Neo Tell

Der Schneeball


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verzeichneten. Betroffen war vom Sparer über den kleinen Häuslebauer bis hin zum Unternehmer also fast jeder.

      Aber das war Büsking schnuppe. Denn unter diesen Vorzeichen war das Trading von Termingeschäften auf den Drei- und Sechs-Monats-LIBOR regelrecht eine Goldgrube. In seinem Rekordjahr allein machte er für sein Bankhaus einen legendären Gewinn von Pi mal Daumen 300 Millionen Euro. Selbstredend wanderte davon ein beträchtlicher Teil in Gestalt eines saftigen Bonus in seine eigene Tasche.

      Inzwischen wurden von den Aufsichtsbehörden gegen die beteiligten Banken, darunter neben Büskings eigener Bank unter anderem Barclays, die Royal Bank of Scotland und die UBS, Milliardenstrafen verhängt. Vor dem Hintergrund, dass nach Schätzungen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich weltweit Finanzprodukte im Wert von mehr als 500 Billionen Euro am LIBOR hingen, war auch mit einer Welle zivilrechtlicher Verfahren zu rechnen, gleichwohl die Beweisführung sich hier als schwierig gestalten dürfte. Ferner sahen sich einige Mitverschwörer bereits persönlicher Strafverfolgung ausgesetzt.

      Büsking jedoch, der nach dem Auffliegen des Kartells in 2012 bei der Germanischen Bank gekündigt hatte, blieb weiterhin unbehelligt. Niemand von der Finanzaufsicht oder Staatsanwaltschaft klopfte bei ihm an. Niemand stellte unangenehme Fragen. Stets hatte er im Gegensatz zu seinen Mittätern peinlich genau darauf geachtet, keine Spur zu hinterlassen. Stets hatte er sich wie in diesem Traum gefühlt, in dem man einen Mord begangen hatte und davor zitterte, von der Polizei als der Mörder enttarnt zu werden. Und jetzt war es geschehen, irgendein Möchtegern-Gott, irgendeine kackfreche autodeifizierende Götze maßte sich an, ihn zur Rechenschaft zu ziehen.

      3 – Übers Alstereis nach Winterhude

      Zwischen Rosa Peters eiskalten Beinen lief das viskose Sperma ihres Vergewaltigers lauwarm herab. Sie ging vornübergebeugt, weil ihr Unterleib schmerzte. Es dämmerte. Das Thermometer einer Apotheke, an der sie vorbeikam, zeigte minus sechs Grad Celsius an.

      „Nimm die Pille danach“, hatte von Schirach ihr noch gebieterisch zugeraunt, als er kaum eine halbe Stunde zuvor den Reißverschluss seiner Jeans wieder hochzog. Danach war er in sein Büro gegangen, hatte seinen Kamelhaar-Wintermantel geholt und sich zu seiner jungen Familie aufgemacht, die in einer geräumigen Harvestehuder Patrizierwohnung mit viereinhalb Meter hohen Decken am Kamin auf ihn wartete.

      Rosa wusste nicht wohin als nach Winterhude, wo sie in einer Wohngemeinschaft mit drei anderen jungen Journalisten eng zusammengepfercht lebte. Von der Speicherstadt in der Hafencity kommend durchquerte sie zu Fuß die noble Einkaufsstraße Neuer Wall, um unter Leuten zu sein. Doch die quirligen Menschenmassen, die in den edlen Geschäften ihre Weihnachtsgeschenke umtauschten oder Bargeschenke in Sachwerte umwandelten, verstärkten ihr Gefühl der Einsamkeit nur noch.

      Auf der Höhe der Schleusenbrücke wechselte sie zu den parallel verlaufenden Alsterarkaden. Unter diesen kämpfte sie sich durch die Kälte zum Jungfernstieg vor, dann am Rathaus vorbei auf dem Laternen beschienenen Ballindamm die zugefrorene Binnenalster entlang, bis sie schließlich mit schlotternden Knien auf der Kennedybrücke stand. Die eisbedeckte Außenalster lag nun mit ihrer ganzen Pracht im amethystfarbenen Glast der Dämmerung vor ihr.

      Am gegenüberliegenden Ufer ungefähr zweieinhalb Kilometer Luftlinie entfernt flimmerten die Lichter von Winterhude. Der an der nördlichen Spitze des berühmten Stadtgewässers kauernde Stadtteil war inzwischen nur noch schemenhaft im Halbdunkel zu erkennen.

      Rosa betrat das Eis.

      Die Eisschicht war dünn. Zu dünn. Zwar hatten die Alsterdampfer ihre Punschfahrten mittlerweile eingestellt, womit die Alsterschifffahrt endgültig zum Erliegen gekommen war. Aber erst wenn an 50 Messstellen auf der Alster 20 cm geschlossenes Kerneis gemessen wurde, gab die Stadt die offizielle Freigabe, woraufhin bis zu einer Million Menschen die Eisfläche zum Flanieren, Schlittschuhlaufen oder Glühweintrinken in Beschlag zu nehmen pflegten. Für eine Eisschicht derartiger Dicke bedurfte es in der Regel eines starken Frosts von mindestens zweiwöchiger Dauer. Das Thermometer hatte allerdings erst seit drei Tagen mehr oder weniger kontinuierlich deutlich unter null gelegen. Dicker als ein paar Zentimeter konnte die Eisschicht kaum sein.

