Jay Baldwyn

Sie kommen nachts


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Frage mit einem klaren „Nein“ zu beantworten. Deshalb nahm es Paigam Kalzang wohl auch als Zustimmung.

      »Sie meinten, Sie könnten mir helfen«, sagte sie schließlich. »Wissen Sie etwas über den Verbleib von Irshalu?«

      »Leider nicht, aber Sie sind nicht allein. Es gibt ein Betroffenengruppe, die einmal im Monat zusammenkommt.«

      »Ja, ich weiß nicht, ob ich mich freimachen kann …«

      »Die Flugzeit von Leh nach New Delhi beträgt nur knapp eineinhalb Stunden. Oder stellt der Flugpreis von etwa viertausendfünfhundert Indischen Rupien (knapp sechzig Euro) ein Problem dar?«

      Ananda lachte ein seltsames, trockenes Lachen, wobei sich ihr Gesicht kaum veränderte. »Nein, gewiss nicht. Das Geschäft läuft sehr gut. Nur würde ich ja doch den ganzen Tag ausfallen. Meine Brüder müssten … Wann sagten Sie, ist das nächste Treffen?«

      »In zwei Wochen. Wir können doch telefonisch in Kontakt bleiben. Ich gebe Ihnen meine Karte.«

      »Danke, ich muss jetzt wieder nach vorne. Nicht dass man denkt, ich drücke mich vor der Arbeit. Vielen Dank für Ihren Besuch.«

      »Es war mir eine Freude.«

      Wenige Tage später kam ein indisches Ehepaar ins Geschäft, weil der etwa zehnjährige Junge in ihrer Begleitung draußen in der Auslage einen Oldtimer mit Spieluhr entdeckt hatte, die er unbedingt haben wollte. Während Ananda das Spielzeug in Seidenpapier einwickelte, musste sie den Jungen immer wieder ansehen. Sie stand mit zitternden Händen und weichen Knien hinter dem Ladentisch und fürchtete, jeden Moment das Bewusstsein zu verlieren. In dem Kind erkannte sie Irshalu wieder. Sicher, sein Gesicht hatte sich etwas verändert, er war jetzt weniger pausbäckig, aber es war unzweifelhaft ihr Sohn, wie sie mit Mutterinstinkt festzustellen glaubte.

      Der Kleine schenkte ihr kaum Beachtung. Es gab zuviel interessante Dinge im Laden zu sehen, und seine Eltern (?) suchten normalerweise keine Touristenshops auf. Deshalb war alles neu und reizvoll für ihn.

      Nachdem das Paar gezahlt hatte und mit dem sich heftig sträubenden Kind nach draußen ging, löste sich Ananda aus ihrer Erstarrung und griff nach ihrem Autoschlüssel.

      »Ich bin mal eben kurz weg«, rief sie ihren Brüdern zu, ohne eine Antwort abzuwarten. Vor dem Geschäft machte sie sich scheinbar auf dem schmalen Tisch, auf dem allerlei Nippes aufgebaut war, zu schaffen, sah aber aus den Augenwinkeln, wie das Paar mit dem Kind in einen silbergrauen Pkw der Marke Hyundai einstieg und auf dem Highway in Richtung Srinagar abfuhr. Ananda Tsomo stieg in ihren weißen Tata Nano und fuhr ihnen hinterher.

      Die über vierhundert Kilometer lange Straße, im 17. und 18. Jahrhundert noch einspurig und hauptsächlich von Ponys genutzt, die vor allem Pashminawolle für die Kaschmirschal-Industrie transportierten, war im 19. Jahrhundert verbessert worden, so dass sie von da an auch Wohnwagen nutzen konnten. Heute war die Straße als moderner Highway entlang des Indus der historischen Handelsroute folgend zwar malerisch, weil sie Einblicke in historische und kulturell wertvolle Dörfer vermittelte, trotzdem nicht untückisch, da sie mitunter bei starkem Schneefall blockiert war. Deshalb blieb sie in der Regel nur von Anfang Juni bis Mitte November für den Verkehr geöffnet. Die anderen Monate war Leh von Srinagar abgeschnitten.

      Ananda musste zwei Pässe überqueren. Zuerst den höheren Fotu-la mit 4.100 Metern, dann den in 3.719 Metern Höhe gelegenen Namika-la. Sie passierte die Dörfer Saspul, Lamayuru mit seinem Kloster, Saraks und den Ort Shagole, in dem es ebenfalls ein berühmtes Kloster gab. Unterwegs kamen ihr Zweifel, ob ihre Entscheidung richtig gewesen war, dem silbergrauen Hyundai zu folgen. Allein die Fahrt bis nach Kargil würde an die sieben Stunden dauern, und wenn die Familie womöglich in Srinagar wohnte …

      Srinagar, das wie ein ländliches Venedig wirkte mit Einkaufsstraßen und Gemüsemarkt auf dem Wasser, war zwar äußerst reizvoll, denn dort waren Tradition und Moderne verknüpft, so konnte man Mönche mit Handys telefonieren sehen und Frauen, die zwar ein traditionelles Gewand, aber dazu Turnschuhe trugen, nur würden noch einmal sechs Stunden Fahrtzeit hinzukommen, was ohne Übernachtung in Kargil kaum zu bewältigen war. Unterwegs plagte sie der Durst, und so langsam musste sie auch etwas essen, aber sie reagierte wie eine Getriebene, die keine andere Wahl hatte.

