Jean-Pierre Kermanchec

Das kalte Herz von Concarneau


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Ahnung, aber es ist doch seltsam, dass wir hier im Finistère, 200 Kilometer von Nantes entfernt, den Ausweis des verschwundenen Mädchens finden“, sagte Anaïk und machte sich auf den Weg zu ihrem Dienstwagen.

      Das Manoir Le Stang in Forêt-Fouesnant war ein prächtiges Gebäude aus dem 15. bis 18. Jahrhundert. Es lag in einem 40 Hektar großen Park mit einem kleinen See und stellte seit vielen Jahren Gästen aus aller Welt seine 16 Zimmer zur Verfügung. Das Eingangstor zum Innenhof wurde abends durch eine schwere Kette verschlossen. Damit war gesichert, dass keine Fahrzeuge in den Hof fuhren, und die Nachtruhe der Gäste ungestört blieb. Die Fahrzeuge der Gäste standen auf einem großen Parkplatz, der durch einen Bewegungsmelder erhellt wurde, wenn jemand bei Nacht den Platz aufsuchte. Zu dem Parkplatz des Manoirs führte eine Kastanienallee. Genau auf dieser Allee hatte ein Spaziergänger den Ausweis von Sema Le Guiffant gefunden.

      Das Navi in Anaïks Dienstwagen hatte sie über die voie express bis zur Ausfahrt Concarneau geführt und von dort die wenigen Kilometer zurück nach Forêt-Fouesnant. Das Manoir lag vor dem Ort, in unmittelbarer Nähe zur D 783. Auf dem Parkplatz des Manoirs standen bereits die Einsatzfahrzeuge der Gendarmerie.

      „Bonjour, Madame la Commissaire, mein Name ist Armel Breton, ich habe Sie über den Fund informiert. Sie sind bestimmt die Nachfolgerin von Commissaire Ewen Kerber“, sagte der Gendarm freundlich lächelnd.

      „Stimmt! Mein Vorgänger ist jetzt schon seit zwei Jahren pensioniert“, erwiderte Anaïk und sah Monsieur Breton an.

      „Ja, ich hatte ein- oder zweimal das Vergnügen der Zusammenarbeit mit Monsieur le Commissaire, wenn auch nur an Rande“, sagte der Gendarm und wendete dann das Gespräch.

      „Wenn Sie mir bitte folgen wollen, ich zeige Ihnen die Fundstelle.“ Er schritt zügig auf die Allee zum Eingangstor des Manoirs zu.

      „Genau hier hat der Fußgänger den Ausweis des Mädchens und das Schulheft des Vaters gefunden. Ich habe mich sofort an das vermisste Mädchen erinnert und die Mordkommission angerufen.“

      „Sie gehen von einer Ermordung des jungen Mädchens aus?“ Anaïk sah Monsieur Breton an.

      „Ein Mädchen von 18 Jahren fährt bestimmt nicht nach Forêt-Fouesnant und geht hier am Manoir Le Stang spazieren, verliert seinen Personalausweis und ein altes Schulheft des Vaters. Meinen Sie nicht auch?“

      „Da liegen Sie sicher richtig, aber es gibt zahlreiche weitere Möglichkeiten für das Auftauchen des Ausweises hier. Dennoch danke für ihre Information. Ich werde mir den Fundort ansehen.“

      Inzwischen war auch Dustin Goarant, der langjährige Leiter der Spurensicherung, eingetroffen.

      „Hallo Anaïk, habt ihr wieder einen Toten?“, fragte er.

      „Bonjour Dustin, nein einen Toten haben wir nicht. Bestimmt hast du auch schon von der verschwundenen Familie aus Nantes gehört. Der Gendarm Breton hat uns informiert, dass ein Fußgänger hier den Ausweis des verschwundenen Mädchens gefunden hat und ein Schulheft, das wohl vom Vater stammt. Es kann nicht schaden, wenn wir uns den Fundort genauer ansehen.“

      Dustin begann mit seiner Arbeit. Die Fundstelle hatte der Gendarm mit seinem Kollegen bereits weiträumig abgesperrt. Sein Kollege, Romain Bozec, trat jetzt an die kleine Gruppe heran.

      „Verzeihen Sie, Madame la Commissaire, dort drüben steht der Mann, der die Sachen hier gefunden hat. Möchten Sie mit dem Mann sprechen? Er würde sich ansonsten gerne auf den Heimweg machen“, fragte er.

      Anaïk wandte sich um, überlegte kurz und sagte: „Ich würde sehr gerne mit dem Mann sprechen, ich komme in zwei Minuten zu ihm.“ Dann sah sie sich noch weiter vor Ort um.

      „Bonjour, Monsieur…?“

      „Picard, Antoine Picard“, er reichte Anaïk die Hand.

