geben. Hätte er es getan, dann wäre jetzt jede Diskussion darüber überflüssig. Übrigens hat auch Herr Pennautier etwas damit zu tun, die Sache geht also uns beide an.“
Wieso, sagte sie nicht, und Régnier fragte auch nicht weiter danach, die Untersuchungen standen erst am Anfang und darüber würde der Kommissar den Obersteuereinnehmer wohl noch vernehmen. Er selbst machte sich auf den Weg nach Aubervilliers, um Briancourt aufzusuchen. Es wäre sicherlich aufschlussreich zu beobachten, malte er sich aus, wie der ehemalige Lehrer im Haus der Marquise und ihr enger Vertrauter, für den er sich bei der vergeblichen Herausgabe der Kassette ausgegeben hatte, auf die Nachricht von der Verhaftung La Chaussées reagieren würde. Das Ergebnis war noch überraschender, als er sich das in seinen kühnsten Erwartungen hätte vorstellen können: Denn kaum hatte Régnier ihm ohne lange Vorrede die Festnahme berichtet, als Briancourt auch schon den Schreckensschrei ausstieß: „Nun ist sie verloren!“ Jetzt gab es kein Halten mehr, der Damm des Schweigens war gebrochen. Was ihn all die Jahre seelisch gequält und sein Gewissen belastet hatte, schüttete er nun alles vor dem Polizeioffizier aus. Er erzählte ihm von den verschiedenen Giften, die Madame de Brinvilliers im Hause verwahre und über die sie sich oft mit ihm unterhalten habe.
Unterdessen hatte die Witwe des einstigen Oberrichters Antoine d’Aubray und Schwägerin der Marquise erfahren, dass ihr Gatte wirklich an einer Vergiftung gestorben war, so wie die Ärzte es bereits seinerzeit vermutet hatten. Niedergeschmettert über diese Bestätigung eilte sie nach Paris und erwirkte auf ihr am zehnten September eingereichtes Gesuch die Genehmigung, als Privatklägerin gegen La Chaussée und Frau von Brinvilliers aufzutreten. Der niederträchtige Mord an ihrem Mann sollte nicht ungesühnt bleiben.
Wer bisher noch an die Unschuld der Marquise von Brinvilliers geglaubt hatte, wurde spätestens jetzt eines Besseren belehrt: Hals über Kopf hatte sie Frankreich verlassen und sich nach England geflüchtet, ohne Begleitung ihrer Dienstboten außer einem Küchenmädchen. Diese überstürzte Flucht bei Nacht und Nebel bestätigte jeden Verdacht.
Somit stand La Chaussée allein vor Gericht - zunächst jedenfalls.
Um des „Ruhmes“ willen
Ihre ersten Liebhaber
1
Wäre ihm ein Blick in die Zukunft vergönnt gewesen, er hätte den Tag verflucht, an dem ihm seine Tochter geboren wurde. So aber ließ Antoine Dreux d’Aubray, Sohn eines Schatzmeisters von Frankreich, Herr auf Offémont und Villiers, Staatsrat, stellvertretender Oberrichter von Paris, Requetenmeister, Inhaber einer Propstei und Vizegrafschaft sowie Vorstand des Minenwesens im französischen Königreich, das freudige Ereignis gebührend feiern. Diesen zweiundzwanzigsten Juli 1630 empfand der stolze Vater auch deshalb als besonderen Festtag, weil Marie Madeleine das erste von mehreren Kindern war, die seine Frau ihm schenkte.
Entzückend, hieß es allgemein, wenn man auf das kleine Mädchen zu sprechen kam, und diesen Eindruck machte sie auch später noch als Frau auf alle, die ihr begegneten. Sie hatte kastanienbraunes, sehr volles Haar, eine regelmäßige Nase, ein rundes, hübsches Gesicht mit einem auffallend weißen Teint, von dem sich das Blau ihrer großen, sanften Augen lebhaft abhob, kurz gesagt, keinen einzigen unangenehmen Zug.
Marie Madeleine d’Aubray erhielt eine gute schulische Ausbildung, Ihre Briefe, die sie in späteren Jahren schrieb, waren fehlerfrei in der Rechtschreibung, eine Seltenheit bei Frauen ihrer Zeit. Obwohl von auffällig kleiner, schmächtiger Gestalt, hatte sie eine kräftige, ausdrucksvolle, geradezu männliche Schrift. Ihre religiöse Unterweisung wurde dagegen stark vernachlässigt. Noch schlimmer stand es um ihre moralische Erziehung, jeder Begriff von Tugend und Sittlichkeit fehlte ihr. Schon als fünfjähriges Kind frönte sie den liederlichsten Lastern, und gerade erst sieben Jahr alt, verlor sie ihre Jungfräulichkeit. Später gab sie sich sogar noch ihren jüngeren Brüdern hin.
