzeit Besuch erhalten. Andere gehen sogar so weit, zu behaupten, der Mensch wäre genetisch verändert worden, um zu dem zu werden, was er heute ist.«

      »Meines Erachtens verlagert man damit nur die Schöpfung an einen anderen Ort«, sagte Ananda. »Wenn der Mensch nicht auf der Erde erschaffen wurde, sondern man uns evolutionsmäßig erst auf die Sprünge helfen musste, woher kamen dann die uns überlegenen Wesen?«

      »Das ist die Frage«, antwortete Paigam lächelnd.