Neo Tell

Der Schneeball


Скачать книгу

eine dümmliche Frage. In Peters Magen fuhr jemand Achterbahn. Er schaute wiederholt auf die App von Flash Capital, um sich zu vergewissern, dass sie sich nicht irrten. Tatsächlich, sein Kontostand wurde dort mit null angezeigt. Als er gestern das letzte Mal nachgeschaut hatte, hatte da noch die nicht unkomfortable Zahl 78.546.733 Euro gestanden. Jetzt entdeckte er eine Nachricht in seinem Postfach auf der Flash Capital-App. Er blickte auf dieselbe Zeile, die ungefähr zur gleichen Zeit auch Büsking las. Ihm war plötzlich, als ob jemand den Boden unter seinen Füßen weggezogen hätte. Er verzichtet darauf, sich von seiner deflorierten Mätresse zu verabschieden und rannte wie von der Tarantel gestochen zurück zum Hobookenweg.

      Seine Frau stand mittlerweile in der mit blauweißen Delfter Fliesen gekachelten Küche und bereitete für ihn das Krabbenrührei mit Schnittlauch vor, das er so liebte. Einen besseren Mann als Peters hätten spätestens jetzt wohl Gewissensbisse heimgesucht. Aber nicht ihn. Er betrog Nele mit erstaunlicher Kontinuität seit ihrer Hochzeit vor sechs Jahren, ohne dass diese auch nur einen blassen Schimmer davon hatte. Und seine Gemahlin war wahrlich nicht die Einzige, die er hinterging.

      Nein, das Einzige, was ihn jetzt interessierte, war der Verbleib seines Flash Capital-Geldes. Er holte sein iPhone aus der Jackentasche und wählte ohne seine Laufgeschwindigkeit auch nur einen Deut zu verlangsamen die Nummer seines Freundes Alexander Büsking.

       Und sieh! und sieh! an weißer Wand

       Das kam’s hervor wie Menschenhand;

       Und schrieb, und schrieb an weißer Wand

       Buchstaben von Feuer und schrieb und schwand.

      Was in Gottes Namen hatte das zu bedeuten?

      Ammerland am Starnberger See, Südliche Seestraße, der Hobookenweg Süddeutschlands.

      Horst Griedl saß in seinem Arbeitszimmer am knisternden Kaminfeuer und hörte seinem sechsundzwanzigjährigen Sohn Alois zu. In der Ecke am Panoramafenster stand einer von vier kolossalen Weihnachtsbäumen des Hauses.

      Das Display von Griedls iPhone blinkte auf. Inzwischen summierte sich die Zahl der verpassten Anrufe auf sieben. Die eine Nummer gehörte seinem Amigo und ehemaligen Kollegen bei der Germanischen Bank Alexander Büsking und die andere seinem Kumpel Fiete Peters.

      Der fünfundfünfzigjährige Bajuware, dessen gigantischer Körper die Ausmaße eines Allgäuer Braunviehbullen hatte, beschloss, dass die Rückrufe bis nach dem Gespräch mit seinem Sohn warten konnten. Er ließ den Blick schweifen vom schneebedeckten Rasen seines fußballfeldgroßen Seegrundstücks über den Holzsteg am Ufer, das unter dem Eis karibisch-türkisfarben war, hin zu den weißen Gletschergipfeln der Alpen, die sich an diesem kristallklaren Vormittag mystisch am blauen Horizont auftürmten.

      „Ich weiß nicht, was ich machen soll, Papa. McKinsey und BCG hat nicht geklappt, Goldman Sachs hat vor ein paar Tagen geschrieben, die laden mich noch nicht einmal zum Vorstellungsgespräch ein“, resümierte Alois niedergeschlagen das Ergebnis seiner nun schon knapp ein halbes Jahr andauernden Bewerbungsbemühungen.

      Der Vater machte sich keine Illusionen darüber, was sein Sohn zu leisten imstande war. Es hatte vor fünf Jahren exorbitanter Spenden bedurft, damit Alois an der renommierten Vallendarer Privathochschule WHU zum Studium der Betriebswirtschaftslehre angenommen wurde. Vergangenen Sommer hatte Alois es dann, wie sein Abitur zuvor auch schon, nur mit Ach und Krach zu Ende gebracht. Seitdem war er recht erfolglos auf Jobsuche. Wie alle WHUler wollte er entweder zu einer der zwei, allenfalls drei Top-Unternehmensberatungen (Roland Berger fiel da gegenüber McKinsey und der Boston Consulting Group schon ab) oder zu einer – möglichst angelsächsischen – Investmentbank oder – was besonders en vogue unter den Elitestudenten war – sein eigenes Unternehmen gründen.

