Neo Tell

Der Schneeball


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Familiensinn, rief ihr in Erinnerung, wie auch sie zeit ihres Lebens von seinem Geld profitiert und feudal gelebt hätte.

      Der Streit war heftig, aber letzten Endes versprach sie ihm, niemandem davon zu erzählen. Um trotzdem noch in den Spiegel schauen zu können und weder direkt noch indirekt aus den illegalen Machenschaften ihres Vaters Vorteile zu ziehen, mied sie ihren Vater und seine neue Familie, nahm keinen Cent mehr von ihm an. Ihren gut bezahlten Anwaltsjob hängte sie kurz drauf ebenfalls an den Nagel, hatte man sie dort doch vor allem auch deshalb so gern eingestellt, weil ihr Vater einer der größten Mandanten der Kanzlei war.

      Mit einer Leidenschaft und Entschlossenheit, die sie rückblickend bisweilen heute noch in Erstaunen versetzte, hatte sie sich seit zwei Jahren nun komplett dem investigativen Wirtschaftsjournalismus verschrieben. Wenn sie es schon nicht übers Herz brachte, ihren Vater der gerechten Strafe zuzuführen – so die Logik ihres Ablasshandels –, wollte sie zumindest dafür Sorge tragen, dass anderen Schuften in der von Schuften nicht gerade armen Wirtschaftswelt das Handwerk gelegt wurde.

      Aber wohin hatte sie das gebracht?

      Diese Frage hämmerte geradezu unerbittlich auf die feinfühlige Klaviatur ihrer zarten Seele, als in Rosas Tasche etwas vibrierte. Sie kramte ihr Smartphone hervor und las darauf die folgende Textnachricht:

       Liebe Rosa, dass es eben noch einmal zwischen uns zum Sex gekommen ist, bereue ich sehr. Nicht nur, weil ich meine Frau betrogen habe, sondern auch, weil ich dir keine falschen Hoffnungen machen, ich dich nicht verletzten will. Nicht zuletzt um deinetwillen muss es bei dem bleiben, worum ich dich kurz zuvor so nachdrücklich gebeten habe: Lass uns mit den Frivolitäten um Gottes Namen aufhören! Ich flehe dich an! Ich bin sicher, dass du bald ebenfalls jemanden finden wirst, mit dem du glücklich sein kannst, jedenfalls hoffe ich das inständig!

      Sie schäumte vor Wut. Was für eine zum Himmel schreiende Farce! Rosa durchschaute von Schirachs mieses Spiel augenblicklich. Er agierte strategisch, schaffte schon jetzt in kühl-berechnender Vorausschau die Voraussetzungen, auf denen seine Verteidigung aufbauen würde. Die Nachricht diente einzig und allein dem perfiden Zweck, sie im Falle eines Gerichtsprozesses als eifersüchtige, rachedurstige Lügnerin dastehen zu lassen, während er sich darin den Heiligenschein eines zwar treulosen, nichtsdestominder aber reumütigen, ihr gegenüber gutmeinenden Opfers aufsetzte.

      Plötzlich erschien eine weitere Nachricht auf dem Display:

       Sehr geehrte Frau Peters, ich habe unser letztes Treffen sehr genossen. Leider konnte ich Ihnen damals noch nicht weiterhelfen. Jetzt glaube ich, etwas zu haben, was Sie und Ihre Leser interessieren könnte. Bitte melden Sie sich möglichst bald bei mir! Mit freundlichem Gruß, Deniz Gül

      Für einen kurzen Moment mischte sich ein Klecks Neugier unter die dunklen Farbmassen aus Wehmut, Ekel und Wut auf Rosas Gefühlsleinwand. Dann überließ die Neugier wieder der Wehmut, dem Ekel und der Wut allein das Feld. Dann wichen auch die Wehmut und der Ekel; zurück blieb die Wut.

      Dann brach Rosa durch die Eisdecke.

      4 – Im Feenteich

      Während am Feenteich schon in der Sekunde nach ihrem Einbruch wieder friedliche Weihnachtsstille herrschte, focht Rosa unterhalb der Eisdecke einen verzweifelten Todeskampf aus. Das schwarze Loch, das sie gerade scheinbar aus dem Nichts verschluckt hatte, glich jenen astronomischen Phänomenen gleichen Namens, in die Materie nur hineinfallen, nicht aber wieder herausgelangen konnte.

      Anfangs hätte für Rosas Begriffe die beinahe widerstandlose Masse, in der sie unmittelbar intuitiv zu strampeln begann, genauso gut die dunklen Weiten des Weltraums sein können. Erst als die berühmten tausend Eiswasser-Stecknadeln, von denen über die Jahrhunderte Überlebende so vieler Schiffbrüche berichtet hatten, sie zu malträtieren begannen, ging ihr auf, was passiert sein musste. Sofort versuchte sie verzweifelt, zur Oberfläche zu schwimmen.

      Doch in dem Moment, in dem sie eigentlich aufzutauchen hoffte, stieß sie mit ihrem Kopf auf Granit.