      Erleichtert stellte Ananda fest, dass der Hyundai in Kargil den Highway verließ und kein Hotel, sondern einen Bungalow in der Baroo Khanka Road ansteuerte, vor dem kurz darauf die Familie ausstieg, um hinein zu gehen.

      Jetzt weiß ich also, wo Irshalu wohnt, dachte Ananda und beschloss, erst einmal etwas trinken zu gehen und eine Kleinigkeit zu essen.

      Da es sich bei Kargil um eine konservative Muslim-Stadt handelte, gab es keine Bars. Tee konnte man in einem der Dhabas trinken, aber dort wollte sie als Frau alleine nicht einkehren. Es gab auch keine Souvenirläden, dafür konnte man reichlich Trockenobst und frisches Gemüse kaufen. In den Läden duftete es nach Aprikosen und Tandoori Naan.

      In der Nähe des Hauptbazars fand Ananda schließlich ein tibetisches Restaurant im dritten Stock eines Gebäudes an der Hauptstraße gelegen, das relativ preiswerte tibetische Gerichte wie Momo und Thugpka anbot. Während sie aß, überlegte sie, ob sie in der Stadt übernachten oder gleich zurückfahren sollte.

      Als wichtiger Verkehrsknotenpunkt von Ladakh, mit Straßen nach Leh, Srinagar und Padum in Zanskar und als inoffizielle Hauptstadt des muslimischen Ladakh sowie der Hauptstadt des Kargil Bezirks, war Kargil immer noch eine verhältnismäßig kleine Stadt mit knapp 150.000 Ein-wohnern, wobei nur zehn Personen auf den Quadratkilometer kamen. Da viele Reisende dort Zwischenstopp machten und übernachteten, gab es auch einige Hotels, die allerdings keinen guten Ruf genossen, wie Ananda wusste. So bekam man für den Preis eines schönen Doppelzimmers in Leh hier nur eine unsaubere, dunkle Box.

      Aber sollte sie sich das wirklich antun, sofort wieder den langen Rückweg anzutreten, um morgen oder an einem der nächsten Tage wiederzukommen, dachte sie. Vielleicht fand sie ja doch eine halbwegs saubere Unterkunft. Der Inhaber des Restaurants empfahl ihr dann das Hotel Siachen, das kürzlich renoviert worden war.

      Der dreistöckige Bau mit Laubengängen stellte sich weniger schlimm als erwartet heraus. Das Zimmer war einfach, zweckmäßig und relativ sauber. In der Anlage gab es sogar ein Geschäftszentrum mit Internetzugang und kostenlosem Highspeed-WLAN, und man konnte ohne zusätzliche Gebühr parken.

      Als Erstes rief Ananda ihre Brüder an, die sich bestimmt schon Sorgen machten. Sie hoffte, Kumar Sangpo ans Telefon zu bekommen, da er leichter zu händeln war und alles so nahm wie es kam. Doch es meldete sich sein älterer Bruder Pouya Gönpo, der gelegentlich etwas oberlehrerhaft agierte.

      »Na endlich, wo steckst du eigentlich?«, sagte er prompt.

      »In Kargil, es ließ sich nicht vermeiden, aber ich habe gefunden, was ich suchte. Jetzt weiß ich, wo das Ehepaar wohnt, das vorgibt, die Eltern von Irshalu zu sein.«

      »Hast du völlig den Verstand verloren? Da kommt ein fremdes Kind in den Laden, und du bildest dir ein, es wäre mein verschwundener Neffe. Inzwischen sind sieben Jahre vergangen. Kinder verändern sich in dieser Zeit gewaltig.«

      »Ich weiß, aber es war Irshalu, glaube mir.«

      »Und was willst du jetzt unternehmen?«

      »Ich werde versuchen, ihn allein zu sprechen.«

      »Weißt du, worauf du dich da einlässt? Die Stadt ist streng muslimisch. Es würde mich nicht wundern, wenn dort auf Kindesraub die Todesstrafe stünde.«

      Ananda gab einen verächtlichen Ton von sich.

      »Noch will ich ihn ja nicht mitnehmen. Ich muss ihn sprechen, sehen, ob er das Zeichen hat, und dann erst mit den Leuten reden. Jedenfalls werde ich nicht vor morgen Abend zurücksein. Die kleine Auszeit gönnt ihr mir doch, oder? Schließlich hatte ich in diesem Jahr noch keinen Urlaub.«

      »Wir vielleicht?«, fragte Pouya trocken. »Wenn die Saison vorbei ist, haben wir genug Zeit dafür.«

      »So lange kann ich aber nicht warten. Also, kommt ihr klar, oder nicht? Andernfalls müsste ich heute noch zurückfahren