Schon von Kind an war sie also sinnlichen Begierden preisgegeben, eine Heidin ohne Zucht und Schamgefühl, und das sollte sie auch bleiben, als sie erwachsen wurde, ja da erst recht, und dennoch galt sie bei allen, die Umgang mit ihr hatten, als eine der liebenswürdigsten Pariserinnen ihrer Zeit. Sie enthüllte sich als eine ungestüme, leidenschaftliche Natur mit bewundernswerter Tatkraft, die sich jedoch nur unter der Herrschaft ungezügelter Instinkte entfaltete, denen sie keinen Widerstand entgegenzusetzen vermochte. Gegen Beleidigungen, besonders wenn sie sich in ihrer Eigenliebe gekränkt fühlte, war sie außerordentlich empfindlich. Marie Madeleine gehörte zu jenen Charakteren, die, richtig geleitet, Großes zu leisten vermögen, doch ebenso auch schwerste Verbrechen verüben, wenn sie von ihren niedrigen Trieben gesteuert werden.
Marie Madeleine d’Aubray war einundzwanzig Jahre alt, als sie standesgemäß einen jungen Regimentsoberst heiratete: Antoine Gobelin de Brinvilliers, Freiherr von Rourar, Sohn eines reichen Präsidenten der Oberrechnungskammer, in direkter Linie von Gobelin abstammend, dem Gründer der berühmten Fabrik für handgewebte Wandteppiche nach künstlerischen Vorlagen. Die Braut brachte ihrem Bräutigam die beträchtliche Mitgift von zweihunderttausend Livre in die Ehe sowie die Aussicht auf ein beträchtliches Erbe, und da er ebenfalls ein wohlhabender Mann war mit einem Jahreseinkommen von dreißigtausend Livre, verfügte das junge Paar über ein für jene Zeit stattliches Vermögen.
Reichtum spielte für den Marquis de Brinvilliers eine sein ganzes Leben beherrschende Rolle, um seine reichlich luxuriösen Bedürfnisse zu befriedigen. Er liebte das Glücksspiel, überhaupt jede Zerstreuung, und an diesem fröhlichen, ausgelassenen Tun und Treiben änderte auch seine Heirat nichts. Gewiss, seine Gattin Marie Madeleine war eine sehr anmutige Frau, die ihn durch ihre lebhafte, anregende Unterhaltungsgabe fesselte, aber taten das nicht andere Frauen auch? Und schleifte sich das nicht im Laufe der Jahre ab so wie alles mit der Zeit seinen Reiz verliert, wenn man es nur noch als alltäglich wahrnimmt?
So lebte der junge Marquis lustig in den Tag hinein, Gesellschaft fand er überall, denn wer Geld hat, ist nie allein. Er war gerade acht Jahre verheiratet, als er im Jahre 1659 eine enge Freundschaft mit einem Rittmeister im Regiment Tracy anknüpfte, einem gewissen Godin, der sich Sainte-Croix nannte, aus Montauban gebürtig. Die beiden Männer hatten sich im Felde kennengelernt, wo der Marquis von Brinvilliers als Oberst beim Regiment Normandie diente.
Sainte-Croix, ein stattlicher junger Mann, der sich als Spross einer vornehmen Familie aus der Gascogne ausgab, obwohl man daran zweifelte und ihn eher für ein uneheliches Kind hielt, lebte in dürftigen, ärmlichen Verhältnissen, ein Nachteil, den er durch seltene, hervorragende Geistesgaben aufzuwiegen verstand. Er wusste nicht nur seinen scharfen Verstand zum Vorteil einzusetzen, sondern auch sein anziehendes Äußeres, dem eine Frau auf die Dauer nur selten zu widerstehen vermochte. So empfänglich er für die Liebe, so eifersüchtig war er darin bis zur Raserei und auch in seinem Ehrgefühl äußerst reizbar. Durch seinen einnehmenden, geistvollen Gesichtsausdruck verschaffte er sich leicht Vertrauen und Zuneigung, und dank seiner Geschmeidigkeit schlüpfte er überzeugend in jede Rolle, ob Wohltäter oder Schurke. Das Vergnügen anderer betrachtete er als sein eigenes und ging mit ebenso viel Bereitwilligkeit auf ein wohltätiges Werk ein wie auf die Planung eines Verbrechens. Er war einer von den Glücksrittern, die, weil sie selbst nichts haben, alles fremde Gut als ihr Eigentum betrachten. Obwohl so gut wie ohne Einkommen, schwelgte er in einer Verschwendungssucht ohnegleichen und war zu jeder Schandtat bereit, von der er sich einen Gewinn erhoffte. Übrigens gab er sich einige Jahre vor seinem Tod auch mit pietistischen Fragen ab und verstand es hervorragend, von dem Gott zu sprechen, an den er nicht glaubte, und dank dieser frommen Maske, die er nur unter Freunden ablegte, schien er an allen guten Werken teilzunehmen und war zugleich bei allen Schlechtigkeiten dabei. Sainte-Croix war zwar ein verheirateter Offizier, was ihn aber nicht daran hinderte, gelegentlich auch Tracht und Titel eines Abbé anzunehmen.
Was kommen musste, war dann auch geschehen: In seinem Feldkameraden, dem Marquis de Brinvilliers, der bei seinem Hang zum Vergnügen einen großen Aufwand trieb, witterte Sainte-Croix eine fette Beute, die er zu seinem Vorteil auszuschlachten hoffte, und es brauchte nicht viel Geschicklichkeit, seine Angel nach ihm auszuwerfen und sich bei ihm einzuschmeicheln. Nach dem Ende des Feldzugs führte ihn der Marquis selbst in sein Haus ein, und auch hier geschah,