      Der höllische Schmerz durchzuckte wie ein gleißender Miniaturblitz ihren Körper. Gleichzeitig beschleunigte der Aufprall aber auch die durch ihren Überlebenswillen ohnehin schon stark angekurbelte Maschinerie ihres Verstandes auf Hochtouren.

      Sie musste an einer anderen Stelle wieder aufgetaucht sein als sie eingebrochen war. Jetzt galt es, so schnell wie möglich die Einbruchstelle wiederzufinden. In Anbetracht der Menge an Sauerstoff, die sie dabei verbrauchen würde, blieb ihr nicht viel Zeit.

      Sie begann, sich an der glatten Eisschicht in der Hoffnung entlang zu tasten, irgendwo eine Lücke zu entdecken.

      Zehn Sekunden des hastigen Abtastens vergingen, ohne dass sich nur die kleinste Schwachstelle in ihrem Gefängnis aus Eis offenbarte. Obschon es ihr selbst absurd schien, ärgerte sie am meisten daran, dass von Schirach unbehelligt davonkommen würde, wenn sie jetzt umkäme.

      Weitere zehn verzweifelte Sekunden verstrichen. Aber selbst wenn sie dies überlebte, würde sie von Schirach überhaupt drankriegen? Wohl kaum. Der Dreckskerl hatte schon recht damit, dass Aussage gegen Aussage stand. Von der Polizei und den Gerichten durfte sie sich nicht allzu viel erhoffen. Auch der Chefredakteur des homo oeconomicus würde wohl eher seinem Abteilungsleiter als einer Dauer-Praktikantin glauben, zumal ihm die Gerüchte über ihr damaliges Tête-à-Tête mit von Schirach nach der letzten Weihnachtsfeier womöglich zu Ohren gekommen waren.

      Allmählich gewann die Verzweiflung Oberhand über ihren Verstand. Hatte sie sich in einem Zickzackkurs von der Einbruchstelle wegbewegt? War sie etwa in konzentrischen Kreisen unter dem Eis darum herum geschwommen?

      Sie merkte, wie ihr die Luft bedrohlich ausging. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als alles auf eine Karte zu setzen. Sie brach ihr systematisches Abtasten der Eisdecke ab und schwamm entschlossen zurück in die Richtung, wo sie zwar zu Beginn schon gesucht hatte, das Loch aber nach wie vor am stärksten vermutete.

      Nein, sie würde sich nicht der Tortur aussetzen, die eine Anzeige bei der Polizei oder die Einreichung einer Beschwerde über von Schirach beim Chefredakteur zweifelsohne mit sich brächte. Nein, sie würde nicht blind vor Rachgier in ihr Verderben rennen. Was sie tun würde wäre, sich in die Weiterentwicklung ihrer journalistischen Fähigkeiten zu stürzen, sich emporzuarbeiten und mit einem Elefantengedächtnis zu warten, bis die Zeit reif war und sich die richtige Möglichkeit zur Rache an von Schirach auftat. Vielleicht bot die Nachricht von Frau Gül, die sie soeben erhalten hatte, ja schon das richtige Pack-An dafür. Vielleicht war das die Story, die sie als Enthüllungsjournalistin groß rausbringen würde.

      Alleine sie musste zunächst einmal überleben, um dies zu erfahren. Panik befiel sie. Die Luft war weg. Etwas umfasste plötzlich fest ihr Handgelenk. Sie fragte sich noch, ob sich so das Sterben anfühlt. Zog die kalte Pranke des Todes sie ins Jenseits? Sie wurde bewusstlos.

      Als Rosa nach Luft schnappend wieder zu sich kam, hing sie nur noch mit den Beinen im Wasser. An ihren Armen zog beherzt der Raucher, welcher ihren Leichtsinn kurz vor ihrem Einsturz noch mit einem Kopfschütteln bedacht hatte. Geschafft. Sie lag nun neben dem Mann, der ihren Einsturz beobachtet hatte, über eine Holzleiter zu dem Loch im Eis gekrochen war, ihren Arm zu fassen bekommen und sie herausgezogen hatte. Er gebot zur Eile. Hintereinander krochen sie auf den Knien die Leiter entlang zum Steg. Rosa zitterte heftig. Sie gingen durch eine Glasschiebetür in ein riesiges Wohnzimmer. Der Mann reichte ihr flink eine Sofadecke, setzte sie behutsam auf einen Stuhl und versprach, nachdem er den Krankenwagen gerufen hätte, sofort wieder für sie da zu sein. Als er tatsächlich nach kaum 45 Sekunden wieder herbeigerannt kam, war als Zeugnis von Rosas Anwesenheit einzig und allein noch eine Wasserlache unter dem Stuhl zurückgeblieben, auf dem sie gerade noch gesessen hatte.

      5 – Löwenbräukeller, München

      Das Scheinwerferlicht blendete Horst Griedl. Er stand am Rednerpult auf der Bühne des Löwenbräukellers, in dem die Bits & Pretzels dieses Jahr am 28. Dezember stattfand.

      Das gesamte Münchener Startup-Ökosystem war heute Morgen hier versammelt. Die Willkommensrede hatte soeben die Bayrische Staatsministerin