      „Monsieur Picard, Sie haben dort drüben den Ausweis von Sema Le Guiffant gefunden?“

      „Stimmt, ich bin, wie beinahe an jedem Tag, von Forêt-Fouesnant aus hierher zum Manoir spaziert. Ich mag den Weg sehr gerne. Ich spaziere meistens noch durch den Park des Manoirs, sehe mir den kleinen Rosengarten an und umrunde den See. Danach gehe ich wieder zurück. Da ich gemütlich gehen muss, ich habe in beiden Kniegelenken Arthrose, gehe ich langsam und sehe daher vieles auf meinem Weg. Dabei sind mir heute der Ausweis und das Schulheft aufgefallen.“

      „Warum haben Sie die Gegenstände nicht an sich genommen und aufs Fundbüro gebracht?“

      „Madame la Commissaire, ich höre mehrfach am Tag Nachrichten. Daher kenne ich den Namen Le Guiffant. Als ich den Namen auf dem Ausweis gelesen habe, ist mir klargewesen, dass es sich hierbei um einen Fund handelt, der für die Gendarmerie oder police judiciaire von Interesse sein muss.“

      „Haben Sie auf ihrem Spaziergang mal ein Mädchen gesehen?“

      „Nein, Madame la Commissaire, ich bin hier in den letzten drei Jahren keinem Mädchen begegnet. Wenigstens keinem Mädchen alleine. In Begleitung der Eltern oder eines Freundes habe ich natürlich hin und wieder ein Mädchen gesehen. Aber das Schulheft kann hier noch nicht lange liegen, auch wenn es älteren Datums ist. Es hat gestern geregnet, und das Heft ist trocken.“

      „Sie sind ein guter Beobachter, Monsieur Picard“, meinte Anaïk.

      „Haben Sie den Ausweis in Händen gehabt?“, fragte sie Monsieur Picard.

      „Ja, natürlich, ich habe ihn doch aufgehoben und den Namen gelesen.“

      „Gut, dann würde ich Sie bitten, dass Sie meinem Kollegen ihre Fingerabdrücke geben, damit wir ihre von den anderen auf dem Ausweis unterscheiden können“, sagte Anaïk. Sie bedankte sich bei Monsieur Picard und ging zu Dustin und bat ihn, die Fingerabdrücke des Mannes abzunehmen. Dann sah sie sich weiter um.

      Monique war inzwischen zum Manoir gegangen, um nachzufragen, ob dort jemand das Mädchen gesehen hatte.

      „Ich habe das Personal im Schloss gefragt, ob sie in den letzten Tagen vielleicht ein junges Mädchen ohne Begleitung gesehen haben. Der Portier hat meine Frage verneint. Auch das andere Personal, ein Dienstmädchen und der Gärtner, haben niemanden beobachtet. Der Gärtner hat angegeben, dass er sowohl gestern als auch heute im vorderen Teil des Parks gearbeitet hat. Er hätte bestimmt gesehen, wenn sich ein junges Mädchen alleine hier aufgehalten hätte.“

      „Gut, ich habe mit dem Spaziergänger gesprochen, der den Ausweis gefunden hat, auch er hat hier kein junges Mädchen gesehen. Der Mann hat sehr gut beobachtet. Das Schulheft ist trocken gewesen, dabei hat es gestern Abend und in der Nacht geregnet. Das bedeutet, dass das Heft erst seit heute Morgen hier liegen kann. Wie kommt ein 18-jähriges Mädchen zum Manoir le Stang?“, konstatierte und fragte Anaïk.

      „Dustin wird sich weiter umsehen, wir können hier nichts mehr machen. Lass uns zurück ins Kommissariat fahren“, sagte Anaïk weiter und ging zu ihrem Wagen.

      Während der Fahrt überlegten sie, ob es sich überhaupt um einen Fall für die Mordkommission handelte. Im Kommissariat ging Anaïk zu ihrer Pinnwand und skizzierte in groben Zügen den aktuellen Stand.

      „Wir haben eine verschwundene Familie mit Namen Le Guiffant, den Vater Jules und die Mutter Adèle, sowie die beiden Kinder, Sema und Ravan. Der Wohnort der Familie ist Carquefou bei Nantes. Seit mehr als zwei Wochen ist die Familie spurlos verschwunden. Es fehlen Hinweise auf ein Verbrechen. Das Auto der Familie steht in der Garage, der Wagen des Sohnes fehlt. Seltsam ist, dass in dem Haus fast alle Spuren entfernt worden sind. Das Haus ist gründlich gereinigt worden. Ein Spaziergänger hat den Ausweis des Mädchens und ein Schulheft des Vaters gefunden, mehr als 200 Kilometer vom Wohnsitz der Familie entfernt. Auf was können wir schließen, Monique?“

      „Nun, zuerst fällt mir dazu ein, dass die Familie in Fouesnant einen Kurzurlaub verbringen wollte.“

      „Gut, wäre denkbar, dem wiederspricht aber, dass es keine Urlaubszeit ist, dass die Koffer im Haus gefunden worden sind, das Auto in der Garage steht und auch sonst nichts auf eine Urlaubsfahrt hinweist.