Nieke V. Grafenberg

Die Sonnenanbeterin


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der einen, die dachte, sie könne die Puppen tanzen lassen. Die die Gunst der Stunde zu nutzen verstand.

      Und mit der anderen, die die Gefahr nicht witterte. Die sich ahnungslos selbst eine Falle stellte.

      Die hineintappte.

      Wir waren allesamt gute Freunde, die herauswollten.

      Heraus aus dem unerträglich heißen Sommer der Ebenen.

      Hinein in die luftigen Höhen der Berge.

      Wo man wieder schlafen konnte. Ruhe und Erholung fand.

      Damals.

      Nach den Ereignissen gab es ein Gesetz. Eins, das nie jemand niederschrieb: Wir sprachen einfach nicht mehr darüber. Versuchten, was passiert war, aus dem Gedächtnis zu streichen. Und doch - es ist geschehen. An demselben Ort, den ich jetzt in den Händen halte.

      Ich kann nicht widerstehen, meine Finger fassen und kippen die gläserne Halbkugel.

      Die Welt steht Kopf.

      Dichtes Schneegestöber aus wirbelnden Flocken. Sacht breitet sich ein flimmerndes Leintuch aus. Deckt lautlos alles zu.

      Mitten im Sommer.

      Es ist wie damals. Allein ... die Kuppel war ein gläserner Sarg. Ich versinke in Erinnerungen, spüre das Grauen so frisch, als sei alles erst gestern passiert.

      Mit einem Sarg fing der Urlaub an.

      Vor dem Hotel - genau an der Stelle, wo heute noch die weiß lackierten, in Betonringe eingelassenen Stangen stehen, mit den weißen Kettengliedern dazwischen und dem breiten Durchgang für Fußgänger - genau dort wurde eine längliche Kiste transportiert.

      Zu dem dezent lackierten Kastenwagen, der mit geöffneten Hecktüren bereitstand und den Haupteingang zum Hotel blockierte.

      Grüppchen von Hausgästen standen in der Nähe, lauerten, wisperten, rührten sich nicht vom Fleck.

      Anzüge korrekt wie Uniformen, die Männer darin kannten sich aus. Flüssig, ruhig, tatkräftig luden sie das auffällige Behältnis in das wartende Auto, schlossen die Flügeltüren und fuhren in engem Bogen über den nahegelegenen Hotelparkplatz auf die Durchgangsstraße.

      Später hätte ich nicht sagen können, wie lange alles dauerte. Es ging rasch, und doch prägte die Szene sich wie in Zeitlupe ein: der Sarg, die bedächtigen Bewegungen, die düstere Innenverkleidung des Kastenwagens, die sich dumpf tönend schließenden Türen. Bilder und Gesten blieben auf der Netzhaut, sollten tief ins Bewusstsein dringen, auch wenn ich mir sagte, das alles ging mich nichts an.

      Das war der Tag der Anreise in unsere langjährige Sommerfrische im Hochgebirge, zu der wir wohl niemals zurückkehren werden. So wie Mutter kaum jemals zu ihrer zurückkehren wird, wenn auch aus anderen Gründen.

      ZWEI

      „Lena, mach zu, wolltet ihr nicht frühzeitig los?“

      Grundsätzlich ist Ulli ein bedächtiger Mann, aber jetzt, auf der Schwelle zum Wachsein, bohrten seine Worte sich schmerzhaft in mein Ohr. Durch den Spalt in der Schlafzimmertür drang der metallische Geruch von eingebranntem Kaffee. In der Küche hörte ich Rieke ihre jüngere Schwester beim Tischdecken dirigieren.

      An diesem Morgen fiel es mir ungewohnt schwer aufzustehen. Verschlafen rappelte ich mich auf und öffnete die Fensterläden. Nach mehr als einer Woche wunderbar kühler Nächte, nach Tagen außergewöhnlich trockener Hitze sah die Welt trüb aus am Morgen der Abreise. Sechs Uhr früh und schon lastende Schwüle.

      Eine feuchte Strähne klebte an meiner Schläfe, Haarspitzen juckten im Auge. Ich strich sie weg, wankte in die Küche und unterdrückte erfolglos ein Gähnen. Dachte reuevoll zurück an die gute Flasche Wein kurz vor Mitternacht.

      Ulli war nichts von unserer kleinen Abschiedsfeier anzumerken. Er war seit dem ersten Spatzentschilper auf den Beinen, holte gerade ein Stück Butter aus dem Kühlschrank und schnitt konzentriert frisches Brot in Scheiben.

