Nieke V. Grafenberg

Die Sonnenanbeterin


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gestoßen war, verweigerte als einziger in unserer Runde den gebührenfreien Parkplatz wenige Meter hinter dem Alpenpark. Er pflegte seinen auf Hochglanz polierten BMW auf einem reservierten Stellplatz direkt am Hotel abzustellen.

      „Er glaubt, so nahe am Haus wird das beste Stück nicht geklaut. Mich wundert, dass er die Reifen nicht abmontiert und unter dem Bett verstaut.“

      Unbekümmert machte Johanna sich über die Vorsichtsmaßnahme ihres bedächtigen Lebensgefährten lustig. Sie ließ Autos immer und überall bedenkenlos offen. Auch Bärleins.

      Für ihn war das einer der Gründe, auf ein neuerworbenes Büschel grauer Haare hinzuweisen.

      „Wir sind nur noch zusammen, weil ich so duldsam bin“, behauptete er, um sie zu ärgern.

      Johanna war seine Gelassenheit ein Dorn im Auge. Je nach Laune schlug sie zurück.

      „Typisch Waage - ein viel zu stoischer Charakter für mich. Vielleicht sollte ich mich mal nach einem Widder umsehen?“

      Sie hob das Kinn und warf Bärlein aus halb geschlossenen Lidern einen vernichtenden Blick zu.

      „Es heißt, so ein Widder-Mann bringt nicht nur sein Auto auf Hochtouren! – Er wienert es auch nicht, während andere noch schlafen !“

      Bei diesen und ähnlichen Gelegenheiten gab Bärlein sich ungerührt, durch derartige Sticheleien war er absolut nicht aus der Ruhe zu bringen.

      Es war ein Wunder, dass er mitgekommen war. Sein Sinn stand nicht nach wandern, normalerweise ging er nur Johanna zuliebe mit. Sein Kommentar nach einem Blick auf seine kurzen, stämmigen Beine in den roten Wanderkniestrümpfen war ein resigniertes:

      „Leichter Aufstieg ... nicht weit ... ihr habt gut reden! – Bei meiner Schrittlänge muss ich doppelt so viel ackern wie andere, bevor ich am Ziel bin.“

      Eigentlich hatte ich große Lust, mit Johanna zu plaudern, doch der Nestbau hatte erst einmal Vorrang.

      Wir verabredeten uns für später in der Halle.

      Bis auf den traurigen Vorfall und die Renovierung der Zimmer war also alles wie sonst. Ein Korb mit Früchten, Müsliriegeln und ein paar Leckereien stand auf dem Tischchen neben dem Schreibsekretär. Der kleine Barschrank summte leise.

      Ich sah nach, vom Bademantel bis zum Nähzeug war alles vorhanden. Auf den Kuschelkissen lagen Betthupfer in rosa und hellblauem Stanniolpapier. Ich wickelte eins aus und machte mich ans Auspacken. Kommode, Regale und Nachttisch waren im Nu mit tausenderlei persönlichen Dingen dekoriert. Die Einbauschränke im Nebenzimmer ließ ich unangetastet. Dort konnten sich Rieke und Sanne später ausbreiten.

      Mechanisch öffnete ich die Fensterflügel, um saubere Bergluft hereinzulassen. Ein kräftiger Windstoß trieb mir die Vorhänge ins Gesicht, als wolle er mich aus dem Zimmer wischen. Es war recht finster für die Tageszeit.

      Auf der eingezäunten Grasfläche neben dem Skistall drängten die zahmen Ziegen sich eng aneinander.

      Ein bleicher Mond, gefangen hinter schwarzer Watte. Wolkenfetzen lösten sich ab, zogen davon, ließen sekundenlang sein Mondgesicht sehen.

      Donnergrollen.

      Abends zum Essen erwartete uns ein Konzert mit Pauken und Trompeten. Max und sein Bassbariton würden wohl kaum zu Wort kommen!

      Ich war just dabei, den leeren Gepäckkarren auf den Flur zu bugsieren, als ein älterer Herr mit wirrem Haarkranz den Flur entlang lief.

      „Haben Sie Wilma gesehen?“ rief er mir zu und eilte weiter.

      Ehe ich mich sammeln und antworten konnte, hatte er den Treppenabsatz erreicht, war kurz darauf verschwunden.

      Er hatte mich wohl verwechselt.

      Aber wer war Wilma?

      Ich klappte den Karren zusammen, lehnte ihn zum Abtransport dicht an die Wand und kehrte ins Hotelzimmer zurück.

      VIER

      Zu Hause unser Haus steht seitenverkehrt.

