was auf dem Spiel stand. Da sie endlich einsehen musste, dass man ihr die Kassette nicht aushändigen werde, traf sie schon die ersten Vorkehrungen zur Abreise. Wie überstürzt sie dabei vorging, davon konnte sich ihr Sachwalter Delamarre selbst ein Bild machen, als er gegen zehn Uhr abends nach Picpus kam und den größten Teil des Mobiliars mitnahm, von dem man in aller Eile einige Teile einfach zum Fenster hinauswarf: Der Boden brannte der Marquise unter den Füßen.
Dennoch berief sie noch die beiden Gerichtsdiener Cluet und Creuillebois zu sich nach Picpus, schlug aber jetzt einen anderen Ton an. Statt erneut auf der Herausgabe der Kassette zu beharren, ein aussichtsloses Unterfangen, änderte sie ihre Taktik. Sainte-Croix sei durchaus fähig gewesen, Briefe zu fälschen, zum Schaden anderer wie zu ihrem, versuchte sie ihnen einzureden. Aber sie werde nicht alles tatenlos hinnehmen, sie habe gute Freunde.
Auch die Witwe von Sainte-Croix, die sie in Picpus aufsuchte, überraschte sie mit ihrer neuen Sicht der Lage. Eigentlich habe sie ja mit dieser so streng geheim gehaltenen Kassette nichts zu schaffen, meinte sie leichthin, sie könne ohnehin nur wertlosen Kram enthalten. Schon lange habe sie nämlich ihre Beziehungen zu Sainte-Croix abgebrochen, was sicherlich auch ihr, der Ehefrau, längst zu Ohren gekommen sei. Allerdings, die Marquise hob ihre Stimme, allerdings gebe es da einige gefälschte Briefe, womit man sie womöglich in Schwierigkeiten bringen könne, doch sie werde sich schon zu rechtfertigen wissen.
Um die von ihr in die Welt gesetzte Ansicht zu verbreiten, ihre Angelegenheit sei eng mit jener des Obersteuereinnehmers Pennautier verknüpft, fuhr sie fort: „Wenn auf mich schließlich doch einige Tropfen herabfallen sollten, dann wird es auf Pennautier in Strömen regnen.“
Die Witwe Sainte-Croix wusste sich keinen Reim darauf zu machen. Fast wortlos hatte sie die Ausführungen zur Kenntnis genommen und stellte der einstigen Geliebten ihres verstorbenen Mannes auch keine weiteren Fragen. Die Sache lag jetzt in den Händen der Justiz.
Auf die Verwicklung Pennautiers in die noch undurchsichtige Sachlage kam die Marquise von Brinvilliers auch zu sprechen, als eine Frau Fausset, die Gattin eines Kanzlisten, ihr über laut gewordene Gerüchte von Giftmorden berichtete, mit denen die Frau Marquise in Zusammenhang gebracht wurde.
„Das kommt alles schon wieder in Ordnung“, erwiderte die Verdächtigte scheinbar ungerührt, „ich kenne nämlich da jemanden, der gleichzeitig mit mir angeklagt ist und gern seine vier- bis sechstausend Livre opfern wird, um sich aus der Affäre zu ziehen. Er ist zwar nicht von Adel, aber sehr reich.“
Die Ereignisse überschlugen sich. Bereits am elften August entfernte der Zivilrichter die Siegel von der Kassette. Frau von Brinvilliers, die nicht erschienen war, ließ sich von ihrem Anwalt vertreten, der in ihrem Namen folgende Erklärung abgab:
„Dass, im Falle sich ein Schuldschein über den Betrag von dreißigtausend Livre von Madame de Brinvilliers vorfinden sollte, dies ein ihr abgelistetes Schriftstück sei; sollte die Unterschrift sich als gültig erweisen, habe sie im Sinne, einen Prozess anzustrengen, damit diese für null und nicht erklärt werde.“
Über die Fläschchen und Beutelchen mit verschiedenen Flüssigkeiten und Pulvern, die man in der Kassette vorgefunden hatte, verlor er kein Wort. Dafür befasste sich die Justiz desto eingehender damit; harmlos, so argwöhnte man, dürften sie wohl kaum sein, und beauftragte mehrere Ärzte mit der Analyse. Das von Sainte-Croix entwickelte Gift, so hieß es im Abschlussbericht, hätte sich trotz aller Versuche, die man damit unternommen hatte, nicht eindeutig bestimmen lassen. Es war so versteckt, dass man es nicht erkennen konnte, so fein, dass es sich aller ärztlichen Kunst entzog. Die gewöhnlichen Experimente mit Giften wurden üblicherweise entweder mit den Elementen oder mit Tieren angestellt. Im Wasser, so hatte man herausgefunden, fällt das Gift infolge seiner Schwere zu Boden; es präzipitiert sich, das heißt, es schlägt sich nieder und sinkt unter. Im Feuer wird alles Fremdartige und Unschädliche davon abgesondert und verzehrt, es bleibt nur eine scharfe, bittere Materie zurück. An den Tieren bemerkt man seine Spuren durch den ganzen Körper; es verbreitet sich durch alle Teile, durchdringt alle Gefäße, verbrennt und zernagt alle Eingeweide.
