Neo Tell

Der Schneeball


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Büro des leitenden Oberstaatsanwalts der Staatsanwaltschaft Köln in ein einschläferndes Halbdunkel. Mit Ausnahme des Beamers, der einen Text an die Wand warf, wirkte alles in dem großen, mit einem drei Zentimeter dicken Teppich ausgelegten, komplett holzgetäfelten Raum so, als ob die Zeit hier in den siebziger Jahren stehen geblieben wäre.

      Deshonra startete ohne große Umschweife:

      „Haben Sie schon von diesem Artikel gehört? Er wurde gestern Abend auf der Website des Wirtschaftsmagazins homo oeconomicus veröffentlicht.“

      Bormann nickte. Er musste nur kurz auf den Text an der Wand schauen, um zu wissen, dass er ihn heute Morgen auf seinem Tablet beim Frühstück gelesen hatte. Zwar war er kein regelmäßiger Leser des homo oeconomicus, jedoch haftete ihm das Laster an, ab und zu das App der Bildzeitung zu frequentieren, welches den Artikel im Bild-Wirtschaftsticker kurz erwähnt und auf ihn verlinkt hatte. Bormann schien die Meldung interessant und war dem Link gefolgt.

      „Da ich davon ausgehe, dass Sie den homo oeconomicus keine tägliche Lektüre widmen, folgere ich aus Ihrer Kenntnis des Artikels: Ihnen ist ebenfalls nicht entgangen, dass inzwischen zahlreiche weitere Onlinemedien, die sich noch einer erheblich höheren Besucherzahl als der homo oeconomicus erfreuen dürften, darüber berichten, zumeist sogar eine entsprechende Verlinkung vorsehen?“

      Die Frage war eine rhetorische. Bormann war klar, dass sein Vorgesetzter damit im Wesentlichen darauf abzielte, ihn mit der Bemerkung über seine plebejischen Lesegewohnheiten zu foppen. Er ließ sie nicht zuletzt auch deshalb zunächst ohne verbalen Konter unbeantwortet im Raum hängen, weil sein Chef nicht allzu weit vom Schwarzen entfernt getroffen hatte.

      Bormann, der als Oberstaatsanwalt die Abteilung Korruptionsverfahren der Kölner Schwerpunktstaatsanwaltschaft Wirtschaftskriminalität leitete und gegenüber dem Behördenleiter Deshonra weisungsgebunden war, erfüllte alles andere als das Bild, welches man sich typischerweise von einem Staatsanwalt machte. Sein wuchtiger muskulöser Oberkörper sowie seine breiten, kantigen Gesichtszüge erinnerten vielmehr an das Erscheinungsbild eines Profi-Boxers oder kampferprobten Fremdenlegionärs. Und in der Tat hatte Bormann als junger Mann einen Großteil der GSG 9-Ausbildung schon durchlaufen und wäre beinahe vollwertiges Mitglied der Spezialeinheit der Bundespolizei geworden. Doch kurz vor dem Ende der Ausbildung führte ein plötzlicher Disput mit seinem Ausbilder zu seinem freiwilligen Austritt aus der Elitetruppe und zur Aufnahme seines Jurastudiums. Innerhalb der Kölner Staatsanwaltschaft wusste man von diesem martialischeren Teil von Bormanns Vergangenheit; für gewöhnlich ließ man keine Gelegenheit aus, darauf aus den Höhen des juristischen Elfenbeinturms herabzublicken und Bormann damit aufzuziehen. Dies bedeutete jedoch nicht, dass man ihn nicht als Juristen für voll nahm und nicht durchaus sehr respektierte. Trotzdem vermochte Bormann sich aber eine kleine geistreiche Spitze in Richtung Deshonra als Vergeltung für die abfällige Bemerkung seines Chefs über seine Lesegewohnheiten nicht verkneifen:

      „Sie haben Recht: Wir leben zwar alle unter demselben Himmel, aber das bedeutet noch lange nicht, dass wir auch alle denselben Horizont haben.“

      „Lassen Sie doch Ihre ständige intellektuelle Masturbation, Bormann.“

      Für einen Augenblick wusste Deshonra nicht mehr, worauf er hinauswollte. Dann fand er den Faden wieder:

      „Ist das euer Ernst? ,Robin Hood im Kostüm des Weihnachtsmanns’? Robin Hood am Arsch des Propheten.“

      Der Chef spielte auf den Titel des Artikels an. Anscheinend schaukelte er sich gerade in eine seiner berühmten Tiraden. Jahrelange Erfahrung hatte Bormann gelehrt, jetzt vorsichtig zu sein. Er musterte den ihm gegenüber sitzenden unbekannten Dritten im Raum. Ein dürrer, fast ausgehungert wirkender Mann, dessen kurz rasierter Schädel auf einem in solcherlei Amtsstuben eher selten anzutreffenden Maßanzug aus edelstem Tuche thronte. Der Unbekannte nahm Notiz von Bormanns abtastenden Blicken, verzog aber keine Miene.