      Im Wohnzimmer halte ich mich selten auf. Es ist nach Norden gerichtet und ab mittags schummrig.

      Ullis Büro liegt der Sonne zugewandt.

      Dort führe ich Telefonate, erledige eiligen Schriftkram an seinem PC, wenn er, wie so häufig, verreisen muss.

      Dort halte ich seine Geschäfte am Laufen, bin ohne große Begeisterung seine Sekretärin und Mädchen für alles.

      Ein Zimmer im oberen Stockwerk ist meine persönliche Zuflucht. Die Möbel darin gehören schon immer zum Raum. Großmutter hat sie mir mit dem Haus vererbt.

      Hier stöhnen die alten Balken der Schräge, die krummen Dielen knarren bei jedem Tritt.

      Hier verbringe ich die wenigen freien Nachmittage, schreibe, lese, nähe lose baumelnde Knöpfe an oder hänge meinen Gedanken nach.

      Hier machen die Kinder ihre Stippvisiten, lassen sich mit einem Kaffee oder Tee auf dem kleinen, abgeschabten Sofa mit den hohen Lehnen nieder und schauen, ob alles seine Ordnung hat.

      Erzählen neue Geschichten oder kramen alte aus.

      Meiden nach wie vor geflissentlich das Thema Sommerfrische und die damit verbundene Erinnerung an schmerzliche Ereignisse, die ein Blick in die Schneekugel so lebhaft wachrufen kann.

      Gedankenverloren befühle ich das kalte Glas in meinen Händen. Auch wenn ich die Augen geschlossen halte, ich sehe den Sturzflug des Adlers, blicke in helle Wolfsaugen bar jeden Hintergrunds. Ich höre Murmeltiere pfeifen, lausche den heiseren Schreien der Alpendohlen und rieche wieder den Schnee.

      Zur Unzeit, denn bei uns in der Ebene ist der Frühling angebrochen. Die Bäume auf den Streuobstwiesen ringsum sind zum Leben erwacht, sind überschäumt mit weißen Blüten. Hier und da ein rosa Tupfer.

      Eine frühe Hummel taumelt schläfrig an der aufgesperrten Balkontür vorbei, folgt brummend der Duftspur des Flieders.

      Den Schnabel voll erdiger Würmer schaut das Amselmännchen mich zaudernd an, hüpft dann in den Efeu, das brütende Weibchen zu füttern.

      Die Luft ist ganz weich, doch ich weiß, ich täusche mich nicht – ich rieche den Schnee in der Schneekugel und den eines längst vergangenen Sommers.

      Die Kugel erhält ihren Platz auf dem Aufsatz des Schreibsekretärs.

      Denkmal für schlummernde Erinnerungen.

      Der Cocktailabend liegt lange zurück, doch ich entsinne mich gut. Oben im Zimmer unterwarf ich das, was der Garderobenspiegel in seiner Unbestechlichkeit zurückwarf, einer kritischen Musterung. Es war das müde, dunkle Gesicht einer kurzhaarigen Siamkatze mit spitzem Kinn und schräggestellten Augen auf dem nur teilweise sichtbaren Körper einer wuselig-molligen Perserkatze.

      Ich war nicht stolz auf mein Aussehen, Großmutters überlieferter Ausspruch von eindeutig entarteter Familienkunst fiel mir ein.

      „Wo habt ihr die denn aufgetrieben?“ hatte sie entgeistert gefragt. „Die schlägt ja total aus der Familie!“

      Erst als Sanne geboren wurde, traf diese Bemerkung nicht mehr den Kern. Jetzt gab es zwei von der Sorte. Wir sind die Exoten in einer hochgewachsenen, milchhäutigen Familie mit hellen Wimpern und Sommersprossen: mittelgroß, glatte braune Haare im Überfluss, brünetter Teint, graugrüne Augen unter zu dichten Brauen. Das Wort Sonnenbrand ist ein Fremdwort für uns.

      Nach einem zweiten Blick in den Spiegel musste ich mir eingestehen, ich sah reichlich zerknittert aus. Das sollte nicht sein. Im Hotel ging es leger zu, man kannte uns, ich wollte aber trotzdem keinen unvorteilhaften Eindruck machen. Ich schaute auf meine Armbanduhr. Bis zum Cocktail blieb eine knappe Stunde für die oberflächliche Überholung von Kleidung, Körper und Seele. Das musste reichen.

      Der hoteleigene Bademantel am Türhaken war für einen Riesen. Ich wickelte mich hinein und lief los. Schwimmen, saunieren oder faulenzen,