      „Verflixt!“

      Das Brotmesser landete auf dem Fußboden, er hielt sich die Hand, jeder Blutstropfen war aus seinem Gesicht gewichen. Dafür tropfte es stetig vom abgespreizten Zeigefinger. Angestrengt suchten seine Augen nach einem Fixpunkt außerhalb des Geschehens.

      Rieke und Sanne waren mit einem Schlag hellwach, kamen gleich mit dem Verbandszeug angelaufen. Rieke wischte hastig die Blutspuren von Knie und Fußboden, ihr besorgter Blick blieb an seinem blutleeren Gesicht hängen. Während der Finger noch verpflastert wurde, zupfte sie ihren Vater aufmunternd am graumelierten Bart:

      „Halt dich senkrecht, Papa, du bleibst am Leben! Kannst ruhig wieder herschauen.“

      Nach dieser Verzögerung setzten wir eilig und ohne großen Appetit unser Frühstück fort - ganz wie es sich bei einem frühmorgendlichen Aufbruch in die Ferien gehörte.

      Ulli beschäftigte sich derweil in der Küchenzeile, setzte dabei die Brille ab und auf, rieb Steg und Nasenwurzel trocken. Hin und wieder beugte und streckte er selbstvergessen den stramm verpflasterten Finger, oder er griff zum Küchenhandtuch und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sein Hemd hatte hässliche, feuchte Flecken. Als ich ihn darauf aufmerksam machte, handelte ich mir einen verständnislosen Blick ein. Wer außer ihm war in aller Herrgottsfrühe zum Bäcker geradelt, um für uns knusprige Brötchen zu holen?

      Er selbst aß nichts, richtete nur den überreichlichen Reiseproviant. Ob belegte Brote oder Obst - an jeden Geschmack war gedacht. Landjäger gab es noch extra für überraschend auftretende Engpässe in der leiblichen Versorgung. Ich sah ihm zu und überlegte: Wir hatten nicht vor, auf einem Rastplatz zu übernachten. Sollte ich zart darauf hinweisen? Manchmal allerdings war er arg empfindlich. Meinte es doch wie immer so gut!

      Dabei kam er vorerst gar nicht mit, er wollte uns nur treusorgend auf den Weg helfen. Wollte seiner Familie die Bahn ebnen für einen wunderbaren Urlaub. Dass es einmal unerwartet anders sein, dass das Gegenteil eintreten könnte, das war nicht eingeplant, daran hat keiner von uns geglaubt.

      Ein Blick aus dem Fenster verhieß nichts Gutes. Schmierig-schwärzliche Wolkenmauern richteten sich am westlichen Horizont auf, kamen nicht recht voran, türmten sich übereinander. Ich hörte ein saftloses Grollen weit weg und trieb die Kinder zum Aufbruch.

      Wenn wir uns sputeten, hatten wir vielleicht eine Chance.

      Wir würden dem Unheil vorauseilen.

      Am Vorabend hatte Ulli schon einmal geschwitzt: Als er das Gepäck im Kofferraum verstaut hatte.

      „Ihr habt wohl wieder mal nichts zu Hause gelassen!“

      Wieder mal - die Bemerkung war längst Ritual. Hätte sie gefehlt, wir hätten mit Sicherheit etwas vermisst. Insgeheim aber gab ich ihm Recht. Wir gaben uns Mühe, konnten uns aber einfach nicht beschränken. Schließlich fuhren wir in die Berge, mussten für alle Wetter gerüstet sein.

      Der Kofferraum klaffte randvoll mit Gepäckstücken, ineinandergreifend verstaut wie ein Puzzle. Obenauf standen Klappkörbe mit wettererprobten Anoraks, abgetragenen Wanderschuhen, Badezeug - alles gnädig zugedeckt von einem dicken dunkelgrünen Veloursbademantel in behaglicher Übergröße, marineblau gestreift und fadenscheinig an den Kanten - Lieblingskleidungsstück der ganzen Familie.

      „Das ist mein Bademantel !“

      Ullis milder Protest war fruchtlos geblieben, sein Langmut wurde schamlos ausgenutzt. Ob Nässe oder Kälte, körperlicher oder seelischer Schmerz - man konnte sich so herrlich darin einmummeln!

      Ulli würde also später nachkommen. Er hatte noch in der Toskana zu tun. Eine Contessa in Florenz zog in Erwägung, die Fächersammlung ihrer Ahnen zur Versteigerung freizugeben. Bestimmt konnte er viel Geld verdienen!

      „Ein paar Tage ... na gut.“

      Sanne nahm kein Blatt vor den Mund:

      „Hauptsache,