      „Was willst du denn am liebsten machen?“ fragte der Vater.

      „Am liebsten ein Startup gründen. Erstmal nirgendwo als Arbeitnehmer anfangen. Erstmal reisen. Den Kopf freikriegen. Eine Geschäftsidee entwickeln.“

      Horst Griedl hatte diese Antwort antizipiert, als er vor einigen Wochen das heutige Gespräch mit seinem Sohn im Geiste durchgespielt hatte.

      „Ist das nicht ein Vorwand, um nicht arbeiten zu müssen? Eine andere, elegantere Art mir zu sagen, dass du einfach keinen Bock hast?“

      Der Vater wirkte bierernst, als er dies zu seinem Sohn sagte. Alois reagierte daraufhin verschnupft. Er riss die Arme ungläubig hoch und schnaufte trotzig.

      Einige Zeit verstrich in Stille. Alois fühlte sich sichtlich unwohl. Dann erschien plötzlich doch noch ein versöhnliches Lächeln auf Horst Griedls derbem Antlitz. Es verriet, dass alles nur ein Spaß gewesen war. Aufmunternd sagte er:

      „Wie heißt noch mal der Absolvent eurer Uni, der in Berlin mit seinem Inkubator Rocket Internet ein Internet-Startup nach dem anderen hochzieht und kurz darauf versilbert? Oliver Samwer? Was hältst du davon, wenn wir beiden unseren eigenen kleinen Inkubator gründen? Wir es den Saupreiß mal zeigen?“

      Alois Antlitz hellte sich merklich auf. Seine giftgrünen Augen begannen auf einmal wie zwei weintraubengroße Smaragde im Licht des Kaminfeuers zu leuchten, als sein Vater fortfuhr:

      „Wie du weißt, habe ich während meiner Karriere bei der Germanischen Bank ausgezeichnet verdient. Die Finanzkrise führte dazu, dass ich kündigte. Ich habe somit jede Zeit dieser Welt.“

      Nach Alois Kenntnisstand hatte sein Vater hochspekulative Finanzprodukte an Kämmerer diverser Kommunen verscherbelt. Während seine Bank und er in der Tat vortrefflich an den Provisionen verdient hatten, trieb es die ein oder andere deutsche Stadt beim Ausbruch der Krise an den Rand des Bankrotts. Die negative Berichterstattung der Medien hierüber hatte den Vorstand der Germanischen Bank veranlasst, seinem Vater die Kündigung nahe zu legen.

      „Für mein Geld habe ich vor einiger Zeit eine äußerst rentable Anlage gefunden: Einen Fonds namens Flash Capital. Das Startkapital in Höhe von acht Millionen Euro hat sich inzwischen vervierfacht. Wir haben also auch jedes Spielgeld dieser Welt. Lass uns was Eigenes machen!“

      Als Horst Griedl fertig mit seinem Vorschlag war, stellte er befriedigt fest, dass Alois Feuer und Flamme für die Idee zu sein schien. Er genoss es, wie sein Sohn ihn jetzt gerade ohne Einschränkungen und Vorbehalte bewunderte. Die Griedls waren Gewinner, und er würde dafür sorgen, dass es bei seinem Sohn nicht anders war. Nur weil sein einziges Kind akademisch vielleicht nicht der Beste war, bedeutete dies nicht gleichzeitig, dass er am Ende des Tages nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen würde.

      „Komm her Alois, ich zeige dir den Stand meines Kontos bei Flash Capital.“

      Alois stand auf und folgte seinem Vater hinter den Mahagonischreibtisch zum Computer. Als Horst Griedl online sein Account öffnete, erschrak er.

       Das gellende Lachen verstummte zumal;

       Es wurde leichenstill im Saal.

      Er wusste nicht, was ihn mehr schmerzte, der Verlust seines Geldes oder das ungute Gefühl, vor seinem Sohn wie ein windiger Hochstapler dazustehen.

       Und sieh! und sieh! an weißer Wand;

       Das kam’s hervor wie Menschenhand;

       Und schrieb, und schrieb an weißer Wand

       Buchstaben von Feuer und schrieb und schwand.

      Jetzt hatte er eine leise Ahnung davon, warum seine beiden Freunde aus der gemeinsamen Studienzeit in Münster, Alexander Büsking und Fiete Peters, so dringend mit ihm sprechen wollten.

       Der König stieren Blicks da saß,

       Mit schlotternden Knien und totenblass.

      Neben dem LIBOR-Manipulator Büsking in London, dem Schiffsfonds-Initiator Peters auf Sylt und dem Croupier der deutschen Kämmerer Griedl am Starnberger See stellten zwischen Weihnachten und Silvester noch weitere dubiose Gewinnler des globalen Finanz- und Sportsystems