      „Wenn das wahr ist, was diese Tintenpisserin namens Rosa Peters hier schreibt, und ich betone wenn, weil ich mir beileibe nicht sicher bin, ob es wahr ist,“ der Chef der Kölner Staatsanwaltschaft unterbrach seine Rede an dieser Stelle kurz, schaute einen Augenblick mit abwesendem Ausdruck im Blick aus dem Fenster und sprach schließlich weiter, „dann ist das ganz und gar inakzeptabel. Die einzigen, denen es zusteht, vermeintliche Verursacher oder Profiteuere der Finanzkrise zu richten, sind unsere rechtmäßigen Gerichte. Niemand darf das Geld anderer Leute im Wege des Betrugs an sich nehmen, um es à la Robin Hood mir nichts, dir nichts und quasi nach Gutdünken unter anderen wieder zu verteilen. Wenn überhaupt – was ich allerdings auch bezweifle, Sie kennen meine politische Einstellung hierzu, Bormann – kommt diese Aufgabe dem Staat zu. Deshalb möchte ich, dass Sie sich der Sache annehmen. Machen Sie diese Rosa Peters ausfindig und finden Sie möglichst bald heraus, was an alledem dran ist!“

      Bormann war perplex. Er fühlte sich in dieser Sache in doppelter Hinsicht nicht zuständig.

      Was die sachliche Zuständigkeit anbetraf, waren ganz eindeutig seine Kollegen von der Abteilung für Wirtschaftsstrafsachen zuständig, weil es sich um Kapitalanlagebetrug und soweit ersichtlich nicht um ein Korruptionsdelikt handelte, wofür er und die ihm unterstellten Staatsanwälte zuständig gewesen wären. Insofern der leitende Oberstaatsanwalt in diesem Punkt den Geschäftsverteilungsplan seiner Behörde missachtete, überraschte dies Bormann jedoch nicht. Ähnliches war schon häufiger vorgekommen. Denn eine Staatsanwaltschaft war neben einer Anklagebehörde vor allem auch eine Ermittlungsbehörde, die eine Ermittlungspflicht traf, wenn sie durch Anzeige oder auf anderem Wege, das heißt wie hier zum Beispiel aus den Medien, von dem Verdacht einer Straftat Kenntnis erlangt. Und Bormann war aufgrund seiner ungewöhnlichen Methoden der mit weitem Abstand effektivste Ermittler der Behörde, was jeder dort uneingeschränkt anerkannte. Wenn es zur Anklage käme, würden einfach seine Kollegen den Ball wieder von ihm zugespielt bekommen. Diese Art von Arbeitsteilung war mittlerweile gang und gäbe geworden.

      Was allerdings die Frage der örtlichen Zuständigkeit anbelangte, konnte Bormann sich keinen Reim auf das Einschreiten seines Chefs machen.

      Er fragte zaghaft:

      „Ist das denn überhaupt die Aufgabe der Kölner Staatsanwaltschaft?“

      „Ja“ antwortete Deshonra lapidar.

      Bormann hakte nach:

      „Was ist mit der Schwerpunktstaatsanwaltschaft für Wirtschaftsstrafsachen Frankfurt am Main? Stand in dem Artikel nicht etwas davon, dass das betrügerische Kapitalanlageunternehmen mutmaßlich am dortigen Finanzplatz ansässig gewesen ist?“

      „Keine Sorge, Bormann, wenn meine Informationen aus dem Justizapparat zutreffen, haben die hessischen Kollegen den Fall bereits an sich gezogen. Aber meinen Sie, dass wir uns den Luxus erlauben können, uns auf diese inkompetenten Deppen zu verlassen?“

      Bormann war sich unsicher. Mehr zu sich selbst als zu den anderen beiden in der Runde sagte er:

      „Trotzdem bin ich nicht überzeugt davon, dass wir in dieser Angelegenheit aktiv werden sollten. Das könnte Ärger für Sie geben.“

      Er hätte es lieber unterlassen sollen, seiner Skepsis Ausdruck zu verleihen. Die Stimme Deshonras vibrierte jetzt:

      „Sagen Sie Bormann, seit wann sorgen Sie sich um meine Karriere? Unter den geschädigten Kapitalanlegern befinden sich mit Sicherheit auch solche aus unserem örtlichen Zuständigkeitsgebiet. Deshalb treten wir hier – angefangen mit unserer Sitzung heute – auch auf den Plan. Basta. Von wegen nicht unserer Zuständigkeitsbereich, die Sache ist – falls an ihr überhaupt etwas dran sein sollte – unsere ureigene Angelegenheit. Wir können die Show doch nicht allein den Frankfurtern überlassen.“

      Die Art und Weise, wie Deshonra dies wild gestikulierend vorgetragen hatte, ließ keinen Zweifel daran, dass die Diskussion hiermit, was ihn anbelangte, beendet war. In einer kampfeslustigeren Stimmung hätte Bormann seinen Chef nun herausgefordert, indem er ihn für eine kleine Weile in eine Auseinandersetzung darüber verwickelt hätte, welcher Stellenwert Verwaltungsökonomie in Zeiten völlig überlasteter Strafverfolgungsbehörden beizumessen sein sollte. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich die Fälle, er und seine Mannschaft kamen