Nieke V. Grafenberg

Die Sonnenanbeterin


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modischer Zipfelrock. Ich hatte ihn mir eigens für sein Geburtstagsfest zugelegt und musste meine Verwegenheit prompt büßen.

      Sophie tat es viel zu selten, aber wenn sie lächelte, ging auch abends die Sonne auf. Ihr straffes, von deutlich sichtbaren Muskeln geprägtes Langstreckenläufergesicht füllte sich auf, rundete sich. Der schmale, ein wenig klein geratene Mund wurde weich.

      Sie war keine Schönheit. Sophies Anziehungskraft lag in der sanften Stimme, den ruhig fließenden, harmonischen Bewegungen und in der Ernsthaftigkeit, mit der sie zuhörte.

      In ihrer Nähe fühlte ich mich wohl.

      In der Hotelhalle saßen Max, Johanna und Bärlein bereits vor halbgeleerten Gläsern. Johanna trug ein orangerotes Leinenkleid mit kleinen Ärmeln. Dazu den farblich passenden Lippenstift.

      Keinen Schmuck.

      Die im Lampenlicht metallisch schimmernden Haare bildeten einen harten Kontrast, zogen magisch den Blick an. Sie hatte sich eine Nische mit bester Sicht auf Ankommende und Abreisende angeeignet. Für den Rest der Ferien würde hier unser gemeinsamer Stammplatz sein, toleriert und respektiert von den anderen Gästen. Ab jetzt hatten wir eine Anlaufstelle für alle Tageszeiten - mit Blick auf den riesigen Kamin, ohne zu nahe daran zu sitzen.

      Der Cocktailabend war immer ein Dienstag.

      Pünktlich auf die Minute standen Wirtsleute und Personal in Landestracht bereit, überreichten uns die gefüllten Gläser, um später mit Krügen von Tisch zu Tisch zu gehen und nachzugießen. Knusprige, noch ofenwarme Häppchen wurden gereicht.

      Wir tranken grundsätzlich zuviel von der geheimnisvollen, äußerst wohlschmeckenden Mixtur, die uns rasch in Stimmung brachte.

      Kennenlernabend ist die treffende Bezeichnung für den Cocktailabend.

      Selten kam man sich so schnell so nah wie bei dieser Gelegenheit, nach diesem speziellen Getränk, dessen Rezeptur zur unserem Leidwesen nicht verraten wird, das die Zunge lockert und Schranken fallen lässt.

      Hier brachte ich Johanna und Bärlein zusammen, er war gerade frisch geschieden.

      Hier dröhnte Max mit erhobenem Glas und frohem Blick in die Runde:

      „Hauptsache, man amüsiert sich! Kosten tut’s auch nix. Prostprostprost.“

      Johanna war ausgesprochen zufrieden mit sich selbst. Wider Erwarten war es ihr gelungen, doch noch mit Herrn Leo ins Gespräch zu kommen. Sie rückte beiseite, zog mich neben sich auf die Polsterbank und erzählte von Wilma - denn das war sie, die Tote vom Nachmittag. Sie hatte zwar noch die Nummer der Rezeption wählen, aber nicht mehr sprechen können. Als die Leitung stumm blieb, hatte die Verwaltung den Sohn benachrichtigen lassen.

      Johanna seufzte mitfühlend.

      „Sie hatten Glück, er war nicht weit, im Raum der Ruhe haben sie ihn gefunden. Trotzdem war alles zu spät. - Herzschlag!“

      Sie schnippte mit Daumen und Zeigefinger.

      „Einfach so. - Die arme Frau war nicht mehr zu retten.“

      Sie nahm einen tiefen Zug aus dem Cocktailglas und sah zu, wie es auf der Stelle nachgefüllt wurde.

      „Der arme Kerl tut mir wirklich leid“, fuhr sie fort. „Erst die Mutter und dann ... Der Vater irrt schon den halben Tag auf den Fluren umher. Immer auf der Suche nach seiner Wilma .“

      Noch während sie sprach, entdeckte ich Sophie im bunten Sommerkleid, sie begrüßte Bekannte aus dem Vorjahr. Ich kannte niemanden, der soviel natürliche Grazie besaß. Keine Bewegung war übereilt, nicht eine Geste wirkte einstudiert. Marie war bei ihr, sie hatte sich in den Kreis der Erwachsenen gedrängt, zupfte und zerrte ungeduldig am Kleid ihrer Mutter.

      „Mensch, Mama, - musst du immer so lange quasseln! Ich will jetzt essen gehen!“

      Maulend ließ sie sich neben Max auf der Polsterbank nieder, blickte Mutter und Vater abwechselnd vorwurfsvoll an.

