Jay Baldwyn

Sie kommen nachts


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Name Tsomo steht ja für die weibliche Form von Ozean«, sagte Paigam unvermittelt. »In Ihrem Fall sehr treffend, denn mit dem Ozean verbindet man Weite, aber auch eine gewisse Unergründlichkeit.«

      »Sagt der Mann, dessen erster Name die Botschaft oder Nachricht bedeutet, und der in meinen Laden schneit, um mir etwas von einer Selbsthilfegruppe für die Angehörigen von Entführungsopfern mitzuteilen«, antwortete Ananda lächelnd.

      »Eins zu null für Sie. Geben Sie etwas auf die Bedeutung von Namen?«

      »Wissen Sie, der zweite Name meines Mannes Gyatso bedeutet die männliche Form von Ozean, weshalb ich damals, als wir einander versprochen wurden, glaubte, dass wir besonders gut zusammenpassen. Bis er mich und unser Kind verließ, um woanders sein Glück zu suchen. Aber nicht umsonst bedeutet Bhavin der Gewinner.«

      »Apropos Glück, das wir beide in unseren Namen tragen. Ananda steht für die weibliche Form von Glück, und Kalzang für Glück, gutes Schicksal. Nur scheint das dem Glück in unserem Fall nicht bekannt gewesen zu sein.«

      »Sie sagten, Ihre ältere Tochter heißt Kamika, das steht für die Erwünschte, die Erhoffte, nicht wahr? Demnach ist sie ein Wunschkind.«

      »Oh ja, das ist sie. Deshalb lautet ihr zweiter Name auch Khushali - Freude, Glück.«

      »Und Ihre Frau, wie hieß die?«

      »Akhila - die Komplette, nur ahnten ihre Eltern nicht, dass dazu auch der Krebs gehörte, der in ihr lauerte.«

      »Welchen zweiten Namen hatte sie?«

      »Dipa, also Lampe, die Leuchtende. Bis es Devi, Vishnu oder einem anderen Gott gefiel, dieses Licht auszulöschen.«

      »Leider ist der Wille der Götter für uns oft nicht zu begreifen. Um ihren Plan zu verstehen, muss man wohl erleuchtet sein«, sagte Ananda tiefgründig.

      »Jetzt aber genug von den trüben Gedanken. In welcher Weise haben Sie sich für die heutige Begegnung vorbereitet? Was wollen Sie den Leuten sagen?«

      »Ich werde sie fragen, wo sie Irshalu gefunden haben. Denn es steht außer Frage, dass diese Frau ihn nicht geboren hat. Ich wette, sie hat kein einziges Babyfoto von ihm. Dafür habe ich ein ganzes Album dabei.«

      »Falls sie es jemals zugeben werden, würde es mich nicht wundern, wenn sie behaupten, ihn am Highway gefunden zu haben.«

      »Wie kommen Sie darauf?«, fragte Ananda irritiert.

      »Nun, Kinder, besonders Jungen, werden doch von Autos magisch angezogen. Das macht es ja so gefährlich.«

      Die Antwort klang logisch, doch Ananda spürte, dass noch etwas anderes dahinter steckte, was Paigam Kalzang noch zurückhielt.

      »Wie kam es zum Verschwinden Ihrer Töchter?«, fragte sie gerade heraus. »Oder möchten Sie nicht darüber sprechen?«

      »Doch, doch, ich bin es schon so oft gefragt worden. Kamika Khushali war damals fünf Jahre. Sie war ein aufgewecktes, lebhaftes Kind, das dennoch viel geweint hat und von Albträumen geplagt wurde, genau wie die kleine Saira Sanjana. Meine Frau und ich nahmen an, dass Kamika schlafwandelte, denn mehr als einmal haben wir sie nachts im Garten vorgefunden. Am nächsten Tag hatte sie aber keine Erinnerung daran.

      In jener verhängnisvollen Nacht im Sommer 2004 machte ich Überstunden im Büro und kam erst sehr spät nach Hause. Als ich nach Kamika und Saira sehen wollte, waren ihre Zimmer leer, und Akhila Dipa befand sich in einer Art Bewusstlosigkeit, aus der ich sie nur schwer befreien konnte. Fortan litt meine Frau unter schwersten Selbstvorwürfen, nicht genügend auf unsere Töchter Acht gegeben zu haben.«

      »Wie sich die Bilder gleichen«, rief Ananda aus. »Auch ich befand mich in einem tranceähnlichen Zustand, in dem ich mich wie gelähmt fühlte, als Irshalu verschwand. Zusätzlich spielte die Elektrizität im Haus verrückt, und ich meinte, ein weißes Licht vor dem Fenster gesehen zu haben. Nur niemand in der Nachbarschaft hat etwas bemerkt.«

      »Ja, das passt«, sagte Paigam sybillisch.