Bei den Giften von Sainte-Croix wurden die Erfahrungen nichtig, die Regeln ungewiss und die Lehrsätze lächerlich. Sie schwammen auf dem Wasser; ließen in der Feuerprobe bloß eine süße, unschädliche Materie zurück und lagen in den tierischen Körpern so künstlich versteckt, dass man sie unmöglich erkennen konnte. Man hatte alle Arten von Versuchen damit angestellt. Zuerst goss man aus einer der Flaschen einige Tropfen in Weinsteinöl und in Seewasser; allein es fällte sich chemisch gar nichts aus und schlug sich auf den Boden des Gefäßes nieder, worin man den Versuch machte.
Einen anderen Versuch machte man damit, dass man dasselbe Wasser in ein Gefäß voll heißen Sandes goss; doch es blieb keine scharfschmeckende Materie auf dem Sand zurück.
Der dritte Versuch wurde mit einem jungen indischen Huhn, einer Taube und einem Hund durchgeführt. Diese Tiere starben gleich darauf. Als man sie aber am folgenden Tag öffnete, fand sich weiter nichts als ein wenig geronnenes Blut in der Herzkammer.
Noch ein Experiment machte man mit einem der weißen Pulver an einer Katze, der man etwas davon in Schafdärmen beibrachte. Sie spie eine halbe Stunde lang, und am anderen Tag fand man sie tot. Man sah aber bei ihrer Öffnung kein einziges Organ vom Gift angegriffen.
Ein zweiter Versuch mit demselben Pulver wurde an einer Taube vorgenommen, die auch kurze Zeit darauf starb. Bei der Öffnung fand man nichts weiter als etwas rötliches Wasser im Magen.
Zwar hatte man die Substanzen nicht wissenschaftlich einwandfrei analysieren können, aber die verendeten Tiere belegten eindeutig: Es war Gift, wie die Experten einhellig feststellten, doch genauere Angaben konnten sie nicht machen.
Chemikalien im Laboratorium eines Alchimisten waren nichts Ungewöhnliches, Gift dagegen nicht gerade alltäglich, erst recht nicht in einer verschlossenen Kassette, versteckt in einem Geheimfach.
Doch was hatten in diesem Zusammenhang die von Pennautier, dem ehrbaren Obersteuereinnehmer des Klerus, ausgestellten Schuldscheine, unterschrieben von der Marquise, darin zu suchen?
Und noch merkwürdiger: Warum hatte der Erblasser ausdrücklich verfügt, die Kassette samt Inhalt „persönlich der Frau Marquise von Brinvilliers“ zu übergeben, „in Anbetracht dessen, dass alles, was sie enthält, nur diese allein angeht und ihr allein gehört und überdies niemandem von Nutzen wäre, ihr eigenes Interesse ausgenommen“?
Was hatte es mit dem einen Brief unter den vielen anderen auf sich, den die Marquise ihrem einstigen Geliebten geschrieben hatte: „Entschlossen, meinem Leben ein Ende zu machen, habe ich diesen Abend etwas von dem genommen, was mir Ihre freundschaftliche Hand mitgeteilt hat. Es ist ein Rezept von dem Apotheker Glaser. Sie sehen, dass ich für Sie mein Leben opfern kann. Aber ich gebe den Wunsch nicht auf, Sie vielleicht noch einmal an einem bestimmten Ort zu sprechen, um Ihnen das letzte Lebewohl zu sagen.“ Trotz dieser Ankündigung hatte sie damals ihrem Leben kein Ende gesetzt - warum nicht? Warum hatte sie die Drohung überhaupt ausgesprochen? War es vielleicht nur einer der üblichen Erpressungsversuche unter aufgebrachten Liebenden, ein Signal zur Versöhnung an den Partner? Wenn sie Verbündete gewesen waren, und dafür sprach so manches, nicht zuletzt das Wissen der Marquise über Sainte-Croix’ Giftexperimente, musste es dann nicht auch Zeiten gegeben haben, in denen nicht das innigste Einverständnis zwischen ihnen geherrscht hatte, sondern Abneigung oder gar Hass? Doch warum?
Fragen über Fragen, auf die es keine eindeutigen Antworten gab, und so schossen die Spekulationen wild ins Kraut. Was man sich anfangs über die Marquise de Brinvilliers und Pennautier nur unter vorgehaltener Hand zuraunte, wurde bald ganz offen das Thema aller Unterhaltungen in Paris. Über die Gifte kursierten die abenteuerlichsten Gerüchte, eines ausschweifender und ungeheuerlicher als das andere.
Die Marquise sah die Stunde gekommen, dem Obersteuereinnehmer einen Besuch abzustatten. Sie fuhr jedoch zur falschen Zeit bei ihm vor: Er war nicht zu Hause. Zwar hatte sie sich energisch Einlass verschafft, aber schon nach den ersten Worten schob Frau Pennautier den ungebetenen Gast an den Schultern zur Tür hinaus, eine Giftmörderin duldete sie nicht unter ihrem Dach.
Der