      Ich erzählte von meiner Begegnung am Fahrstuhl. Einen Moment lang herrschte betretenes Schweigen. Jeder von uns schien seinen Gedanken nachzuhängen.

      Ich dachte an den Tod.

      Ich dachte an kein böses Omen.

      Das alles betraf mich ja nicht.

      Noch bevor wir uns in den Speisesaal begaben, hörten wir vereinzeltes Donnergrollen. Doch das Gewitter konnte sich nicht recht entschließen. Es schien aufzugeben, ehe es richtig entfesselt war.

      Herr Leo kam von draußen und begleitete uns in den Speisesaal. Er strich mit Daumen und Zeigefinger über sein Oberlippenbärtchen, zeigte sich unerwartet gesprächig.

      „Es regnet nicht mehr. Nur noch hier und da ein paar Tropfen. Allerdings, das Barometer fällt. Es schaut nicht gut aus für morgen.“

      Nach dem Abendessen hockte ich noch eine Weile ziemlich trübe im Kreis der anderen. Die Cocktails hatten mich eher gedämpft als in Stimmung gebracht, aber das war wohl kein Wunder nach der anstrengenden Fahrt. Ich wollte ganz einfach ins Bett!

      Meine Töchter hatten sich bald nach dem Essen selbständig gemacht. Rieke war nach einem halben Cocktail in Stimmung gekommen, hatte sich mit jungen Gästen vom Nebentisch angefreundet. Wolf mit den Eisaugen war immer dabei. Wenn er lachte, ließ er seine gelblichen Eckzähne und den fleischfarbenen Schlund sehen.

      „Gott - ist das ein scharfer Hund!“

      Max nahm kein Blatt vor den Mund.

      Mich fröstelte.

      Sanne mit ihrem eckigen Kinderkörper und den staksigen Beinen lief wie ein junges Füllen einfach mit. Bewundernd blickte sie zu den jungen Männern auf, zog unausgesetzt ihr Haargummi stramm, lachte glücklich und frei, weil sie einbezogen wurde - saß nicht eine Minute still.

      Und plapperte.

      Der Wolf scherzte mit ihr. Lachend hielt er sie an den Handgelenken, schüttelte sie durch, bis der Nackenzopf sich löste und eine Flutwelle glänzender Haare sich über ihre schmalen Schultern ergoss.

      Der Anblick berührte mich seltsam. Wie dieses Kind es schaffte, sich an der großen Schwester vorbei in den Vordergrund zu drängen! Ob es Rieke gelang, sie abzuwimmeln?

      Müde schob ich den Gedanken beiseite, dachte besorgt an den nächsten Tag. Fünf Uhr dreißig hieß es raus aus den Federn - in meinem Urlaubsrausch hatte ich mich allzu leichtsinnig für die allwöchentlich stattfindende Frühwanderung eingetragen.

      Gerade wollte ich mich verabschieden, da drückte Bärlein mir ein Glas Grappa in die Hand. Die Geschäfte liefen gut. Ein paar seiner mit Holzstämmen aus Schweden beladenen Laster rollten gerade über die Autobahn nach Italien.

      Johanna zwickte mich aufmunternd.

      „Komm, den schüttest du noch runter – und dann ab in die Kiste! Morgen liefere ich dir den restlichen Klatsch nach. Das wäre ja nicht das erste Mal - oder?“

      Ich weiß nicht, woran es liegt, aber mir ist, als merke ich mir manche Gespräche nur ganz kurz. Ich schimpfe mich dann vergesslich - finde es besorgniserregend. Andere Unterhaltungen bleiben wortwörtlich hängen, weil ich sie in Bildern gespeichert habe.

      Wie die Bilder der grauenvollen Ereignisse im Scheunenhof in jenem Sommer.

      Ich weiß, wenn die Bilder sich aufdrängen, bekomme ich diesen abwesenden Blick. Ich tauche irgendwie weg, lächele still in mich hinein. Manchmal spreche ich sogar mit mir selbst. Dann wollen die Kinder oder mein Mann wissen, worum es geht. Die Situation verliert jedoch an Kontur, sobald ich versuche, sie in Worte zu kleiden.

      Alles in allem bin ich eher eine Briefschreiberin. In knappen Worten treffe ich das Wesentliche, kann Erlebtes in Kürze darlegen, lasse, wie Johanna behauptet, dem Leser Freiraum für phantasievolle Ausgestaltung.

      Sollte ich vor dem Zubettgehen noch schnell ein paar Zeilen an Ulli schreiben? Ich stellte ihn mir im immer gleichen