      »War es das erste Mal, dass Ihre Töchter unauffindbar waren?«, wollte Ananda wissen.

      »Unseres Wissens, ja. Warum fragen Sie?«

      »Bei Irshalu war es das dritte Mal. Vorher war er nach etwa einer Stunde immer wieder da. Deshalb wollte mir auch keiner glauben, dass es schon zwei Vorfälle zuvor gegeben hatte, auch mein Mann nicht.«

      »Das muss schlimm für Sie gewesen sein, sich so ganz alleine zu fühlen. Hatte Ihr Sohn irgendwelche Ver-letzungen, nachdem er wieder auftauchte?«

      »Mir ist nichts aufgefallen. Ich war so froh, ihn wiederzuhaben. Denken Sie, man hat ihn missbraucht?«

      »Möglich, aber wahrscheinlich anders als Sie denken. Ich meine, nicht sexuell. Oder hat es Fälle von Kindesmissbrauch in Ihrer Umgebung gegeben?«

      »Nein, nicht dass ich wüsste. Allerdings war das damals noch kein Thema.«

      »Ja, leider. Und die Polizei war ebenso ratlos wie bei uns, nehme ich an?«

      »Natürlich, deshalb habe ich doch alles mit den Plakaten beklebt. Die Hinweise, die daraufhin eingingen, sind allesamt im Sande verlaufen.«

      »Wie bei uns. Meine Frau und ich haben wochenlang die Umgebung abgesucht, bis sie vor Erschöpfung nicht mehr konnte. Da habe ich allein weitergemacht, aber irgendwie spürte ich, dass Kamika und Saira nicht mehr in unserer Nähe waren. Damals ahnte ich noch nichts von … Nun, ich will nicht vorgreifen. Nähere Einzelheiten werden Sie bei unserem Treffen in New Delhi erfahren. Es bleibt doch dabei?«

      »Ja, natürlich. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass wir heute nicht allzu viel erreichen werden. Aber ich würde es mir nie verzeihen, nichts unternommen zu haben.«

      Als Ananda Tsomo und Paigam Kalzang endlich in Kargil vor dem Haus in der Baroo Khanka Road ankamen, bewahrheiteten sich Anandas Befürchtungen. Sämtliche Fenster des Bungalows wiesen heruntergelassene Jalousien auf, und das Haus machte einen verlassenen Eindruck.

      Von den Nachbarn erfuhren sie dann, dass die Familie für mehrere Wochen in Urlaub gefahren war. Rückkehr ungewiss.

      Ananda versagten die Beine, sodass Paigam sie auffangen musste.

      »Alles umsonst«, stöhnte sie, »die ganze lange Fahrt. Das kann doch kein Zufall sein. Für mich sieht das wie eine Flucht aus.«

      »Ja, falls sie den Urlaub nicht schon lange zuvor gebucht haben.«

      »Ach was, es sind doch gar keine Schulferien …«

      »Kommen Sie, wir trinken in einer der Dhabas einen Tee. Vielleicht möchten Sie auch eine warme Mahlzeit zu sich nehmen?«

      »Nein, ich bekomme jetzt nichts herunter. Ein frischer Tee hingegen, der nicht aus der Thermoskanne kommt, kann nichts schaden.«

      »Vielleicht ist es ganz gut so«, sagte Paigam später. »Wer weiß, wie das Treffen heute ausgegangen wäre. Offensichtlich hat der Junge von der Begegnung mit Ihnen erzählt. Nicht dass ich glaube, Sie hätten sich zu einer unüberlegten Handlung hinreißen lassen, aber womöglich ist es besser, rechtliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Vielleicht sollten Sie das Haus nur in Begleitung eines Anwalts oder der Polizei betreten.«

      »Ja sicher, wenn es hart auf hart kommt. Dennoch habe ich gehofft, mit den Leuten vernünftig reden zu können. Mir ist schon bewusst, dass sie Irshalu mehr als doppelt so lange wie ich bei sich haben. Da entsteht natürlich eine Bindung, aber ich bin und bleibe doch die Mutter. Und langfristig gehört Irshalu zu mir.«

      »Ein Bluttest beziehungsweise eine DNA-Analyse wären sicher hilfreich«, meinte Paigam vorsichtig.

      »Heißt das, Sie glauben mir nicht?«

      »Das habe ich nicht gesagt. Wir haben in den ersten Jahren auch in so manchen Kindern unsere Töchter wiederzuerkennen geglaubt, bis sich herausgestellt hat, dass wir uns irrten. Ein DNA-Test lässt keine Irrtümer zu.«

      »Was soll