      Weit und breit war niemand auf dem Eis zu sehen. Dass man es überhaupt betreten konnte, hatte Rosa heute Morgen aus dem öffentlichen Bus auf dem Weg zur Arbeit gesehen. Ein paar todesmutige Halbwüchsige hatten sich von der Alsterwiese Schwanenwik aus auf den schilfbewachsenen flachen Uferbereich des Stadtsees hinausgewagt. Das Eis hatte sie getragen. Keineswegs war dies jedoch eine Garantie dafür, dass es auch für eine Erwachsene und außerhalb des Uferbereichs dick genug sein würde.

      Zwar wusste Rosa um die Gefahr, der sie sich aussetzte. Mitnichten war sie jedoch lebensmüde. Sie trieb es trotzdem aufs Eis, weil sie glaubte, nur damit Erinnerungen an eine glücklichere Kindheit wachrufen zu können. Mit deren Hilfe wollte sie das soeben Geschehene aus ihren Gedanken ein für alle Mal tilgen.

      Das letzte Mal war die Alster 2012 so fest zugefroren gewesen, dass die Stadt das Eis für das Volksfest freigegeben hatte, welches die Hamburger Alstereisvergnügen nannten. Jene märchenhaften Stimmungen waren wieder einmal entstanden, die den Bürgern Hamburgs keine Zweifel daran ließen, dass sie in der schönsten Stadt der Welt lebten. Überall an den Ufern wurden Buden aufgestellt, die Glühwein, warmen Kakao, heiße Maronen, Bratwürste und allerhand anderes feilboten. Wo ansonsten Boote an den Stegen der zahlreichen Ruderhäuser und kleinen Marinas anlegten, sammelten sich Menschentrauben. Aus manchem Lautsprecher ertönte Musik und das Eis wurde zur Tanzfläche. Anstatt den Landweg zu wählen, nutzten die Hamburger fortan die zugefrorenen Fleete und Kanäle, um zu Fuß, in Schlittschuhen oder auf von ihren Hunden gezogenen Schlitten zur Alster zu gelangen. Obwohl offiziell untersagt, konnte man frühmorgens den einen oder anderen Eissegler erspähen, wie er im Sonnenaufgang nahezu lautlos über die leere Eisfläche schoss.

      Vor 2012 hatten die Buden sogar mitten auf dem Eis gestanden. Als kleines Mädchen war Rosa mit ihren Eltern in den Neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts mit Schlittschuhen durch ganz Hamburg gefahren. Seitdem liebte sie dieses Venedig des Nordens abgöttisch. Doch die Erinnerung daran konnte ihren Ekel nicht vertreiben.

      Sie war inzwischen schon eine gute Viertelstunde mitten auf dem Eis unterwegs. Es knackte zwar ab und an gespenstisch, hielt ihrem Gewicht aber stand.

      Plötzlich war ihr speiübel. Rosa fasste sich unwillkürlich an ihren Bauch, wo die Kleidung unter der Jacke pitschnass von der Milchkaffeelache war, in der sie während der unsäglichen Tat gelegen hatte. Sie fiel auf die Knie und übergab sich. Als sie wieder aufblickte, erkannte sie, dass sie sich genau vor dem Eingang zum Uhlenhorster Feenteich befand. Etwas zog sie dorthin. Sie unterquerte eine Brücke und befand sich bald auf dem im Verhältnis zur Alster kleinen Oval aus Eis.

      Ringsherum standen zumeist weiße Patrizierhäuser, die genauso von vergangenem wie von neuem Reichtum der Kaufmannschaft der Hafenstadt sprachen. Die großzügigen Gärten reichten hinunter bis zur hölzernen Spundwand des Feenteichs. Auf dem Steg eines Privatanlegers sah sie einen Mann rauchen, der ihren Spaziergang auf dem dünnen Eis offensichtlich missbilligte, jedenfalls folgerte Roas dies aus seinem langsamen Kopfschütteln. Durch die raumhohen Fenster der Villen konnte sie einen Blick in die hell erleuchteten Zimmer auf die üppig geschmückten Weihnachtsbäume des Großbürgertums erhaschen.

      Eine wehmütige Stimmung befiel sie und ertränkte für einen kurzen Moment die Abscheu davor, dass sie noch immer das Stakkato von von Schirachs schmerzhaften Stößen in ihrem Unterleib zu spüren glaubte. Sie selbst hatte einmal zu diesem Großbürgertum gehört, war noch immer Tochter eines berühmten Hamburger Reeders, Schiffsfondsinitiators und Senators. Als Absolventin der Bucerius Law School war sie zwei Jahre lang angestellte Anwältin mit besten Karriereaussichten im Hamburger Büro einer großen US-amerikanischen Wirtschaftskanzlei gewesen.

      Doch dann hatte sie sich mit ihrem Vater zerstritten und alsbald auch mit dem Rest der Familie gebrochen.

      Warum?

      Eines Tages hatte sie im Arbeitszimmer ihres Vaters auf ihn gewartet und hatte dabei aus Langeweile durch einen auf dem Schreibtisch liegenden Stapel Verträge geblättert. Mit einem Schaudern realisierte sie, dass ihr Vater seine Anleger systematisch